15.09.2007

Die Art von Ute Wagner - Zavaglia

Auf ihren Knien liegt ein großes Notizbuch mit vollgeschriebenen Blättern. Und ihre langen Finger liegen auf diesen vollgeschriebenen Blättern – wie zarte Fühler. Man könnte meinen, sie liest mit ihren Fingern wie ein Blinder. So ist es aber nicht. Sie scheint mit dem behutsamen Berühren der Blätter die Vergangenheit wieder tastbar machen zu wollen.
Ute liest mit ihren Augen, aber so, dass ihre Augen genau so aufmerksam auch bei uns sind, den dreißig Zuhörern. Der Vorgang ist präzise. Sie liest still und ruhig ein paar Sätze von den vollgeschriebenen Blättern, hält inne und schaut in sich auf das, was sie gelesen hat, blickt genau so ruhig in die Runde, liest in unseren Gesichtern, spürt nach, was in der andachtsvollen Stille lebt und erzählt dann weiter. Ihre Worte scheinen kleine farbige Herbstblätter zu sein, die von einem leisen Wind getragen werden.
Ute erzählt von Kevin, einem fünfjährigen Jungen, den sie vor einem Jahr kennengelernt hat. Und durch ihre schlichten Worte ist Kevin bald bei uns im Raum. Er ist klein, hat rote Haare und große braune Augen, trägt eine Jacke und Hosen, die zu groß sind. Mit seinen Augen saugt er die Welt auf. Kevin scheint lauter Staunen zu sein und stellt hundert Fragen. Um sich nicht in seinem Staunen zu verlieren, hält er mit einer Hand die Jacke seiner Mutter fest, die hinter ihm steht.
Kevin hat ein Problem. Er ist nämlich „ein Feuerwerk an Energie“. (Nein, diese Worte sind nicht spektakulär gemeint. In Utes Mund klingen sie eher sanft und sachlich.) Kevin ringt mit seiner Begeisterung, die ihn manchmal mitreißen kann. Wenn er das Feuer in sich nicht halten kann, kocht seine Seele über den Rand seines Körpers hinaus. Was er dann macht? Nun ja, was macht man dann? Kevin wird dann auf einmal „hyperaktiv“ und ist nicht mehr zu stoppen. Er will dann eigentlich fliegen, was aber leider nicht geht. Oder er will auf einmal alles anfassen, alles untersuchen, alles wissen, alles prüfen. Er ist dann, wie man so schön sagt, „aus seinem Häuschen“.
„Kevin ist innig mit den Dingen verbunden“, sagt Ute.
Ute erzählt vierzig Minuten lang. Erst über Kevins „Biographie“, die noch ganz kurz ist. In dieser noch ganz kurzen „Biographie“ tauchen aber ein paar ernsthafte Probleme auf. Ute erzählt von den ersten Jahren, von den Eltern und von den Menschen um Kevin herum. Und es scheint, als ob das Leben sich um Kevin herum so einrichten will, dass er keinen Halt findet, keine Stützpunkte geboten bekommt und dass ihm keine Grenzen gegönnt werden. Dasjenige, wovon Kevin in den ersten Jahren seines Lebens getragen werden soll, scheint wackelig und voller Löcher zu sein. Und am Ende erzählt Ute von seiner Geburt. Er schaffte es nicht alleine und ohne ärztliche Hilfe durch die Enge zu gehen. Die Enge war zu eng und seine Begeisterung-zum-Leben zu groß.
Während Ute erzählt, ändert sich langsam und unbemerkt der Raum, worin wir uns befinden. Für unsere Augen bleibt der Raum irgendwie noch immer quadratisch, so wie Räume eben quadratisch sind. Mein Empfinden sagt aber, dass wir längst nicht mehr in einem quadratischen Raum sind. Der Raum ist rund geworden. Und in diesem runden Raum scheint ein zartes und fühlsames Licht, ich würde sagen: ein Herbstlicht, das nicht nur scheint und sichtbar macht, sondern auch leise berührt und bewegt – ich spüre das Licht fast auf meiner Haut. In diesem Licht scheint nichts spektakulär zu sein, alles aber bemerkenswert und liebenswürdig.
Die dreißig Zuhörer sehen einander auf einmal in einem anderen Licht.

(Ute Wagner-Zavaglia ist Mitarbeiterin des Janusz Korczak Institut in Nürtingen. Der Name von „Kevin“ ist geändert. Mit dank an Birgitt Kähler.)

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