29.08.2007

Hidasnemeti. Oder: die Puszta und ich

Die Bar heißt (übersetzt auf Deutsch) „Süße Geschwindigkeit“. Der Inhaber ist süß und nicht geschwind. Das braucht er auch nicht zu sein. Er hat nur einen Kunden – ein Mann aus dem ungarischen Dorf Hidasnemeti, direkt an der slowakischen Grenze. Der Kunde trinkt Bier und schaut vor sich hin. Als meine drei Freunde und ich reinstolpern, blickt er kurz auf uns und stellt sofort fest, dass die drei aus der Slowakei kommen und der vierte unterwegs ist nach Budapest. So ist das: In Hidasnemeti gibt es ein paar Leute aus Hidasnemeti und ein paar Leute, die unterwegs sind nach Budapest oder der Slowakei.
Es ist richtig heiß. Am Bahnhof, der Bar gegenüber, wartet schon der Bummelzug. Der Zug ist leer, der Bahnhof ist leer und der Bahnhofsplatz ist leer. Der Zug und wir müssen planmäßig noch eine volle Stunde auf einander warten. Ich werde dann einsteigen, der Zug wird abbummeln und meine Freunde werden zurück in die Slowakei fahren. In der Zwischenzeit wird in der Bar das Eine und das Andere getrunken. So ist die Ordnung der Dinge in Hidasnemeti am Freitagmittag um Viertel vor zwei.
Rudolf kriegt ein Bier und einen Schnaps, Branislav nur ein Bier, Boris ein Wasser und ich einen Kaffee. Rudolf ist der Vater, Branislav und Boris sind die zwei Söhne und ich bin der Freund. Ich habe mich vor einer Stunde in Košice von Marianka verabschiedet, der Mutter von Boris und Branislav und der Ehefrau von Rudolf. In absehbarer Zeit wird sie sterben, weil sie Krebs hat. Das Ende kann morgen sein oder in vier Monaten. So ist es oft mit Krebs.
Eigentlich ist alles schon gesagt. Als ich vor einer Stunde Marianka umarmte, wussten wir beide, dass ich das nächste Mal in Košice sein werde zu ihrer Beerdigung. Sie wird dann tot sein. Als sie sich von mir loslöste und sich umdrehte, wusste ich nicht, ob ich eine schwerkranke Frau von 62 Jahren oder ein Mädchen von 14 sah. Sie war todmüde und strahlte trotzdem ein helles Licht aus. Ihr farbiges Kleid verhüllte, dass es darunter fast nur noch Knochen gab.
Wenn alles, was gesagt werden kann, schon gesagt worden ist, und das Viele, was nicht gesagt werden kann, merkbar im Raum schwebt, entsteht eine schwere Stille. Und was klein ist, wird groß. Als ich den Inhaber der Bar um einen zweiten Espresso bitte, habe ich das Gefühl, fast gewalttätig Geschichte zu machen.

*

Der Zug fährt über Miskolc nach Budapest. Die ersten anderthalb Stunden berührt der Zug den Zaun der ungarischen Puszta. Aber der Zaun der Pustzta ist schon voll Pustzta.. Die Hitze hängt schwül über dem endlosen Gelände. Puszta im Spätsommer heißt warm und breit. Die Luft ist nebelig; die zahllosen kleinen Kirchen schlafen; die Wege sind leer; überall gibt es Sonnenblumen, die zwischen sommergelb und herbstbraun schweben und die Köpfe neigen; die wenigen Menschen, die ich sehe, tun nichts. Jedes Mal, wenn der Zug anhält, steigen zwei oder drei Leute ein – langsam, bedachtsam, gelassen.
Der Bummelzug arbeitet sich durch die schwere Stille. Und auf einmal merke ich, dass die Stimmung in mir nahtlos zu der Stimmung der Puszta passt. Was in mehr lebt – Abschied, Traurigkeit, Nachdenklichkeit, Fülle, Wärme – vermischt sich mit den Bäumen am Horizont, den ungarischen Gerüchen und den dunklen Kleidern der alten Frauen. Und wie die Sonnenblumen, schweben meine Gefühle zwischen sommergelb und herbstbraun. Ich neige meinen Kopf und denke an einen wunderbaren Satz von Rainer Maria Rilke:
„Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.“
(Mit dank an Birgitt Kähler)

1 Kommentar:

Sebastian Gronbach hat gesagt…

Einfach. Schön. Tief. Berührt. Du Chronisten Poet. Danke und bis bald.

Herzlich
Sebastian