16.02.2008

Heute erzählt mir Esteecee vertraulich... (3)

Fünf Jahre nach ihrem Tod war ich in der Slowakei. Ich saß an einem rohen Holztisch neben dem Bahnsteig des Bahnhofes in Banska Bystrica. Es war früh am Morgen und die nächtliche Kälte hing noch in der Luft. An einem zweiten Tisch saßen Waldarbeiter, die in lärmender Runde Wodka tranken. Der Zug nach Cervena Skala sollte erst in einer Stunde abfahren.

Ich holte das grüne Heft hervor, das ich noch in Amsterdam gekauft hatte, schlug es auf und wollte einige Zeilen aufschreiben, die mir während der nächtlichen Zugfahrt in den Sinn gekommen waren. Die erste Zeile, die ich aufschreiben wollte, enthielt den Namen der gestorbene Freundin. Ich schrieb: „Es ist fast fünf Jahre her, dass...“, und geriet ins Stocken. Gerade als ich ihren Namen aufschreiben wollte, schien die Welt um mich herum zu verstummen. Es entstand mitten unten den Waldarbeitern, den Bahnhofsgebäuden, den Bäume eine Stille; in dieser Stille fühlte ich auf einmal mit großer Gewissheit, dass ich den Namen der Freundin nicht aufschreiben dürfte. Ich müsste einen anderen Namen für sie finden.

Während die Waldarbeiter wieder Witze rissen und ich einen zweiten Becher Kaffee leertrank, schaute ich vor mich hin. Was war passiert? Offensichtlich ist es also so, dachte ich, dass die Geschichte von ihrer Person losgelöst werden muss. Es geht nicht um sie als Person, sondern um etwas, dass darüber hinausreicht, etwas, das einen anderen Name hat. Einfach schreiben, dass sich zu der und der Zeit dies und jenes zugetragen hat, führt also nicht zu der Geschichte, die erzählt werden will. Aber wovon sollte die Geschichte dann wohl handeln?

Da fiel mir etwas ein: Geschichte ist Vergangenheit, ihr Leben ist Vergangenheit, auch ihr Selbstmord gehört der Vergangenheit an. Solange man auf der Suche nach Vergangenem ist, wird man im Dunkel herumtappen, wird man sich schuldig fühlen, wird man wie ein zurückgelassener Hund am Gartenzaun weiter heulen. Und sofort fiel mir der Namen ein, den ich ihr geben würde, den Namen, den ich an jenem frühen Morgen im Zug noch gehört hatte, als ich der Stimme von Van Morrison lauschte.

„Gloria“.

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