04.05.2009

Samuel hat heute das Gefühl: „Ich müsste ihr einen Brief schreiben“.

„Ich müsste ihr einen Brief schreiben. Schreiben, dass es mir nach fünfunddreißig Jahren noch immer Leid tut. Dass irgendetwas unerledigt geblieben ist, weil ich damals gar nichts verstanden habe. Dass ich damals nicht einmal verstanden habe, dass es etwas zu verstehen gab. Ich möchte erfahren, ob sie damals etwas verstanden hat & was sie jetzt versteht. Ich möchte wissen, wo sie in all den Jahren war & was sie gemacht hat – ob sie einen Geliebten gefunden hat, Kinder bekommen hat, und vor allem: ob sie wirklich so enttäuscht war, wie ich mir das heute vorstelle. Ja, warst du enttäuscht? Nein, so müsste ich schreiben: Bist du noch immer enttäuscht? Nach all den Jahren? So wie ich irgendwie auch enttäuscht bin, nach all den Jahren, weil ich damals gar nichts verstanden habe? Gibt es in dir, irgendwo tief versteckt, noch einen Schmerz, weil ich dich damals nicht mehr wollte? Weil ich in mir blieb, bei mir blieb & nicht zugelassen habe, dass du dich in mir fortsetzen konntest, dass du mit deinem Lachen, mit deinem Schweigen, mit deinen Hoffnungen in mir einen Ort finden konntest, einen zweiten Platz um zu sein – ja, eine zweite Unterkunft braucht man ja! Warum? Um von außen in einer fremd-vertrauten Innerlichkeit auf sich selber schauen zu können, um einen musikalischen Raum zu haben, den man betreten kann & in dem man versteht: diese Musik betrifft mich! Wo man sich in fremd-vertrauten Motiven aufgehoben fühlt, wo man spürt: ich bin in dem verwirrenden & absurden & verzwickten Leben eine erkennbare Melodie. (...) Habe ich damals von dir gesungen? Nein. Ich konnte es nicht. Heute, ja heute, nach fünfunddreißig Jahren, versuche ich irgendwie von dir zu singen, weil deine Art mir erst jetzt klar geworden ist, ich meine: erst jetzt sehe ich deine Aufrichtigkeit & Schweigsamkeit & Liebe. Vielleicht ist es so, dass du mich geliebt hast. Darf ich dich heute fragen: hast du mich geliebt? Oder darf ich diese Frage nicht stellen, nicht mehr stellen, weil ich sie damals nicht gestellt habe? War es gerade diese Frage, die ich nicht ertragen konnte? Nicht denken konnte. Und nicht spüren oder fühlen wollte? Darf ich die Frage nicht stellen, weil es mir auch heute noch kalt wird, wenn ich daran denke, dass ich damals deine Aufrichtigkeit & Schweigsamkeit & Liebe nicht einmal sehen konnte, nicht anerkennen, nicht würdigen konnte? Gibt es in mir noch immer keinen Grund, mich dir zuzuwenden & dich zu fragen ob... Ich möchte wissen - ja, warum eigentlich? - ob du damals sprachlos warst, weil ich ein unausgesprochenes Versprechen nicht einhalten konnte & auf einmal so handelte als ob ich deine Melodie nie gehört hätte? Habe ich dich verraten? Und mache ich das eigentlich noch immer, weil ich schreibe: ich konnte damals deine Art nicht sehen? Ja, es ist wahr, ich habe deine Art wohl gesehen, oder gespürt, oder geahnt... Vielleicht stimmt es so: nicht gesehen, wohl aber geahnt... Ein Mensch braucht offenbar bittere Erfahrungen um Ahnungen in Vorstellungen & Gedanken & Begriffe verwandeln zu können. Ich hatte damals keine Ahnung von Ahnungen. (...) Du hast damals verstanden, was ich suchte. War mir das zu viel? Du hast mir Mingus & Zappa & Wittgenstein & die russischen Ikonen gebracht. Und Osiris & Isis & Horus. Und deinen Vater, der schon gestorben war. Und deinen Bruder, der bald sterben würde. Und deine Beine in hohen Stiefeln. Und dein stilles Lachen – ja, was könnte ich heute über dein Lachen sagen? Irgendwie schien mir dein Lachen ein Versprechen zu sein, eine breite Landschaft bis zum Horizont, ein Freiraum... War mir das alles zu viel? Ja, mit Charles Mingus & Ludwig Wittgenstein & Andrei Rublev ist mein Leben weiter gegangen & auch mit Osiris & Isis & Horus & später sind Apollo & Orpheus & Miles Davis & Captain Beefheart & Rainer Maria Rilke & Virginia Woolf dazu gekommen & ´Hulshorst, als vergeten ijzer is je naam`. Es ist weiter gegangen, aber ohne deinen verstorbenen Vater, ohne deinen Bruder, ohne dich. Du wurdest ein Loch in mir, eine dunkle Stelle, worauf ich nicht schauen wollte oder konnte, ein Zimmer hinter einer verschlossenen Tür. (...) Eigentlich möchte ich dir einen Brief schreiben mit der Frage, ob ich dir einen Brief schreiben darf. Ich weiß aber, dass du diese Frage nicht beantworten kannst, weil nur ich das kann. Es ist ja meine Frage an mich: darf ich dir einen Brief schreiben? Oder besser: darf ich ihr einen Brief schreiben? Gerade mit dieser Frage hast du ja gar nichts zu tun. (...) Ich weiß nicht einmal wo sie lebt. Vielleicht ist sie schon lange aus der Großstadt weg & lebt irgendwo am Meer, wo die Möwen sich kreischend in die Höhe mitnehmen lassen & sich dann in die Tiefe stürzen & dort einen Fisch schnappen & wieder nach oben schwenken.“

Mit Dank an Sophie Pannitschka

12 Kommentare:

Anak hat gesagt…

lieber jelle, was du hier schreibst, schreibst du fuer viele seelen. ein geschehen von vielen, immer wieder, immer wieder, liebe, angst, verrat, vergessen (das aber nicht geht).
deine fragen sind fragen, die in vielen koepfen schwirren und es ist verdammt gut, das du sie hier stelltst. du sie stelltst fuer das dilemma zwischen den geschlechtern.
moegen viele es lesen und auch "sie", damit alte wunden heilen. nicht nur die euren sondern die vieler ehemals liebenden...moege (innere) vergebung stattfinden und wieder raum entstehen fuer liebe und verbundenheit.
danke dir
liebe gruesse
anka

Anonym hat gesagt…

Ich möchte gern mein spontanes Gefühl hier versuchen zu beschreiben:
Die tiefste aller Sehnsüchte - manchmal ohne es zu wissen - ist, geliebt zu werden.

Anak hat gesagt…

schoen. jedoch genau da trifft sich die tiefstsitzende angst mit der tiefsten sehnsucht und die reaktion ist meist flucht...

Anonym hat gesagt…

Danke, und genau die Flucht meine ich mit: - ohne es zu wissen - .

Anak hat gesagt…

sorry liebes anonym, ich wollte nicht treffen oder so...deine worte waren so passend...
liebe gruesse
anka

Anonym hat gesagt…

Liebe Anak, Du brauchst Dich nicht entschuldigen.
Die tiefste Sehnsucht und die tiefsitzende Angst und auch die Flucht kenne ich - inzwischen - ganz gut in mir.

Jelle, herzlichen Dank!
Katharina

Anonym hat gesagt…

trifft mitten drin! hier ist ein text, darüber möchte ich mehr sagen.aber mir bleibt im moment alles in mir.
birgit mit einem t, tut mir leid das ich beim letztenmal mir zwei tt gegönnt habe, hatte sie mal als ich noch gaanz klein war.

Anonym hat gesagt…

Ego, Ego, Ego, Ego...

Anonym hat gesagt…

Liebe Jelle,
Hoffetnlich lebt deine Diotima noch, weil Du mit Deinem Schreiben hier
dem Impuls, es noch hier auf Erden "regulieren" zu wollen- nachgehst.
Der Text ist das Kleid Deiner Auseinanderstzung mit Dir selbst- (Eine gute Prise Voyeurismus entsteht am Rande schon bei mir als Leser, ja, ja.-und aber auch die Aufforderung, zart("zärtlich")mit diesen Deinen Dingen umzugehen. )
Du hast schon großen Mut, Dich hier in aller Öffentlichkeit in solch einer Nähe zu zeigen- hoffentlich hilft es Dir weiter!

Herzlichst
maribe

Anak hat gesagt…

lieber jelle,
ich finde deine offenheit grossartig und bewundere deinen mut dafuer. steht doch "deine" geschichte fuer viele andere...und es hilft nicht nur dir weiter sondern vielen anderen auch...herzlichst
anka

Anonym hat gesagt…

Tu es. Nicole

Anonym hat gesagt…

"wenn ein mensch kommt, der so weit gehen kann, das er alle türen öffnet und so die räume um und im andren menschen betreten kann, als sei es ein leichtes,... dann ist es schwer ihn zu begleiten. Denn seine wege sind anders, als die alltäglichen wege derer, die ihm meist zur seite gestellt sind.
nun da er hier angekommen zu sein scheint, geht er humpelnd den "normalen" weg, um etwas zu "leisten", zu "schaffen" was normal ist.
Seine größe geht unter in dem wahn der normalität, der norm, der grenzen und verschlossenen türen, denen er sich zwanghaft unterwirft."
liebe grüße, birgit