20.11.2009

Aus einem Manuskript (1). Über einen Becher Milch in Ermelo

Ich stehe neben einer kleinen Wiese & stelle fest: ich bin genauso hoch, wie die braunen Pfähle des Zauns. Und ich sage es mir laut: „Jelle, du bist auf einmal richtig gewachsen!“ Wenn ich das sage, spüre ich die Hände meines Großvaters, die er gerade in diesem Moment von hinten auf meine Schultern legt.

„Was hast du gesagt?“, fragt er.
„Ich bin groß geworden“, antworte ich.
Mein Großvater lacht.

Auf der Wiese melkt der Bauer eine Kuh. Er sitzt auf einem kleinen Hocker, den er halb unter die Kuh geschoben hat – seine Beine streckt er unter dem riesigen Bauch des schwarz-weiß gefleckten Tieres aus. Mit seinen Händen berührt er die rosa Zitze der Kuh & die Milch spritzt für mich hörbar in den Zinneimer zwischen seinen Knien. Als er fertig ist, steht er auf & schaut um sich herum. Als er mich und meinen Großvater sieht, lacht er & sagt: „Du Kleiner, du hättest bestimmt gerne einen Becher frische Milch!“

An dieser Stelle hat meine Erinnerung eine kleine Lücke. Der Bauer steht jetzt vor mir, mit einem Becher in seiner Hand. Ich kann heute nicht sagen, woher er den geholt hat – in meiner Erinnerung ist er einfach auf einmal da. Der Bauer überreicht mir höflich den Becher, als wäre ich ein Prinz & sagt: „Für dich!“

Und ich trinke die Milch, die noch warm ist. Der Geruch der leicht schäumenden Masse & die leicht-schwere Substanz, die durch meine Kehle rinnt, gibt mir das Gefühl, als ob ich eine Minute lang eine Kuh bin. Das Tier, das ein paar Meter von mir entfernt, ohne etwas zu sehen, regungslos auf irgendetwas schaut, ist mir ganz nahe gekommen. Auf einmal verstehe ich, dass Kühe richtig existieren.

Mit diesem Schluck begann eine Reise in die Unterwelt.

In den Monaten die folgten, stand mein Großvater hinter mir, immer & immer; er war immer da, wie ein Schatten, der mich begleitete. Ich aber wurde immer dünner & dünner, schwächer & schwächer, lustloser & lustloser – und als ich klagte, sagte mein Vater: „Flauwekul“.

(Ohne das holländische Wort komme ich in dieser Erzählung nicht aus. Auf Deutsch würde man vielleicht so etwa sagen: „Quatsch!“ – klingt mir aber weniger vernichtend in den Ohren. Als mein Vater „flauwekul“ sagte, was er öfters tat, meinte er: „Schade, dass du selbst nicht einsiehst, welchen Unfug du redest.“)

Ich war also blöd. Anfang Dezember schaffte ich es kaum noch, die Treppen in unserer Wohnung hochzukommen, manchmal war mir kalt, manchmal heiß & ich hustete Blut, was ich aber geheim hielt, weil ich wusste, dass sich so etwas nicht gehört – Menschen husten ja kein Blut! Ich war der festen Überzeugung, dass ich grundsätzlich daneben war, auf allen Ebenen – und ich hielt es für weise, über meine Schieflage konsequent zu schweigen.

Zu Weihnachten wurde ich mit dem Zug zu meinen Großeltern väterlicherseits geschickt. Sie lebten in Castricum, nördlich von Amsterdam, zwei Kilometer vom Strand entfernt. Ich war dort nicht gerne, weil nie etwas geschah. Das Meer war immer Meer, mein Großvater war immer Großvater & meine Großmutter sagte nie etwas. Aufmerksame Blicke, bedeutungsvolle Worte, einladende Bewegungen – das alles gab es in Castricum nicht. (Fortsetzung nächste Woche.)

Mit Dank an Sophie Pannitschka

13 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Eine Tasse Frühlingssuppe am Niederrhein.
Mit Lauch, Spargel und Eierstich. Fürchterlich.
"Wenn Du die nicht ißt, gehe ich nicht mit dir spazieren." Meine Oma war da sehr streng. Goldfasan war da klein und zart, durchscheinende Haut, der Gewerkschaftsvater dauerhaft nicht greifbar: Tarifverhandlungen. Die Mutter im Sanatorium. Die Brüder? Außerhalb der Frühlingssuppe nur Dunkelheit. Einzig das Licht im Blick auf den durch die Frühlingssuppe so fern liegenden Spaziergang. Raus aus der drückenden Wohnung, in die so frisch duftende Luft mit der geliebten Oma.
Oma Kiersch,ehemals Schneiderin,die ihre Liebe versteckte,hinter der Nähmaschine, dem Goldlöckchen Kleidchen auf den Leib schneidernd mit picksenden Nadeln bei der Anprobe, -nur nicht bewegen-, hinter Frühlingssuppe und sich selbst auferlegter Strenge. Strenge, die auch ihren Kummer über ihre kranke Tochter, den nie anwesenden, dennoch hoch geachteten Gewerkschaftschwiegersohn und das blässliche kleine rothaarige Mädchen, welches nachts in Panik aufwacht und vehement fordert, das Pferd oben vom Schrank zu entfernen.
Ach, und dann noch Regina, das Hausmädchen. Plötzlich tritt sie aus der Dunkelheit ins Licht. Doch seltsam leblos.
Ganz anders die Kissenschlacht mit den Brüdern im Flur im Haus des Malermeisters Kersken am Niederrhein...
S.ST.

Susanne hat gesagt…

Wer kennt Ermelo nicht.
Wohl nur die, die Leuvenum nicht kennen, die kleine Zaubersiedlung mitten im Wald.
Die Staverden nie gesehen haben, einen der Höfe, von denen dieser Bauer gekommen ist mit dem Kelch.
Oder kam er von Drie?

Die Reise in die Unterwelt.
Wann beginnt sie?

Wenn du den Becher gereicht bekommst.

Bei mir begann sie mit 9.
Eigentlich schon mit 4.

Mich hat man nicht ans Alkmaardermeer geschickt, zu den
herrlichen Dünen, von denen man sich herunterrollen lassen kann, bis einem schwindelig wird und die Unterwelt die Oberwelt wird.
Auch nicht zu den Blumenfeldern von
Limmen.

Nein, mich hat man in mein Zimmer geschickt.
Wo alles geschah.
Ich schloss mich ein und ließ sie alle herein.
Sie schlossen mich auf und ließen mich wieder hinaus.
Damit ich kein Blut spucken und schweigen musste.


Man muss erst blöd werden,
blöd wie eine Kuh.
Und die Weisheit in ihrer Gemächlichkeit erkennen, die in ihrer Wiederkäuerei liegt.

Caroly hat gesagt…

Jelle, Hier ist meine Assoziation bei die drei letzte blogberichte von dir. Ich liebe dieses Gedicht von Bertold Brecht sehr. Es ist einfach was ich als Glück erfahre:

Vergnügungen

Der erste Blick aus dem Fenster am Morgen
Das wiedergefundene Buch
Begeisterte Gesichter
Schnee, der Wechsel der Jahreszeiten
Die Zeitung
Der Hund
Die Dialektik
Duschen, Schwimmen
Alte Musik
Bequeme Schuhe
Begreifen
Neue Musik
Schreiben, Pflanzen
Reisen
Singen
Freundlich sei

Caroly hat gesagt…

Wann ich mein Bericht publizierte hörte ich gleichzeitig: The Muffin Man von Frank Zappa. Zufall?

Caroly hat gesagt…

Frank Zappa: The Muffin Man
http://www.youtube.com/watch?v=aFIMWRXWY90

Michael Heinen-Anders hat gesagt…

Liebe Caroly, der von Dir erwähnte Frank Zappa, ist genau der Musiker, auf den ich am Schluß des folgenden Gedichts anspiele:

Für M.

Fast verloren, fast verklungen,
fast misslungen
erscheint alles
was uns die moralische Sonne dieser Welt
bot, so strahlenhell und licht und klar, einst.

„Wunder gibt es immer wieder“
heißt es in einem Song.

Falls das „Prinzip Hoffnung“
denn ebenso wie Hölderlins
Spruch:
„Wo die Gefahr wächst,
da wächst auch das Rettende“,
ewiggültig wäre,
so gäbe es wohl noch
eine reelle Chance:
„I figure the odds are fifty : fifty”
schrieb vor einigen Jahrzehnten
ein etwas vom Wege abgekommener
Musiker.....

(Michael Heinen-Anders)

Susanne hat gesagt…

Ich bin auf meinem Schiff
welches hin-und herschaukelt
auf den vom Sturm bewegten Wellen

Die Wellen bewegen mein Schiff
nicht mich

Die Gefahr wächst
dass es untergeht
dass es an den überschäumenden Wellen
zerbricht

Doch die Gefahr
gilt nur meinem Schiff
Sie gilt nicht mir

So lange ich Vertrauen habe
zu dem Steuermann
meines Schiffes

Vertrauen
zu meinem Inneren

Darum gehe ich immer wieder
hinaus
in den Sturm
auf das Wasser
mit meinem Schiff

und warte auf Rettung
die auf den
überfluteten Abwegen liegt

Caroly hat gesagt…

Michael, danke für die Antwort. Ein schönes Gedicht! Und auch Frank Zappa erscheint dann jetzt zum dritten Mal: drei weil ich weiss das Jelle ein fan ist, er hat Zappa glaube ich einmal interviewt.

Sophie Pannitschka hat gesagt…

Nicht nur, dass jeder von uns eine Geschichte HAT - sondern, jeder von uns IST auch eine Geschichte.

Herzlich, Sophie

Anonym hat gesagt…

Nein, Frank Zappa habe ich leider nie interviewen duerfen. Ich habe, als ich etwa zwanzig war, ein paar Tage mit ihm in Amsterdam verbracht. War sehr schoen. Unterwegs, Jelle van der Meulen

Michael Heinen-Anders hat gesagt…

Interessant, Jelle. Zappa ist (war) ja ein ziemlich begnadeter Musiker.
Napoleon Murphy Brock (ehemals: The Mothers of Invention, jetzt: The Grandmothers) berichtete so einiges darüber. Schade, dass es nur wenige gute Musikvideos von Frank Zappa gibt - aber dafür ist er wohl zu früh verstorben.

Herzliche Grüße

Michael Heinen-Anders

Michael Heinen-Anders hat gesagt…

Die dennoch vorhandene Kehrseite bei 'FZ', wie er sich selbst zuweilen abkürzte, ist m.E. die - allerdings nicht völlig grundlose - Attitüde als Bürgerschreck, als der er sich zuweilen gerierte und dabei auch die Grenzen des 'guten Geschmacks' (egal, wie man den Begriff jetzt im einzelnen definieren mag) aufs ärgste strapazierte.
Dennoch bleibt im Rückblick seine musikalische Genialität als Komponist, Arrangeur und Solist, ebenso wie als Bandleader, die ihn auch noch Jahre nach seinem Ableben auszeichnen.
Wie sagte Frank Zappa einst doch: "Jazz is not dead, but it smells a little bit funny".

Andrea hat gesagt…

Hallo lieber Jelle, liebe Grüsse!
Irgendwann werde ich doch wieder die Worte meiner Geschichte finden können. Danke einstweilen für die deine. Andrea