27.12.2008

Die zwölf heiligen Nächte in postmodernen Zeiten. Über einen Eichelhäher

In den Nächten zwischen Weihnachten und Dreikönig, so besagt die Tradition, stehen die Türen zur geistigen Welt offen. Deswegen wird von den „heiligen“ Nächten gesprochen. In dieser Zeit wäre es besonders wichtig auf die Träume & Stimmungen & Eingebungen, die wir aus der Nacht bekommen, zu achten. Es ginge vor allem auch darum, offen für Unerwartetes zu sein.

In einigen östlichen Ländern wird von der „ungetauften“ Zeit gesprochen, weil das Kind Jesus erst mit der Ankunft der drei Könige (eigentlich Magier, oder vielleicht sogar „Wissenden“) getauft wird. Auch gibt es Gegenden wo interessanterweise von den zwölf „rauen“ Nächten gesprochen wird. Ein sehr schönes Bild – ich weiß leider nicht woher es kommt – ist das, in dem die Zeit der zwölf Nächte als „die Fontanelle des Jahres“ beschrieben wird.

Zwischen Weihnachten und Dreikönig sind wir im Kommen. Das Kindliche ist erschienen, das Licht wird wieder stärker, und in der Mitte dieser Zeit erleben wir den „Rutsch“ ins neue Jahr. Und offensichtlich gibt es eine enge Verbindung zwischen „neu“ und „geistig“. Dadurch, dass die Türen zur geistigen Welt geöffnet sind, können wir über unsere Träume & Stimmungen & Eingebungen eine bewusste Beziehung zum Kommenden finden.

Was ist hier mit „geistig“ gemeint? Friedrich Nietzsche würde an dieser Stelle dieses Wort gerade nicht benutzen und eher von dem „Ungeheuren“ sprechen. Er meinte damit das große Unbekannte, den riesigen Ozean der nicht eingeordneten Empfindungen, die tausend und abertausend Rätsel der Welt und des Lebens, die uns umschlingen. Gerade wenn ein kleines bisschen Licht da herein kommt, wird das Ungeheure sichtbar. (Das Licht wirft Schatten – tatsächlich ein rauer Vorgang.)

Auch Martin Heidegger würde das Wort „geistig“ vermeiden. Er würde sagen: was wir vom Leben meinen zu verstehen, erklärt uns das Sein nicht. Die Differenz zwischen dem Sein und dem Seienden (= was wir meinen für uns eingeordnet zu haben) eröffnet einen Abgrund. Und das Erleben dieses Abgrundes führt zur Philosophie oder Kunst oder Religion. (Die großen Drei: das Wahre, das Schöne, das Gute.)

Hannah Arendt hingegen würde sagen: wir betreten das Geistige & das Ungeheure & das Abgründige dadurch, dass wir auf Natalität setzen. Der Mensch hat nicht nur die Sicherheit, dass er sterben wird – er hat auch die Sicherheit, dass er jeden Tag wieder neu geboren werden kann. Das geschieht aber nicht von alleine. Gerade dadurch, dass er sich aktiv anfreundet mit dem Im-Kommen-sein und sich diesbezüglich als Schöpfer der Welt versteht, ist er Mensch.

In postmodernen Zeiten wird das Kind (in uns, in der Welt) nur geboren, wenn wir es wollen. Ja, ein erster Schritt bleibt: lauschen & lauschen & lauschen was das Ungeheure & das Abgründige & das Geistige uns zu sagen haben. Besonders während der zwölf heiligen Nächte bleibt deswegen die schöne und freiwillige Aufgabe, auf unsere Träume & Stimmungen & Eingebungen zu achten.

Genau so wichtig sind aber die Vorsätze & Entscheidungen. Oder anders gesagt: das Ungeheure & das Abgründige & das Geistige lässt uns keine Zeit zwischen lauschen & sprechen, verstehen & handeln zu trennen. Ein richtig verstandener Traum ohne einen Vorsatz oder eine Entscheidung, ist eine Illusion. (Ja klar, auch Illusionen brauchen wir!)

Als ich heute früh aufwachte und mich an meinen Schreibtisch setzte, erschien nach einer Weile in meinem Garten ein Eichelhäher. Er war scheu wie ein Botschafter der Nacht. Einen kurzen Moment saß er auf einem Geländer, etwa zwei Meter von meinem Fenster entfernt. Er guckte & guckte – sein stolzer Kopf zick-zackte hin und her, so wie nur Vögel das machen können. Und ich dachte: er will nur sicher sein, dass ich ihn wahrgenommen habe. Dann flog er wieder fort.

Eichelhäher gab es auch in Arnheim, wo ich aufgewachsen bin. In Holland heißen sie „Vlaamse gaaien“, also etwa: Häher aus Flandern. Ich habe das als Kind lange so verstanden, dass der Vlaamse Gaai tatsächlich in Flandern lebte, und - warum auch immer - gelegentlich nach Arnheim kam, um mich zu begrüßen. Ein bisschen verwirrend war immer, dass er sofort wieder verschwand.

Noch immer ist es so, dass ich an Belgien denken muss, wenn ein Eichelhäher auftaucht. Und auch ist es noch immer so, dass ich mich geehrt fühle, weil dieser wunderschöne & stolze Vogel eine lange Reise gemacht hat, um gerade mich zu begrüßen. Und auch ist es noch immer so, dass ich denke: schade, dass er sofort wieder weiter fliegt.

Vögel die uns begrüßen, sind Botschafter der Nacht. Und heute denke ich: der Eichelhäher erinnert mich daran, dass es mich freut zu merken, dass ich begrüßenswert bin. Ich mag es, begrüßenswert zu sein. Wäre das nicht ein guter Vorsatz für das nächste Jahr: begrüßenswert zu sein? Was das beinhaltet, überlässt der Eichelhäher mir. Ich soll das von mir aus gestalten.

(Und vielleicht wird nächstes Jahr mal eine Eule kommen, um zu schauen, was ich daraus gemacht habe.)

12 Kommentare:

Hermann Finkelsteen hat gesagt…

Lieber Jelle,
ich grüsse Dich!
Herrmann Finkelsteen

Jelle van der Meulen hat gesagt…

Lieber Hermann, das freut mich sehr! Jelle

Anonym hat gesagt…

Ich grüße dich auch von ganzem Herzen!
Ch.

Anonym hat gesagt…

Sei gegrüsst, Jelle. Schöne Geschichte:der Eichelhäher in deinem Garten und in deiner Erinnerung. Und dann, das grosse Unbekannte wovon du(nach Nietzsche) schriebst hat vielleicht auch was mit dem Eichelhäher zu tun. Ich habe öfter erfahren dass allerhand Vögel mich begleiten wenn ich während Spaziergänge mich Gedanken mache über das grosse Unbekannte, das Alles in dem Nichts,der Nichts im All.
Wim Maas

Anonym hat gesagt…

Kommt ein Vogel geflogen,
setzt sich nieder auf mein Fuß,
hat ein Zettel im Schnabel,
von der Mutter einen Gruß.

Lieber Vogel, ziehe weiter,
nimm den Gruß mit und den Kuß,
denn ich kann Dich nicht begleiten,
weil ich hier bleiben muss.

(Altes Kinderlied)

Anak hat gesagt…

lieber jelle, ich gruesse dich mit dem spruch des gestrigen tages (aus: weisheiten des buddhismus, tag fuer tag):
Die Voegel,die auf einem goldenen Berg leben, Reflektieren die Farbe des Goldes.
(tibetisches sprichwort)
herzlichst und guten rutsch
anka

Anonym hat gesagt…

Lieber Jelle,
ich habe mich sehr über Deine schönen Bilder und den Besuch des Eichelhähers gefreut. Die 12 "Rauhnächte" (eigentlich sind es 13 Nächte, weil die Heilige Nacht schon dazugehört - und 12 Tage) kommen aus dem nordischen Bereich, wo die "Wilde Jagd" (Wotan und die Toten) durch diese Nächte tobt und die Menschen besser im Haus bleiben...

Viele Grüße aus der Mühle
Martin

Anonym hat gesagt…

"SIE (die Liebe-)
ist selber der Vogel,
und das Nest ist sie selber.
Das Wesen ist sie selber,
und die Eigenschaften sind sie selber.
Das Gefieder ist sie selber,
und die Schwinge ist sie selber.
Die Luft ist sie selber,
und der Flug ist sie selber.
Der Jäger ist sie selber,
und das Jagdwild ist sie selber.
Sie ist selber der Orientierungspunkt der Gebetsrichtung,
und der sich danach Ausrichtende ist sie selber.
Der Suchende ist sie selber,
und das Gesuchte ist sie selber.
Das Erste ist sie selber und das Letzte ist sie selber.
Der Herrscher ist sie selber,
und die Untertanen ist sie selber.
Das Schwert ist sie selber,
und die Scheide ist sie selber.
Sie ist sowohl Garten als auch Baum,
sie ist sowohl Zweig als auch Frucht,
sie ist sowohl Nest als auch Vogel.
Die Liebe ist verborgen.
Nie hat jemand sie von Angesicht gesehen.
Wie lange noch reden diese Liebenden sinnloses Gefasel?
Ein jeder faselt nach seinem eigenen Denken über die Liebe;
doch die Liebe ist jenseits von allem Denken,
von diesem und jenem." Ahmad Ghazzali (1058-1111)

Nicole hat gesagt…

Von einem gezeichneten Vogel, einem Traum und einem Wunsch

Als ich Kind war, hat mir ein Junge, den ich kannte, einen Brief geschrieben und eine Zeichnung dazugelegt mit dem Satz: „Diesen Eichelhäher habe ich für Dich gemalt.“ Das klang sehr feierlich und zugleich sehr nüchtern. Ich kannte Eichelhäher nicht und ich habe, glaube ich, noch nie einen gesehen. So bekam ich mit dem Wort das Bild und überhaupt Kenntnis von der Existenz dieses Vogels.
Daran mußte ich denken, beim Lesen, es gehört zum Eichelhäher sozusagen dazu, unbedingt, an die Zeichnung von Alex zu denken. Darum lasse ich ihn hier auftauchen in Deiner Werkstatt, Jelle. Einen Papiervogel als e-mail-Vogel, einen Wortvogel, der kurz herumflattert und alle, die sich hier aufhalten, grüßt.

Und vorvorgestern Nacht, da tauchte Frau Vogel auf, von der Stimmung her jedenfalls kann das gut meine alte Kunstlehrerin gewesen sein im Traum. Irgendwie ging es darum, ein paar Bilder in Angriff zu nehmen und fertigzumachen. Ich erinnere mich an das Gefühl: das ist zu wenig, es lohnt nicht, aber dann, als ich angefangen hatte, ein, zwei Bilder, Papiere zusammenzukramen und mich damit zu beschäftigen, da war da plötzlich ein Interesse. Ein Bogen, weiß ich noch, war so ein spelziges, geschöpftes Papier in einem zarten Rosaton, es gab auch unterstrichene Bildunterschriften in Bleistift. Da war es nicht mehr nichts, ich war plötzlich "drin", und hatte nicht mitbekommen, was genau passiert war zwischen dem "es lohnt nicht" und "ich mach das, das ist da", ich hatte begonnen. -

Es ging im Traum um eine Schwelle. Da geht es auch jetzt drum, ist das „genug“, (ist das relevant genug,) um aufgezeichnet zu werden? Alex war es genug, Dir auch, zwei Vögel mehr in der Welt! Es ist eigentlich immer genug. Das „Es lohnt nicht“ aus dem Traum scheint mir die Täuschung zu sein, die das Geborenwerden verhindert, häufig doch.
Der Rest, den ich geschrieben habe, fügt sich einfach nicht. Es hatte zu tun mit Deinem Satz:
„In postmodernen Zeiten wird das Kind (in uns, in der Welt) nur geboren, wenn wir es wollen.“
Ja. Damit hatte es zu tun. Aber es lässt sich nicht fassen, einfach so. Heute nicht. Für heute bleibe ich bei der Schwelle, beim Moment des Übergangs, beim Beginnen. Jetzt enden, zu Ende führen. Neu beginnen, später. Und auf das achten, was zwischen „draussen“ und „drinnen sein“ passiert, das nehme ich mir vor, denn ich will das mit der Sprache entwickeln und nicht gegen sie. Ich akzeptiere ihr Sträuben, sie hat sicher einen Grund.

Einen schönen Oudejaarsavond, mit Grüßen nach Köln
Nicole

Nicole hat gesagt…

„In postmodernen Zeiten wird das Kind (in uns, in der Welt) nur geboren, wenn wir es wollen.“

Ein Aspekt davon ist: Geburt ist unumkehrbar. Es gibt ein vorher und ein nachher; ein noch nicht geboren und ein geboren. Und das Eigentümliche daran ist: von keiner der beiden Seiten aus ist es möglich, die andere in der Vorstellung zu erreichen. Überhaupt dahin zu gelangen. Wenn das Kind da ist, ist es unmöglich, zurückzufühlen; wenn es noch nicht da ist, unmöglich, vorauszufühlen: wie war es/wie wird es sein, als es noch nicht war/wenn es da sein wird.
Die Geburt ist das Erleben der Gegenwart, es gibt nichts anderes. Es reicht kein Denken dahinein in diesen Moment, es ist das Erlebnis der Schwelle selbst.

Ob es sich lohnt, weiß ich nur, wenn ich beginne.
Das sich Mitteilen, das den eigenen Beitrag für relevant halten, hat mit Schwelle, Übergang, Geburt und Wollen zu tun; damit, die Selbstdemontage zu überwinden. Damit, den eigenen Impuls nicht zu unterdrücken, weil er "nicht lohnt", weil es zu wenig oder nicht so wichtig ist...
Weil ich es für relevant halte, die freie Mitteilung zu lernen (die von sich ausgehend den anderen und sich selbst freiläßt), darum schreibe ich hier.
- und danke dafür, dass Du diesen Raum geschaffen hast - willkommen im Neuen Jahr!

Beginnen -

P.S. Du hast den Willkommenstext geändert, da steht jetzt etwas von Coleridge, kannst Du das einmal übersetzen? Es interessiert mich, aber ich verstehe es nicht.

Anonym hat gesagt…

Hallo.
Ich mochte mit Ihrer Website jellevandermeulen.blogspot.com Links tauschen

Jens Schönlau hat gesagt…

Lieber Jelle van der Meulen,

danke für die vielschichtige Erklärung. Wir haben in den letzten Tagen in unserer Familie danach gesucht. Was sind die heilgen Nächte? Tatsächlich träumen wir alle mehr. Müssen wir mal sehen, lauschen, was das so für jeden einzelnen zu bedeuten hat.

Herzlichst

Jens Schönlau