27.11.2010

Die Freundschaft als Gebet

Ich habe das Zitat von Jacques Derrida schon einmal als Motto rechts oben auf meinen Weblog gestellt. Und weil die zwei Sätze mich nicht loslassen, zitiere ich sie heute noch einmal. In seiner „Politik der Freundschaft“ schreibt Derrida: „Freundschaft ist nie eine gegenwärtige Gegebenheit, sie ist der Erfahrung des Wartens, des Versprechens oder der Verpflichtung anheimgegeben. Ihr Diskurs ist der des Gebets, er konstatiert nichts, er stiftet, er beruhigt sich nicht bei dem, was ist, er ist unterwegs zu jenem Ort, an dem eine bestimmte Verantwortung sich in der Zukunft öffnet“.

Der erste Satz beinhaltet ein Paradox. Erst wird gesagt, dass die Freundschaft „nie eine gegenwärtige Gegebenheit“ sei, dann jedoch, dass sie eine „Erfahrung“ sei, was darauf hin deutet, dass sie in der Gegenwart erlebt wird. Die Erfahrung bezieht sich auf das Warten, das Versprechen oder die Verpflichtung – solange wir in der Gegenwart (auf die Freundschaft? auf den Freund? auf meine Bereitschaft auch wirklich ein Freund zu sein?) warten können, solange wir an einem Versprechen festhalten, ist die Freundschaft als Erfahrung da.

Ihr Diskurs ist der des Gebets... Im Gebet richten wir uns auf etwas Größeres, etwas, dass über uns hinaus geht, auf etwas Göttliches. Wir glauben (nehmen an, ahnen, hoffen?), dass das Größere auch tatsächlich existiert, uns bemerkt, uns hört, auch wenn es nicht gegenständlich und handgreiflich in der Gegenwart vorhanden ist. Beten ist der Versuch einer Wiederverbindung, was das Wesen der Religion ausmacht: Im Gebet versuchen wir eine verloren gegangene Beziehung wieder herzustellen.

Er (der Diskurs der Freundschaft) konstatiert nichts... Konstatieren bedeutet auf schönem Deutsch: feststellen, also FEST STELLEN, etwas fixieren, etwas eine eindeutige Bedeutung zuschreiben. Im Diskurs der Freundschaft bleibt alles in der Schwebe, einem Zustand, der manchmal schwer auszuhalten ist, weil er uns in unseren Unsicherheiten nicht gerade bestärkt. Wir sind immer wieder geneigt, uns mit Urteilen (über Freunde und Feinde) Sicherheiten zu verschaffen.

Er stiftet... Derrida sagt nicht: der Diskurs der Freundschaft „gründet“, sondern „stiftet“, was eher eine luftig-feurige Angelegenheit ist. Die etymologische Herkunft des Wortes ist laut Duden 7 unbekannt, verrät in alten Wörtern wie „Stiftskirche“ und Redewendungen wie „Unheil stiften“ allerdings noch die ursprüngliche Bedeutung. Stiften heißt so etwas wie „verursachen“ – in der gegenwärtigen Erfahrung des Wartens wird etwas verursacht, das sich als Wirkung erst in der Zukunft entfaltet.

Er beruhigt sich nicht bei dem, was ist... Auch wenn man in Ruhe wartet – Gelassenheit ist eine hohe Tugend – bleibt man nicht bei dem, was ist, sondern bei dem, was noch nicht ist, anders gesagt: das was ist, wird als etwas Unvollkommenes vollkommen in seinem Im-Kommen-sein genommen. Das was ist, wird nicht genommen als etwas, das beruhigt, sondern es wird umgekehrt in Ruhe genommen als etwas, das in seiner Unvollständigkeit auf etwas Kommendes hinweist.

Er ist unterwegs zu jenem Ort, an dem eine bestimmte Verantwortung sich in die Zukunft hinein öffnet... In der Freundschaft (die eine nie gegenwärtige Gegebenheit ist) wird eine Verantwortung gespürt, die es noch nicht gibt, sondern sich erst in der Zukunft öffnet. Die Verantwortung, die es noch nicht gibt, so verstehe ich Derrida, bedeutet in der Gegenwart allerdings schon eine Verpflichtung. Noch ganz abgesehen von der wunderbaren Formulierung, dass Verantwortungen sich ÖFFNEN, überrascht an dieser Stelle der definitive Sprung Derridas in die Zukunft. Unbekannte Verantwortungen, die es in der Gegenwart noch nicht gibt, führen zu Verpflichtungen in der Gegenwart, einer Gegenwart jedoch, die es eigentlich nicht mehr gibt, sobald man „unterwegs“, das heißt: im Kommen ist.

Die Sichtweise Derridas auf die Freundschaft öffnet eine Verantwortung, die es noch nicht gibt. Sie geht somit mit einer konkreten und höchst aktuellen Verpflichtung einher, die vor allem bedeutet: nicht festlegen wollen, nicht urteilen wollen, ja, stattdessen: warten wollen, versprechen wollen und beten wollen. In der Freundschaft wird über eine hartnäckige Differenz hinaus die offene Zukunft zelebriert. Und weil Derrida von einem Gebet spricht, verstehe ich ihn so, dass es dabei aus seiner Sicht erst einmal um eine innere Tätigkeit geht, erst einmal...

10 Kommentare:

Michael Heinen-Anders hat gesagt…

Lieber Jelle,

'Freundschaft als Gebet', war mir bislang kein Begriff. Aber nach Deinen Hinweisen und Erläuterungen wird mir deutlich, um was es geht.
Freundschaft bedeutet ein Versprechen für zukünftige Verantwortung, die es gilt einzuhalten - oder auch nicht.
Meine eigene Erwartung an Freunde ist nicht besonders hoch, aber sie sollten sich "in der Stunde der Not" zeigen und wenn möglich helfend eingreifen.
Bekannte sind Menschen, die ihr 'Bekenntnis' dadurch auszudrücken pflegen, dass sie Gelegenheiten suchen, sich zu nähern, wenn diese nicht mit argen Unbequemlichkeiten verbunden sind. Ihr Ziel ist der Gewinn am anderen.
Freunde gehen darüber hinaus. Sie sind für uns da, auch für manche Eventualität, die häufig noch gar nicht sichtbar oder auch nur ahnungsweise zu erfassen ist.
Freundschaft bedeutet schließlich ein "großes" Versprechen, aber ein solches, was i.d.R. erst in der Zukunft eingelöst wird.

Herzlich,

Michael Heinen-Anders

Anonym hat gesagt…
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Anonym hat gesagt…

Wieder bei der Freundschaft. Schön. Und wie steht es mit Sammy und Samuel? Nitta aus Berlin

Ruthild hat gesagt…

Lieber Jelle, danke für diesen schönen Text!
Herzliche Grüße aus der Mühle!
P.S. Die Sonne strahlt hell und die Vögel, vor allem Meisen, Rotkehlich und Tauben, umschwirren das Vogelhäuschen.
Ruthild

Andrea hat gesagt…

Dein Derrida Freundschaftstext ist ja deutlich mit Elias / Adventura Impuls in Zusammenhang , das gemeinsam Warten eine Tätigkeit sein kann, ist halt schwierig zu verstehen. Elias Treffen und in Seminaren?? wenn ich jedoch jetzt den Text lese, dann habe ich das Gefühl, ich warte noch heute, es ist auf einmal wieder da. Diese Freundschaft, die zu Erwarten ist und nicht festzuhalten ist und zu erforschen gilt, was sie sein kann.
Mit wem? Mit den Menschen aus der allernächsten Umgebung? mit Menschen, die ich auf Reisen begegne,also unterwegs oder dann dort wo ich hinkomme, wo ich ankomme?

Jelle van der Meulen hat gesagt…

Liebe Nita, Sammy und Samuel sind gut drauf. Sie sprechen vbiel mit einander. Sie werden sich bestimmt bald wieder melden.

Liebe Andrea, ja, so kann man es sehen: das Warten und Aushalten geht (noch immer?) weiter? Und ja, die Freundschaft betrifft natürlich alle Menschen, die zu mir/dir "gehören".

Herzlich, Jelle van der Meulen

Michael Heinen-Anders hat gesagt…

FREUNDSCHAFT

Erst schienen wir wie im Spaß,
uns näher zu kommen
- fast: dicht an dicht -
dann wurde es ernster,
doch die Freundschaft,
sie hatte Dauer...
Je weiter sie auch rückte
die vergangene Zeit,
um so mehr wuchs
der Freundschaft Gelegenheit
und Heiligkeit.
Freundschaft, ach, du
Göttergeschenk
und ein himmlisch Wort...
Wie tust du wohl,
wie bestehst du wohl fort...
Ich denke: auch
nach dem Tode wirst du
dich als Wohltat beweisen
- nicht hier -
doch an einem anderen Ort.

(Michael Heinen-Anders)

Bernhard Albrecht hat gesagt…

Ist Freundschaft nicht auch so etwas wie sich dem wachsenden Ich im anderen Menschen verpflichtet fühlen. Was genauer besehen die Gegenverpflichtung beinhaltet auch seinerseits am Du weiter wachsen zu wollen. Denn nur wer weiter und weiter wächst, kann aus einem Potential schöpfen, aus einer lebendigen Unmittelbarkeit, wenn er denn gerufen wird oder einen Ruf still und leise vernimmt, für den Freund zur Stelle zu sein. Erwachen am anderen Menschen als das grosse, noch weitgehend "unerkannte" Freundschaftsgebet, Jelle van der Meulen!

Bernhard Albrecht

Jelle van der Meulen hat gesagt…

Lieber Bernhard Albrecht, danke!!! Sehr treffend in Worte gefasst. Herzlich, Jelle van der Meulen

Bernhard Albrecht hat gesagt…

Lieber Jelle van der Meulen

Wie ist das mit der menschlichen Würde?!
Beinahe in aller Munde heute und politisch wohlfeil immer wieder zelebriert.
Ich frage mich, je länger je mehr, wie viel ist von dem, was menschliche Würde umfasst dabei tatsächlich verstanden.
Die menschliche Würde ist unantastbar!
Heisst das nicht, dass die hinter Wort und Tat stehende prägende Kraft unantastbar ist?
Und was zeigt mir die Wirklichkeit, nicht zuletzt gerade auch in anthroposophischen Kreisen, dass das Interesse, wenn es denn überhaupt ein fragend, hinterfragend lauschendes Interesse ist, dort sehr schnell mehr oder weniger im Wort Gehacke um den rechten Weg enden kann.
Am "scheinbar" gegensätzlich Erscheinenden in Respekt vor anderen Erfahrungswelten das eigene Ich tiefer erwecken, "in Freundschaft" dadurch Verantwortlichkeiten für eine Zukunft bereit sein ein zu gehen, indem ich mich in mir fremd oder sogar quer liegende Denkweisen versuche ein zu leben, ist , wie ich es sehe, nicht gerade ein Brot, auf das sich über die Theke tieferen Interesses hinweg breiter eingelassen wird. Und doch, wäre dieses nicht ein tiefer wirkendes Zeugnis für eine qualitative Verankerung von Menschenwürde, von mit ihr verbundener Freundschaft und "Brüderlichkeit," die von anthroposophisch gesinnten Menschen still und leise in die Welt hinaus gesendet, eine Geist gemässe und moderne Antwort auf viele Verhältnisse dort sein könnte.
Die von Info3 induzierte Auseinandersetzung mit Ken Wilber, eine Chance für eine Erneuerung, für ein in Erscheinung Treten individualisierter Ich Kraft in Selbstverantwortung, aus "gelebter Freiheit" heraus.
Die Frage ist für mich, wenn ich Freundschaft ernst nehme, kann ich mich dann weiter wie auch immer hinter einem "geistigen Vermächtnis" verbergen oder ist auf die unterschiedlichste Weise ein mehr an geistigem Mut das Gebot der Stunde?!
In Freundschaft einstehen, für wen und für was?
Zu aller erst doch für die Kraft, die sich aus dem eigenen Ich heraus freisetzt, wenn ich diese Kraft, erwachend am Du in mir zum freundschaftlich, freudevollen Erleben bringen kann.

Bernhard Albrecht