01.08.2010

Integration (1). Über den Diskurs zwischen Islam und Christentum

Mit Integration ist ein Geschehen gemeint, das sich weltweit vollzieht. Überall in der ganzen Welt gibt es kleinere Völker, Gruppen von Menschen und auch individuelle Personen, die sich mit einer vor Ort herrschenden dominanten Kultur und einem ihnen fremden Lebensstil abzufinden haben. Manchmal integrieren die kleineren Einheiten sich gerade nicht, sie zeigen Berührungsängste und haben die Neigung sich abzuschotten, meistens aber finden sie eine Balance zwischen Eigenheit und Gemeinsamkeit. Das gegenseitige Suchen nach dieser Balance könnte man Integration nennen.

Integration ist eine uralte Angelegenheit. In allen großen, ehemaligen, kulturellen und wirtschaftlichen Zentren dieser Welt – Uruk, Persepolis, Athen, Damaskus, Bagdad, Rom, Toledo, Paris, New York, Singapur – lag und liegt das spannende Vibrieren-in-die-Zukunft-hinein in der Tatsache, dass unterschiedliche Kulturen sich trafen und treffen. Alleine Europa ist vom Zusammenkommen unterschiedlicher Kulturen geprägt, die in einem Blogtext vollständig aufzulisten nicht möglich wäre.

Aus europäischer Sicht hat die Integration zwei Achsen. Die erste bewegt sich zwischen Ost und West, die zweite verbindet Nord und Süd. Die Ost-West Achse ist die ältere, sie ist schon in der Antike klar zu erkennen (Athen und Persepolis) und hat zum Beispiel zu den Eroberungszügen von Alexander dem Großen geführt. Zurzeit erleben wir eine Ausweitung dieser Achse: auch China – seit dem Besuch von Richard Nixon in Peking 1972 – lässt mittlerweile lautstark von sich hören. (Interessant ist übrigens, wie ich schon in meinem Blog über Singapur geschrieben habe, dass diese Achse sich verdoppelt hat: sie läuft einerseits noch immer über Europa, andererseits allerdings über den Stillen Ozean, anders gesagt: ohne die Beteiligung Europas.)

Die Nord-Süd Achse ist grob mit dem Stichwort Kolonialisierung anzudeuten. Wie Eduardo Galeano in seinem Buch „Die offenen Adern Lateinamerikas“ deutlich gemacht hat, ist sie zu einer Beziehung zwischen Tätern und Opfern geworden. Was wir in Europa Aufklärung und Modernisierung nennen, ist mit den südamerikanischen Bodenschätzen (Gold, Silber, Wald) finanziert worden. Und wer sich zum Beispiel in Spanien auskennt, wo Millionen Immigranten aus den südamerikanischen Ländern leben, weiß, dass die Beziehungen noch immer peinlich asymmetrisch sind.

Die Integration findet ihren Grund in dem Umstand, dass die Zeit schon längst vorbei ist, in der man in Holland, Italien, Peru, Irak oder Indien geboren wird – denn man wird heute auf einem Planeten namens Erde geboren. Die (historische) Einteilung der Nationalstaaten als Rechtsprinzip stimmt mit dem allgemeinen Empfinden nicht mehr überein – auch eine Sache des Rechts! – dass jede Person frei sein müsste, genau dort zu leben, wo sie leben möchte. Moderne Biographien halten sich in ihrer Entfaltung nicht unbedingt an Landesgrenzen, die in der Vergangenheit immer wieder umkämpft worden sind. (Auch interessant: Gerade um Grenzen hat es oft Streit gegeben.) Das Recht hat einen Pferdefuß: es kommt mit dem freien Geist nicht mit.

Nun wird meistens gemeint, dass sich Nationalstaaten hauptsächlich aus wirtschaftlichen Gründen gegen Fremdlinge abschotten. Die westlichen Länder, so heißt es (und das meint auch Galeano), verteidigen ihren Reichtum gegen die Armut in östlichen und südlichen Ländern. Natürlich spielen wirtschaftliche Interessen eine große Rolle, entscheidend scheinen sie mir allerdings nicht zu sein. Ich glaube eher, dass die Abschottung in einer Angst vor anderen „Epistemen“, das heißt: vor anderen „Wahrheits- und Erkenntnissystemen“ begründet liegt. In westlichen Ländern fühlen sich manche Menschen in ihren intellektuellen, religiösen und moralischen Sichtweisen auf das Leben und die Welt bedroht.

Wenn zurzeit in der Öffentlichkeit Frankreichs, Belgiens, Hollands und Deutschlands von Integration gesprochen wird, handelt es sich allerdings immer um ganz bestimmte Gruppen von Menschen, vor allem um Türken, Kurden, Marokkaner (in Holland) und um Araber. Mit Persern, Indern, Afrikanern, Chinesen oder Brasilianern scheint niemand ein Problem zu haben. Dieser Umstand beinhaltet natürlich erst einmal eine sehr gute Nachricht: ganz viel Integration macht offenbar auch Spaß. Die Frage ist allerdings, warum gerade Türken und Araber ins Visier gekommen sind. Welche „Aussagen“ machen sie über das Leben und die Welt, die gerade in so genannten aufgeklärten Ländern so viele Schwierigkeiten erzeugen? Dürfte man nicht meinen, dass gerade die aufgeklärten Kulturen im Stande sein müssten, das Fremde in sich aufzunehmen oder zumindest frei im Raum stehen zu lassen?

Vor dreißig Jahren lernte ich Hamadi kennen, einen liberalen Muslim aus Tunesien, der in Amsterdam lebte. Mit seiner holländischen Frau Eva hatte er zwei Kinder aus seinem Heimatland adoptiert. Die Gespräche, die wir damals über den Islam und das „freie“ Leben in Amsterdam führten, waren richtig verzwickt. Wahrheiten prallten auf einander, Widersprüche gab es bei ihm und bei mir an allen Ecken. Und auch wenn Hamadi liberal war, vertrat er eine Sichtweise, die ich nur schwer akzeptieren konnte.

Er meinte, dass die Menschen im Westen nur wirtschaftlich orientiert seien. Die Holländer nannte er „Kaufleute“, die in ihren Beziehungen zu anderen Völkern nur einen ökonomischen Mehrwert sähen, letztendlich um die eigenen „modernen Gelüste“ ausleben zu können. Die Holländer hätten Gott längst verloren, auch wenn sie vielleicht am Sonntag brav in die Kirche gingen. „Der aufgeklärte Protestantismus“, so meinte Hamadi, „ist die teuflische Kunst Lust und Moral bequem zu trennen“. Ich musste einräumen, dass ich gegen diese Sichtweise nichts einzuwenden hatte.

Umgekehrt fand ich allerdings seinen Gott SEHR streng. Allah überlässt die Moral nicht der freien Entscheidung der Einzelnen, bestimmt was Männer, vor allem auch Frauen und Kinder sollen oder gerade nicht sollen, und schreibt genau wie im Alten Testament vor, was richtig und falsch ist. „Der Islam“, meinte ich, „hat ein Problem mit dem, was wir im Westen zu Recht hoch halten: der Möglichkeit frei und unbefangen zu denken“. Um sich von den Vorschriften im Islam zu befreien, muss man nicht nur liberal, sondern SEHR liberal sein.

Im Diskurs zwischen Islam und Christentum scheint es mir um die sich spiegelnden Fragen zu gehen: muss man, wie Friedrich Nietzsche, Gott in sich selber töten (oder „einfrieren“ - der protestantische Gott ist bekanntlich ein kalter Gott!), um aufgeklärt und frei von Ihm zu sein? Und kann man umgekehrt eine Beziehung zu Gott (zu Allah) haben, ohne Seine schriftlichen Festlegungen ins Zentrum seines Denkens zu stellen? Beide Fragen scheinen mir richtig zu sein. Und beide Fragen bewegen sich in den Herzen beider Kulturen, die übrigens – mit dem Judentum – einen gemeinsamen Ursprung haben.

10 Kommentare:

Michael Heinen-Anders hat gesagt…

Der offensichtliche Widerspruch zwischen Steiner und Goethe in ihrer Haltung gegenüber dem Islam lässt sich bei einer Betrachtung der potentiellen Entwicklungsmöglichkeiten des Islam überwinden. So schreibt Pietro Archiati in seinem Buch „Unterwegs zum Menschen. Die Weltreligionen als Wege des Menschen zu sich selbst“ über den Islam: „Das heutige Zusammenleben von Islam und Christentum kann als positive, entwicklungsfördernde gegenseitige Herausforderung erlebt werden. Der Islam ist dazu da, um dem traditionellen Christentum das eigene Versagen wie in einem Spiegel vorzuhalten. Er fordert das Christentum auf, ernst zu machen mit dem Christentum selbst. Er fordert alle auf nicht nur eine christliche Theorie zu haben, sondern auch die Lebenspraxis damit zu durchdringen. Die Herausforderung des Christentums dem Islam gegenüber ist andererseits die Herausforderung der individuellen Freiheit. Aber diese Herausforderung wird nicht wirksam durch die Theorie über die individuelle Freiheit, sondern durch die Wirklichkeit der Freiheit selbst, die sich nur in wahrhaft freien Menschen zeigen und durch sie ausstrahlen kann. (...) Dasjenige, was das vergangene Christentum heute mit dem Islam erlebt und noch viel stärker erleben wird, kommt daher, dass der Mensch des Islam sehr lange an die Pforte des Christentums gepocht hat in der unbewussten, aber realen Suche nach der Liebe. Der Islam ist bitter enttäuscht worden, weil er das Wesen der Liebe nicht gefunden hat! So können wir auch das Aggressive des Islam dem christlichen Abendland gegenüber aus der bitteren Enttäuschung und Entbehrung erklären. Das wahre Ich dieser Menschen hat das Menschliche gesucht und es nicht gefunden dort, wo die Voraussetzungen da waren, dass es hätte vorhanden sein können. Auch der islamische Mensch sucht wie jeder Mensch das Wesen der Liebe im anderen Menschen. Und was sucht das traditionelle Christentum, herausgefordert vom Islam? Es sucht dasjenige, was es verloren hat: auch das kosmisch-göttliche Wesen der Liebe, auch den Christus. So haben die Christen und die Muslims die Suche nach dem Wesen der Liebe gemeinsam! Indem dank der Auseinandersetzung zwischen Islam und Christentum ein Bewusstsein davon entsteht, dass dasjenige, was wir alle gemeinsam haben – die Suche nach dem wahren Menschentum, die Suche nach dem Christus-Wesen -, viel tiefer und gewaltiger ist als dasjenige, was wir nicht gemeinsam haben, entsteht eine große Zukunftshoffnung der Menschheit! Es entsteht die Hoffnung, dass sowohl der Mensch im Christentum wie auch der Mensch im Islam den Impuls immer tiefer würdigen wird, wodurch zum ersten Male nach zweitausend Jahren die reale Christus-Wesenheit wiedergefunden werden kann in der Menschheit. Wo wird Christus real wiedergefunden in der heutigen Menschheit? Ich kenne nur einen geistigen Impuls, von dem ich sagen darf: Hier wird Christus wiedergefunden, das ist die Geisteswissenschaft Rudolf Steiners! Im Westen, wo Christentum und Islam in oft tragischer Weise Karma miteinander auszutragen haben, höre ich die Stimme, die ruft: O Muslim, o Christ, sucht das Wesen der Liebe, sucht die Christus-Wesenheit dort, wo sie zu finden ist! Wo eine Wissenschaft des Geistes, wo ein Bewusstsein der Wesenhaftigkeit und der Substantialität des Geistes so real wiedergewonnen wird, dass für den Menschen, der diese Geisteswissenschaft ergreift, die reale Begegnung mit dem Wesen des Christus in seiner übersinnlichen Wiederkunft möglich wird. Das ist die Hoffnung jedes Christen, dies ist die Hoffnung jedes Muslim.“ (Pietro Archiati).

Dies ist das Ringen und Suchen des Sufismus, wie auch die Mahdi-Erwartung des schiitischen Islam.

(Aus: Michael Heinen-Anders, Aus anthroposophischen Zusammenhängen, BOD Norderstedt 2010)

Ruthild Soltau hat gesagt…

Lieber Herr Heinen-Anders!
Danke für das Zitat von Pietro Achiati!
Lieber Jelle!
Ich erlebe gerade jetzt, in diesem Jahr, dass die Mysterienstätten der ganzen Erde offen geworden sind und die hohen Eingeweihten der verschiedensten Stätten sich untereinander verständigen. Sie verständigen sich in einer Sprache, die über alle Volkssprachen hinausgeht und wirken gemeinsam, global, an der Wandlung der Erde.
Liebe Grüße von Deiner Freundin Ruthild
P.S. Dass ich mich in aller Öffentlichkeit als "Deine Freundin" anreden kann, obwohl ich meine Ehe sehr ernst nehme, ist eine Wirkung dieser Globalität der Mysterien. In der Christengemeinschaft ist die Trauung das höchste Sakrament, sie steht über der Priesterweihe. Ich nehme Freundschaft nicht weniger ernst als meine Ehe. Eine Ehe wird (höchstens) für ein Leben geschlossen, eine Freundschaft kann wachsen von Inkarnation zu Inkarnation. Die Mysterien finden an vielen Orten in den Herzen der Menschen statt.

Anonym hat gesagt…

Mysterienstätten - Wandlung der Erde- Freundschaft - Die Mysterien finden an vielen Orten in den Herzen der Menschen statt. Vielen Dank Ruthild Soltau.
Josiane Simonin

Anonym hat gesagt…

Sind die Herzen der Menschen zu Bahnhöfen geworden???

Ruthild hat gesagt…

Ja, ich glaube, das kann man wirklich so sagen und diesen Auspruch ganz wörtlich nehmen. Ich habe übrigens die meiste Zeit meiner Kindheit (von 7 bis 19 Jahren) direkt neben einem Bahnhof gewohnt. Auch der anderen Seite stand ein großes Altersheim, in dem ich mich jahrelang am meisten zuhause gefühlt habe. Die alten Frauen nannten mich alle "Rutchen" und das tat richtig gut.
herzlich Ruthild

Anonym hat gesagt…

Wenn sich in meinem Leben große Anderungen vollziehen, träume ich oft von Bahnhöfen. Vom Steckenbleiben, Gleiswechsel, Zugverpassen und Anschluß-nicht-verfehlen-wollen.

Huub

Anonym hat gesagt…

Eine interessante Erklärung über Bahnhöfen Traumen !
Sind wir weit vom Diskurs zwischen Islam und Christentum oder sind wir eben ganz am Kern ?
Josiane

Sophie Pannitschka hat gesagt…

Islam und Christentum -
Bahnhöfe und Mysterienstätten -
Herzen, Träume und Freundschaften -

ich glaube schon, dass wir uns nah am Kern befinden!

Bahnhöfe sind ja schon immer die Orte, an denen Integration schon immer stattfindet. Wo, wenn nicht dort, finden sich Menschen und Geschäfte aller Arten, zerbrechen Herzen, wird Träumen entgegengefiebert, werden Freundschaften gelebt - im Kommen und Gehen - treffen Christentum und Islam an einem neuen, gesellschaftlich anerkannten Mysterienort zusammen?!

Herzlich, Sophie

Anonym hat gesagt…

Hallo.
Ich mochte mit Ihrer Website jellevandermeulen.blogspot.com Links tauschen

Anonym hat gesagt…

sehr intiresno, danke