21.06.2010

Eine Initiation. Über Treue und die Illusion der Nähe

Es war Hochsommer und ich war tagtäglich mit meinem Kameraden Dirk unterwegs. Er hatte ein altes Fahrrad-mit-Motor gekauft, „geregelt“, wie er es gerne ausdrückte, mit dem wir begeistert über die sonnigen Arnheimer Alleen tuckerten. Das Vehikel war ein richtiger Hybrid, gleichzeitig Motorrad und Fahrrad, und wenn der Weg in die Höhe ging, musste man kräftig strampeln. Das Ding nannte sich „Vélosolex“, verkürzt „Solex“ – normalerweise sah man auf den Straßen nur ältere Herren damit, die alle Zeit der Welt hatten. Wie unsere Helden aus Liverpool trugen wir Bluejeans, weiße Hemden und dazu noch die entscheidenden schwarzen Westen, die Dirk aus dem Kleiderschrank seines Vater, der Pfarrer war, „geregelt“ hatte.

Eines Tages hatten wir vor, an Häusern vorbei zu fahren, in denen Mädchen unserer Schule wohnten. Dirk hatte eine Art Fahrplan aufgestellt: ein paar Adressen aufgeschrieben und eine Reihenfolge bestimmt. Als er sie mir zeigte und ich sofort sah, dass ein bestimmtes Mädchen fehlte, stand ich vor einem dicken Problem: sollte und wollte ich Dirk darüber informieren, dass ich mittlerweile kräftige Gefühle gerade für das fehlende Mädchen entwickelt hatte, im Grunde genommen fortwährend an sie dachte? Und sollte und wollte ich eigentlich an ihrem Haus vorbei fahren?

Ich nenne sie Katharina. Sie hatte lange rötlich-blonde Haare, war groß aber gehalten, schien nie lachen und reden zu müssen und schaute mit ihren grauen Augen aufmerksam, aber auch ein bisschen traurig, auf das Getümmel um sie herum. Sie hatte eine Busenfreundin, Andrea, die nie von ihrer Seite wich, klein und schmal war, und für die beiden das Wort führte. Katharina war bestimmt ein Jahr älter als ich und wohnte oben auf dem Hügel Monnikenhuizen, wo ehedem – wie ich wusste – die Zisterzienser Mönche gelebt hatten. Irgendwie schien mir Katharina eine heilige Frau zu sein.

Es war schon einige Wochen her, dass Katharina in mir angekommen war. Ohne ein Wort mit ihr oder ihrer Freundin Andrea gewechselt zu haben, hatte ich sie in meine Phantasien einbezogen. Meine Gefühle für Katharina waren von Verehrung und Bewunderung geprägt: ich war mir sicher, dass sich hinter ihrer Schweigsamkeit eine unermessliche Tiefe mit großen Geheimnissen befand, die irgendwie mit „Heilen“ zu tun hatte. Und ich fand Katharina fast unerträglich schön: ich musste immer in ihr Gesicht blicken, und auf ihre Haare und Kleider, die frei hinter ihr her flatterten, wenn sie Fahrrad fuhr. Sie war allerdings unerreichbar und irgendwie war das auch gut so.

Ich teilte Dirk nur halbwegs meine Gefühle für Katharina mit. „Dann fahren wir sofort nach Monnikenhuizen“ meinte er entschieden. Als wir oben angekommen waren und die richtige Straße gefunden hatten, fuhren wir langsam an der Wohnung ihrer Familie vorbei. Die Fassade war hell weiß gefärbt, die Fenster spiegelten das Sonnenlicht, die Haustür war zu, sehr zu, und im Inneren des Hauses schien sich nichts zu bewegen, vor allem Katharina nicht. Mir war das Unternehmen mittlerweile sehr unangenehm geworden und ich wollte sofort weiter fahren. Dirk ließ allerdings nicht locker, kehrte das Vehikel am Ende der Straße um und fuhr ein zweites Mal an der Wohnung vorbei. „Mal schauen, was geschieht“, rief er laut.

Eine Solex mit zwei Jungs in weißen Hemden und schwarzen Westen war Anfang der sechziger Jahre in der gehobenen Stille von Monnikenhuizen eine bemerkenswerte Erscheinung. Als wir das dritte Mal durch die Straße fuhren, wurden hier und da Türen geöffnet und es kamen neugierige oder verärgerte Leute aus ihren Wohnungen. Und katastrophal genug: auch Katharina erschien, mit ihrer Mutter... Sie erkannte uns sofort, sagte etwas zu ihrer Mutter, drehte sich um und verschwand. Ihre Mutter kam allerdings auf uns zu und sagte freundlich aber entschlossen: „Geht doch lieber weg, ihr habt hier doch nichts zu suchen, oder?“

Ich war erschüttert und von einer beißenden Scham erfüllt. Als ich abends in meinem Zimmer auf der Fensterbank saß und die Amsel singen hörte, stellte ich fest: Katharina war tatsächlich verschwunden. Sie war nicht mehr in mir vorhanden, hatte sich gegen mich entschieden, ich war mir sicher, dass das geschehen war, weil ich mit meinem Freund Dirk und der komischen Solex und meiner schwarzen Weste die Sphäre ihrer Heiligkeit verletzt hatte. Ich war untreu gewesen. Und dabei ist es auch geblieben: seitdem war ich in Katharinas grauen Augen nur noch Luft. Sie hat mir nie mehr den geringsten Hinweis gegeben, dass ich für sie überhaupt noch existiere oder eben existiert hatte.

Im Nachhinein kann ich leider nicht einmal sagen, ob es überhaupt etwas Gemeinsames zwischen mir und Katharina gegeben hat. War die stille Nähe, die ich in mir spürte, nur eine phantasierte Vorstellung in mir, die sich ohne ihre Beteiligung in mir gebildet hatte? War sie in mir einfach ein Gespenst, eine Projektion, die alles über mich und meine Sehnsüchte, und gar nichts über sie aussagte? War die gespürte Nähe wirklich Nähe, ohne eine Illusion der Nähe? Wie gerne hätte ich auch heute noch, eine Antwort auf diese Frage! (Ich habe in späteren Jahren tatsächlich versucht Kontakt zu ihr aufzunehmen, konnte aber keine Spur von ihr finden.)

Diese Initiation betraf die Treue. Auch wenn die innere Nähe zu Katharina auf einer Illusion beruhte, was ich leider nicht mehr herausfinden kann, bleibt die Tatsache, dass die Aktion mit der Solex über eine Grenze führte, die ich – so wie ich Katharina für mich verstand – gerade zu beachten hatte. Einer heiligen Frau nähert man sich auf diese Art und Weise nicht. Entscheidend war der Moment, dass sie mich vor der Wohnung erkannte, ihrer Mutter etwas sagte und sich ohne die geringste Zögerung umdrehte und verschwand. Die Souveränität ihres Verschwindens war der harte Kern des Ereignisses. Und übrigens: nicht lange nach dem Geschehen auf dem Hügel von Monnikenhuizen erfuhr ich per Zufall, dass Katharina fest vorhatte, Krankenschwester zu werden – etwas mit dem Heilen war also dran.

9 Kommentare:

Michael Heinen-Anders hat gesagt…

Lieber Jelle,

Die Illusion von Nähe und dennoch belastende Treue, das ist ein interessantes Thema, wie ich finde.

Ich habe in meiner Jugend so ähnliche Erlebnisse gehabt. An die jungen Frauen (oder waren es Mädchen) bin ich nie herangekommen und meinte dennoch ihnen gegenüber treu bleiben zu müssen.

Es gab aber auch den gegenteiligen Fall, also vice versa. Und hätte SIE etwas gesagt, wer weiß, vielleicht wären wir auch glücklich miteinander geworden.

Ich traf SIE nach Jahren, als ich schon fest liiert und verheiratet war, wieder und wieder schien diese eigenartige Spannung in der Luft zu liegen.

Aber ich habe mich schließlich gegen SIE entschieden...

Herzlich,

Michael Heinen-Anders

Anonym hat gesagt…

Lieber Jelle,
herzlichen Dank für Deinen Text.
Was ist denn eigentlich Nähe? Ich empfinde Nähe, wenn ich immer bei einem Menschen sein möchte, weil es mir gut tut. Ich empfinde aber auch Nähe, wenn ich mich nicht gern in der Nähe eines anderen Menschen aufhalte, wenn ich mich über ihn aufrege oder ärgere. Aber ist es wirklich die Nähe zu dem Anderen, oder ist es die Nähe zu mir, zu meinen Gefühlen? In Begegnung mit dem Anderen kann ich sein und einiges über mich kennenlernen. Der Andere löst in mir ein bestimmtes Gefühl aus. Wie mag es sein, wenn jemand seine Gefühle nicht gut wahrnehmen kann? Kann er denn sein? Kann er sich geliebt fühlen? Oder macht es ihm vielleicht Angst, weil ihm Gefühle entgegenkommen die er - aus welchen Gründen auch immer - ablehnt und abwehrt? Und was macht das dann mit dem Menschen, der liebt?
Viele viele Fragen. Mag jemand etwas dazu sagen?

Herzliche Grüße, Katharina ;-)

Michael Heinen-Anders hat gesagt…

...

Ohne dich verliert auch das Sterben seinen Sinn.
Wir lächeln verhärtet wieder und wieder uns an,
wenn auch hinterher der Anfang endlos erschien.

Der Segen alleine rührt uns nicht.

Schwarze Schleier senken sich herab. Jederzeit
versagt der Mut vor Erinnerung. So grausam
waren wir lange nicht mehr. Es wird Zeit
für uns auch ohne dich zu gehen.

(Michael Heinen-Anders)

Michael Heinen-Anders hat gesagt…

BROT UND SPIELE

Fussball ist Ersatzkrieg -
oder Ersatzreligion?

Dieser Tage begegnete mir
als Werbeaufdruck
auf einem Feuerzeug
der Fussballgott als
“fighting spirit“
in der stilisierten Gestalt eines
Totenkopfes.

Rasende Leidenschaften
überfallen die Massen,
wenn der Fussballgott
zur WM geladen hat
und nationale
Chauvinismen locken.

Kaum Luft zu atmen
hat da der Geist der Fairnis,
wo im Hause der
Völkerfreundschaft
plötzlich der Hass wohnt...

(Michael Heinen-Anders)

Anonym hat gesagt…

Wie nah darf ich sein?
Wieviel Nähe kann ich ertragen?
Unter jede Nähe liegt ein Abgrund, wo ich leicht herein fallen kann, wenn ich die Brücke nicht finde, die von zwei Seiten getragen wird.
Manchmal ist die Nähe die ich aus mir heraus erzeuge für mich schon fast nicht auszuhalten. Wie kann ich dann dir dieses Aushalten zumuten.
Fremd und unendlich schön ist es aber, wenn die Brücke sich öffnet und die Spannung sich löst, alsob sie nie dagewesen wäre.
Nähe braucht auch Distanz. Ohne sie würde ich mich selber auflösen und für dich nicht mehr existieren, kein Gegenüber mehr sein.
So baue ich immer neue Brücken.
Manche werden auch wieder abgebrochen.
Diejenige die getragen werden von der Liebe, werden alt und schön und zeigen Spuren von Erinnerung, Vergangenheit und Verschleiß. Diejenige die vom Haß getragen werden stehen mächtig in ihre Verschlossenheit da.
Und immer wieder werde ich gezwungen die Nähe zu mir zu finden und zu pflegen. Denn, wenn ich von mir selber weit entfernt bin, ertrage ich dich in meiner Nähe nicht.

Huub.

Anonym hat gesagt…

Danke Euch,
Jelle und
Huub,
S.St.

Anonym hat gesagt…

Eine sehr schöne Geschichte... Nitta

Michael Heinen-Anders hat gesagt…

DER ERSTE KUSS

Es war in Südtirol – in der Nähe von Bozen.
Ich war Mitglied einer Reisegruppe des Jugendrotkreuzes aus Köln.
Du warst dort eine Einheimische – eben ein zartes, hübsches Mädel aus Südtirol.
Mit etwa zwölfeinhalb Jahren waren wir wohl noch zu jung für ein
Liebespaar.
Nicht autonom genug und dennoch so immens sehnsuchtsvoll, wie selten später noch, so intensiv-seelisch fühlten wir.
Als wir uns dort fast zufällig begegneten, war es – nach Momenten anfänglicher Scheu – bald schon geschehen.
Zärtlich aneinandergeschmiegt – nicht mehr loslassen wollend, so berührten wir uns.
Unser erster gemeinsamer Kuss brachte um ein Haar die Gletscher zur Schmelze, die Sonne schien dazu lichterloh.
So liebevoll intim und intensiv war er – der erste Kuss.
In diesem Augenblick hätte ich an Faustens Stelle („Verweile doch, du bist so schön!“) Mephisto verfallen können – als Gegenstand seiner Wette mit Gottvater.
Doch war ich lange noch kein Weiser; eben nur ein Heranwachsender - „noch etwas grün hinter den Ohren“, wie man so sagt.
Wir, die Geliebte und ich, sahen uns noch einige male inniglich – bis zur baldigen Abreise, die unvermeidbar war und schmerzhaft zugleich.
Danach gab es noch für etwa ein halbes Jahr bitterzarte Liebesbriefe – die Träume waren riesengroß – aber, das war es denn auch
schon.
Ich habe nie wieder von ihr gehört.

(Michael Heinen-Anders)

Andrea hat gesagt…

Schöner,berührender Text, zu dem schon irgend wie zum Lieblingsthema geworden von mir und wie ich lese von einigen, die hier oft "vorbei" kommen. ZU deiner Beschreibung liebe Katharina würde ich gerne was sagen aber das ist so vieles und kompliziertes dabei, das würde hier den Blog-Rahmen sprengen.
Aber das sei gesagt, dass ich auch dieses erlebe: Nähe zu Menschen, die ich mag und auch eine Nähe, wenn ich mich aufrege und gar wütend bin über einen Menschen.
Doch eben Nähe zu was zu sich selbst und den Vorstellungen die ich mir mache vom anderen? Ja, aber warum mache ich mir denn gerade bei dem und nicht bei dem anderen dies Vorstellungen und Illusionen, wenn es überhaupt welche sind und nicht Erlebnisse vergangener und vertrauter Art.
Und zu jemanden, der einem anderen Liebe entgegenbringt die nicht erwidert werden kann,ist schmerzvolles in sich zurückziehen nötig und Abstandhalten trotz Nähe empfindend. Naja genau da fängt es an kompliziert zu werden und ich krieg meine Gedanken leider nicht mehr auf die verständliche Art geschrieben, sorry, so long Andrea