30.06.2010

Noch eine Initiation. Über Erotik und Nähe als Raum geistiger Natur

Nicht lange nach meiner Erfahrung mit Katharina, ich war vierzehn Jahre alt geworden, traf ich mich mit Myriam. Ich weiß nicht mehr, wie ich sie kennen gelernt, auch nicht, warum ich sie bald wieder aus den Augen verloren habe. Vage erinnere ich mich, dass wir auf der Veluwe, nördlich von Arnhem, mit dem Fahrrad herum gefahren sind. Auf einer Lichtung im Wald hatten wir uns auf den Boden gesetzt, sie saß mit ihrem Rücken gegen einen Baumstamm, ich an ihren Füßen. Myriam war schüchtern: statt etwas in die Hand zu nehmen, wartete sie auf die Dinge, die kommen sollten, wollten. Mit ihren dunklen Augen schaute sie verunsichert auf mich und lächelte verlegen.

Auch ich war unentschlossen. Ich fühlte mich zu Myriam hingezogen, spürte das Verlangen, ihren Körper zu berühren, ihr rundes Gesicht, ihre halblangen dunkel glänzenden Haare, ihre Arme und Beine, ihre Lippen... Aber im Grunde genommen war ich verwirrt, nicht handlungsfähig, weil ihre Präsenz mich überwältigte. Vor allem überforderte mich die Tatsache komplett, dass ich irgendwie wusste, dass sie von mir berührt werden wollte. Myriam überstrahlte meine Souveränität, ihre Nähe kam mir zu nahe, ich konnte ihre Bereitschaft nicht „denken“, weil etwas in mir sagte: „Du darfst ihre Schönheit gar nicht berühren“.

Wir saßen da und waren verwirrt. Irgendwann schaffte Myriam es, meine Hand in ihre Hand zu nehmen, fast, als ob sie nebenbei ein Blatt vom Boden nahm und anfing es sanft zu streicheln. Ich spürte die weiche Innenseiten ihrer Finger auf meiner Haut, und hatte sofort das Gefühl, nur noch Hand zu sein. Wir beiden schauten auf unsere Hände, sagten nichts – und langsam wurde es mir möglich, so dabei zu sein, dass ich ihre Bewegungen erwidern konnte. Wir waren für eine Weile in die kleine-große Welt unserer Hände versunken, alles andere war verschwunden. Wir teilten was da mit unseren Händen geschah, befanden uns in einem gemeinsamen Erleben, das sich zwischen uns ereignete.

Ich hatte nicht länger das Gefühl: hier bin ich und dort ist Myriam. Wir schauten nicht mehr aufeinander, sondern waren über unsere Hände irgendwo gemeinsam eingetroffen, wo sie und ich nicht mehr so klar zu trennen sind. Und obwohl ihre Präsenz fast noch überwältigender geworden war, saß Myriam nicht länger als ein strahlendes Gegenüber vor mir: ich schien in mir einen Raum zu haben, in den ich sie in ihrer Größe aufnehmen und einen Platz geben konnte. Und als ich mir nach einer Weile zutraute, Myriam in die Augen zu schauen, traf ich auf einen Blick, der mich aufnahm, den ich aufnehmen konnte. Stärker noch als die Hände schienen unsere Blicke eine Innenwelt zu stiften, die wir betreten konnten.

Von diesem Moment an lief alles von alleine. Irgendetwas in ihr und irgendetwas in mir wussten spontan wo es lang ging. Wir brauchten uns nichts zu überlegen, Verwirrungen und Verunsicherungen gab es gar nicht mehr, es gab nur noch die Berührungen mit den Händen und Lippen, die suchenden und öffnenden Bewegungen, den Atem, die Gerüche...

Erotik schaltet das Denken aus. Sie weckt eine spontane und fließende Handlungsfähigkeit, die nicht von bewussten Überlegungen und Entscheidungen geprägt wird. Was richtig oder falsch in einer erotischen Beziehung oder in einem erotischen Geschehen ist, wird direkt über Gefühle erkennbar – und die Handlung erfolgt sofort aus dem aktuellen Gefühl heraus. Ist man einmal über die Grenze der eigenen körperlichen und seelischen Haut gegangen, befindet man sich quasi frei in einem Bereich, wo die führenden „Prinzipien“ die des unbefangenen und fühlbaren Tastens, des Lauschens und des Berührens sind. In der Erotik begegnen und vermischen sich zwei Menschen vor allem als fühlende Wesen, die ohne Gedanken auskommen können.

Genau wie das Denken wird auch das Wollen in der Erotik zurückgestellt. Um an dieser Stelle einen Begriff von Georg Kühlewind zu verwenden: der harte Wille verschwindet und macht Platz für den „sanften Willen“, der ein Wille ist, der sich von Gefühlen leiten lässt. Man könnte es auch so sagen: in der Erotik opfern die gedanklichen Vorstellungen und der strebende Wille sich in das Meer der sich ständig verwandelnden Gefühle hinein und lassen sich von den hin und her gehenden Strömungen führen. Das Wollen und das Denken stehen sich in der Erotik – und damit auch in der Nähe – nicht als zwei Polaritäten gegenüber, sondern verschmelzen in der Einbettung der Gefühle. Eros kreiert einen Raum der Nähe, der Begegnung, der Verschmelzung, der Berührung...

4 Kommentare:

Michael Heinen-Anders hat gesagt…

Die erste Nähe...erste Erotik... ein interessantes Thema!

Herzlich,

Michael Heinen-Anders

Michael Heinen-Anders hat gesagt…

Niedergang

Eine heimliche Landliebe
barg unbegrenzte Freude
für mich, seinerzeit,
blieb unvergessen: auf
meinem weiteren Lebenswege.
Doch war sie recht ungeschützt
vor der Macht der widrigen Umstände
und musste daher bald welken,
wie eine soeben gepflückte
Sonnenblume.

(Michael Heinen-Anders)

Anonym hat gesagt…

Die Schönheit der Lust

Die Schönheit der Lust
ist nie ungeteilt
oder unbewußt,
wenn meine Hand bei dir verweilt
und dein Kuß
Erinnerungen brennt
auf meine Lippen,
ohne Schand
und ohne Scham,
wird im Land der Sinne
jede Handlung ein Neubeginn,
der, die Geschichte
der Liebenden wieder erkennt
und weiss,
wie es dazu kam,
dass die Lust
wieder ins Licht der Liebe trat.
Das ist deine Tat
im Dienst der Liebe,
die nie vergißt,
dass auch sie
in den Menschen
Fleisch geworden ist.

Huub

Anonym hat gesagt…

Faszinierend finde ich die Annahme, dass Nähe einen Raum geistiger Natur bilden kann. In dem beschriebenen Beispiel kann ich aber gerade diesen geistigen Raum gar nicht erfassen. Verstehe ich da etwas nicht richtig?

Du beschreibst doch physische Nähe - gäbe es auch noch etwas Deutlicheres über seelische und geistige Nähe zu sagen?

Und was ich auch berührend finde ist die Tatsache, dass Nähe zu nah kommen kann - trotz des Bedürfnisses nach Nähe.