22.06.2009

Vom Wind weggepustet werden? Über die kleine Esmeralda

Ich komme nicht darum umhin, sie für heute, in meiner Welt der Worte, Esmeralda zu nennen. In der Wirklichkeit, außerhalb meiner Worte heißt sie ja anders, nein, nicht ganz anders, ich würde sagen: ein bisschen anders – aber eben anders. Warum sie heute Esmeralda heißen soll, weiß ich nicht so ganz genau. Als ich mir aber vornahm diesen Text zu schreiben, meldete sich für sie einfach dieser edle & schöne & doch auch ein bisschen düstere Name bei mir.

Esmeralda also. Ich kenne sie nicht, dass heißt: ich habe sie nicht mit eigenen Augen gesehen. Ein paar Freunde haben aber gerührt & aufgeregt & staunend über sie erzählt – und über diese Erzählungen ist Esmeralda irgendwie bei mir eingetroffen. Sie geht in mir herum, stiftet eine wunderbare Unruhe, bewegt Fragen & erweckt Aufmerksamkeit.

Esmeralda ist noch nicht einmal vier Jahre alt. Für ihr Alter ist sie – laut den Erzählungen – eher ein bisschen zu groß, nicht richtig zu groß, aber doch zu groß. Sie steht unsicher auf ihren Füßen, so, als ob sie sich das Gehen nicht so ganz zutraut. Sie scheint so zu wirken, als ob sie bodenlose Fragen hat - über alles, was mit dem Boden zu tun hat. Dass die Erde uns ein fußfestes Fundament bietet, ist Esmeralda offensichtlich nicht bekannt. (Oder weiß sie etwas, was wir nicht wissen?)

Einer der Freunde erzählte: „Esmeralda kriegt viel mit, sie sieht alles, fühlt sich von hundert kleinen Ereignissen wie belagert. Sie bemerkt jeden Vogel, der vorbei fliegt...“ Es sieht also so aus, als ob die kleinen Ereignisse für Esmeralda irgendwie groß & bedeutend sind. Ja, natürlich, alle Kinder erleben das Große in dem sogenannten Kleinen, längst nicht alle fühlen sich davon aber belagert. Liegt ihr Problem darin, dass ihre Füße zu unsicher sind? Oder sind ihre Augen & Ohren einfach zu groß, zu offen, zu sensibel?

Esmeralda ist aber, wegen einer ganz bestimmten Aussage, die sie irgendwann einmal gemacht hat, bei mir eingetroffen. Als sie einmal im Wald auf einer großen Wiese war, sagte sie zu ihrer Mutter: „Ich habe Angst davor, vom Wind weggepustet zu werden“. Ihre Mutter erzählte später meinen Freunden, dass Esmeralda öfters von dieser Angst spricht. „Ihr habt keine Idee davon, was wir diesbezüglich mit ihr schon erlebt haben. Wir waren mal in Holland bei den Windmühlen... Meine Tochter hat richtig Angst vor Wind.“

Was liegt hier vor? Ich weiß es nicht. Ich kenne Esmeralda nicht einmal persönlich & wüsste außerdem nicht, welche psychologischen Einsichten an dieser Stelle relevant oder hilfreich wären. Mich trifft aber diese unbegründete Angst vor dem Wind. Irgendetwas in mir versteht diese Angst durch & durch, so, als ob ich etwas weiß, was offensichtlich auch Esmeralda weiß.

Was ist Wind? Als erstes fällt mir ein Gedicht von Percy Bysshe Shelley ein, Ode to the West Wind. Der englische Romantiker spricht von der „unseen presence“ (unsichtbaren Anwesenheit) des Windes, der die toten Blätter vor sich her treibt: „Wild Spirit, which art moving everywhere;/ Destroyer and preserver;“ Der Westwind heißt bei Shelley „der Vernichter“, weil er alles was sich in seiner Gewalt nicht halten kann, zum Tode führt.

Und ich denke an Gerrit Achterberg, den holländischen Dichter, der sich genau wie Esmeralda & Shelley von den hundert Ereignissen-jede-Stunde immer wieder angesprochen fühlt. In seinem Gedicht „Hulshorst“ beschreibt er, wie der Bummelzug, in dem er sitzt, in Hulshorst – einem Dorf auf der Veluwe – „mit einem gottverlassenen Knarren“ anhält, und „niemanden heraus, niemanden herein lässt“... und wo er für ein paar Minuten ein „wenig Wehen“ hört...

Gerrit Achterberg im Original: „O minuten/ dat ik hoor het weinig waaien/ als een oeroude legende/ uit uw bossen: barse bende/ rovers, rans en ruw/ uit het witte veluwhart.“ Auf Deutsch müsste das mehr oder weniger heißen: Oh Minuten/ dass ich das wenige Wehen höre / wie eine uralte Legende/ aus ihren Wäldern: harsche Bande/ Räuber, ranzig und roh/ aus dem weißen Veluwherz.“

Achterberg versteht in diesem Gedicht den Wind als eine Art Medium. Über den Wind bekommt er Zugang zur Ortsgeschichte. Er „hört“ eine uralte Legende von Räubern, die mitten in der Veluwe (heißt: „gelbe Aue“) offensichtlich herumgetobt haben. (Das Herz der Veluwe ist laut Achterberg nicht strahlend gelb, so wie man das vielleicht erwarten dürfte, sondern weiß.) Aus dem Gedicht geht klar hervor, dass der Wind spricht.

Was ist Wind? Er ist unsichtbar – wir spüren seine Wirkungen aber mit unseren Augen & unseren Ohren & unserer Haut. Der Wind kann zart sein, wie ein Hauch, oder gewaltig, wie ein Stürmen. Aber ob leise oder gewaltig: der Wind bringt etwas in Bewegung. Vom Geist wird gesagt, dass er wie der Wind weht... Und der Wind raunt von alten Zeiten. Schon die alten irischen Barden standen am Meer und hörten in dem gewaltigen Wehen & Wenden & Blasen & Dröhnen & Toben des atlantischen Windes eine uralte Geschichte vom Vergehen & Untergehen.

Die Angst von Esmeralda, dass sie durch den Wind weggepustet werden könnte, ist physisch gesprochen unbegründet. Und klar: es wird bestimmt einen Moment geben, wo sie das verstehen wird & ihre Angst überwinden kann. Die Angst wird aber auf einmal nachvollziehbar, wenn man den Wind als ein poetisches Geschehen versteht, das von Tiefen & Höhen & Weiten einer unsichtbaren Welt erzählt.

8 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

sie schweigt. starrt nur gerade aus.es sieht aus, als ob sie starrt. sie sieht irgend wohin, sucht einen inneren horizont ab, sucht. still wirkt sie, wie in sich gekehrt. trauer scheint sie, wie ohnmächtig, zu umfangen. die haut wird kühl, verliert die rosige farbe.
sie lauscht, hebt suchend den blick zur tür. dann hebt sie beide arme mit weit offenen händen derjenigen zu die herein kommt: mama.

alle sehen mich an, mit der gleichen frage in ihren augen. ich bin beinahe fassungslos, mit welcher gleichzeitigkeit alle in meine augen sehen wollen. ich fange an in mir gute worte zu sprechen, male bäume und blumen im geist . irgendwie malen dann alle mit. jeder seine blume, tief in sich drinnen. es wird wieder wärmer und die farbe ihrer haut wird wieder rosig.
welche sprache haben wir gesprochen, welcher wind berührte uns?
herzlichen wind zurück, birgit

Katharina hat gesagt…

Als Grundschulkind musste ich ins nächste Dorf gehen zum Flötenunterricht. Ich erinnere mich an einen Nachhauseweg. Es wehte ein sehr sehr kräftiger und scharfer Wind. Er war eiskalt und so stark, dass ich bei jedem Schritt, wenn ich nur mit einem Fuß mit dem Boden Kontakt hatte, Angst hatte, der Sturm würde mich mit wegreißen. Als könnte er mich greifen und mitnehmen.
Und ich weiß bis heute nicht, wie ich eigentlich nach Hause gekommen bin.

Anonym hat gesagt…

Ich brauche den Wind. Am liebsten sogar Sturm. Zum Windsurfen. Ich liebe es mit dem Surfbrett übers Wasser zu gleiten und über die Wellen zu springen. Und dabei zu fühlen, dass ich nicht denken muss. Ich bin dann einfach ein Teil des Windes. Ja, manchmal spielt er mit mir und ich genieße es.

Sophie Pannitschka hat gesagt…

"...wenn man den Wind als ein poetisches Geschehen versteht, das von Tiefen & Höhen & Weiten einer unsichtbaren Welt erzählt."

Ja, das ist ein schöner Zugang zum Wind. Zu naturwissenschaftlichen Phänomenen... Wenn man eher "geisteswissenschaftlich" - oder eben poetisch - gepolt ist, dann nützen einem Zahlen, Daten und Fakten wenig.

So, wie es auch Esmeralda nichts nützen wird, wenn ihr gesagt wird, dass der Wind sie nicht wegpusten kann...

Für mich macht es Sinn, den Wind poetisch zu nehmen. Auf dieser Ebene hat er uns wirklich etwas zu erzählen - etwas von dem, was sich nicht zählen, wiegen und messen lässt.

Das Großartige am Wind ist ja, dass er sich sowohl horizontal als auch vertikal ausdrücken kann.
Warm und kalt, sanft und heftig, von Norden, Westen, Süden oder Osten kommend - da ist Vieles möglich.

Ursprünglich heißt Wind "bewegte Luft" - ja, daraus lässt sich schon Poesie machen.

Denn, was wäre das Leben ohne Poesie?

Herzlich!

Anonym hat gesagt…

Kommentar zu Esmeralda
Ich las von Esmeralda, und kaum hatte ich zuende gelesen, merkte ich, wie ich mich mit ihr treffe. Ich treffe mich mit ihr, gehe in den Wind mit ihr, erzähle ihr, was der Wind mir gerade erzählt -----------und da merke ich, wie sie aufhorcht. Und dann frage ich sie, was ihr der Wind gerade erzählt hat. Und sie beginnt zu erzählen. Und sie kann es erzählen, weil sie weiß, daß es kein pädagogischer Trick ist, sondern daß ich wirklich dem Wind zuhöre und das gern mit ihr tun will und weiß, daß ich da was lernen kann von ihr.

Ich hoffe, dass Esmeralda nicht pathologisiert wird sondern Menschen trifft, die sich gern von ihr in das Reich führen lassen, in die Kathedrale zwischen diesem Kind und vielleicht Erwachsenen, wo Erwachsene Ohr werden können für das, was in der Luft liegt, was der verwandelte Odin im Wind vielleicht erzählt und was Esmeralda auffischt aus der Luft. Und vielleicht müßten dann viele Unwetter nicht mehr geschehen, weil das, was durch sie mitgeteilt werden soll, vorher schon verstanden würde, wenn es im Kommen ist.
Johanna Giovannini

Anonym hat gesagt…

Lieber Jelle.

Bei Esmeralda musste ich denken an einem Lied vom holländischen Liedermacher Jaap Fischer (Pseud. für Joop Visser) aus den sechziger Jahre. Vielleicht, dass der Name, den du für dieses Mädchen gewählt hast, daher kommt?
Das Lied heißt: Sprookje (Märchen) und handelt über eine Prinzessin, die einen Mann sucht. An der Tür vom Schloss erscheinen drei Männer: Ein Gelehrter, ein wunderlicher Kauz und Hans.
Die beide erste Männer erzählen schräge Geschichten über die Liebe und werden abgelehnt. Un dann kommt Hans und darf über die Liebe erzählen.
Und Hans sagte: Ja, ich weiss es noch nicht so recht
Aber, es muss ein Mädchen sein mit
Prächtige Kleidern und goldblonde Locken
Mit Augen wie Seen, die nicht Lügen können
Ein Mund wie von Honig und dann wieder scharf wie ein Messer
Und hoffentlich ist ihr Vater dann König und sie eine Prinzessin
Aber
Sie soll Liesel heißen

Und da schaute die Prinzessin ihm an und sagte:
Ich heiße Esmeralda
Aber du darfst mich Liesel nennen


Die Esmeralda in deiner Geschichte (und in der Wirklichkeit) hat Angst vom Wind weggepustet zu werden. Kinder in dem Alter haben noch eine starke Verbindung mit der Natur und mit die Kräfte der Natur. Bei Esmeralda muss ich an meinem Sohn Pelle denken (damals 4 Jahre alt), der auf dem Weg von Holland, im Zug am Rhein entlang, zum ersten Mal Berge sah.
Ein wenig ängstlich hat er dann gefragt:
Die können doch nicht reden, was?

Anonym hat gesagt…

Herzliche Grüße von Huub, den Vater von Pelle

Jelle van der Meulen hat gesagt…

Hoi Huub, vader van Pelle,
de warme groeten van Jelle,
de vader van Joachim, Matthijs, Elise en Merle...