01.06.2009

Der Klavierspieler Johann und der Flügel

(Im voraus: dieser Text gehört zu dem Text von letzter Woche und den Kommentaren dazu. JvdM)



Der Klavierspieler Johann saß auf dem Klappstuhl, den er vorher für den Beamten Schmitz hingestellt hatte. Seine großen Hände lagen auf seinen großen Knien, seine langen Beine waren weit auseinander gespreizt & sein Kopf hing nach hinten. Der Beamte hat recht, dachte er, es wird Zeit, dass ich mir ein paar Fragen stelle.

Was soll ich jetzt machen? Denken?

Die Geschichten meines Lebens treiben wie Schiffe auf dem Innensee meiner Seele: große & kleine & mit weißen Segeln & mit braunen Segeln & mit kleinen Motoren & eben ohne irgendetwas, sogar ohne Paddel... Von manchen Schiffen weiß ich nicht, woher sie kommen & ob ich sie erfunden habe & wer sie steuert & wohin sie überhaupt wollen. Meine Seele sieht schon ein bisschen so aus, wie die Bucht bei Hoorn an einem windigen, warmen Samstagmittag.

Und jetzt soll ich mir die Geschichten anschauen, vor allem die über den Flügel? Das wird schwierig sein. Ich kann mich nicht einmal auf einen Begriff einlassen: ist das Ding wirklich ein Flügel? Oder ein Klavier? Oder ist das Ding einfach „das Ding“ - das schwarz schimmernde Ding, das immer da war & immer bleiben wird?

Wo ich auch hinschaue, das Ding steht immer da. Über das Ding bin ich in die Welt eingetaucht. Die Tasten, die Saiten, die Fuß pedale, die spiegelnde Fläche, die perfekten Kurven rufen überall in der Welt Tasten, Saiten, Pedale, spiegelnde Flächen & Kurven hervor. Die schwarze Kiste ist ein Körper & wenn meine Ohren groß werden & ich die Tasten richtig berühre, dann steigt Musik auf: Chopin oder Oscar Peterson oder... Ich meine: wenn ich in die Kneipe gehe, nehme ich die schwarze Kiste innerlich mit & weite meine Ohren über die Menschen aus, so dass sie sich in meinen Ohren bewegen & aufstehen & ich berühre mit meinen Händen die Tasten & mit meinen Füßen die Pedale – da ganz unten...

Und was erklingt ist Musik.

6 Kommentare:

Sophie Pannitschka hat gesagt…

Johann, erzähle von den Geschichten, die auf dem Innensee deiner Seele wie verschiedene Schiffe treiben. Vielleicht kommt dabei auch der Flügel zu Tage - von dem der Beamte so dringend etwas erfahren möchte. Wach auf aus deinem Traum - erzähle!

Wenn "das Ding" so entscheidend für dein Leben ist, dann erzähle uns davon - nimm einfach Worte statt Tasten oder Töne, auch aus Worten kann eine Musik erklingen...

Oder gibt es dich auch ohne "das Ding" - müssen wir etwas von dir wissen, was nicht mit dem Flügel zu tun hat?

Es wäre schön, eine Musik aus Worten von Johann zu hören... wie sie wohl heute Abend klingt? Und, ob er noch immer auf dem Klappstuhl sitzt? Allein in dem weißen Zimmer? Oder steht die Alte noch hinter dem Vorhang? Ich weiß gar nicht, was sie gemacht hat...

Mir scheint es jedenfalls, als ob der Flügel heute schweigt. Ihm hat es die Sprache verschlagen. Und auch der Beamte ist still. Er ist noch immer irritiert. Und seine Neugier wechselt sich mit Furcht ab - so eine Geschichte hat er noch nie gehört.

Und das Geheimnis?
Ich glaube, es hat sich verkrochen... hat den Mut verloren ans Licht zu kommen.

Johann muss weiter machen. Von ihm hängt es jetzt ab.

Wenn er nicht denken mag - dann soll er einfach erzählen, wir werden die Worte schon ordnen und vielleicht eine neue Geschichte erfahren.

Herzlich!

Nicole hat gesagt…

„Schmitz“ stand auf dem Klingelschild. Johann stand davor und drückte mit den langen Fingern der einen Hand die der anderen, als wolle er sie geschmeidig halten. Er stand eine Weile vor der Wohnungstür des Beamten und knetete seine Hände, während er auf den Impuls wartete, zu klingeln.

Schließlich schob er den rechten Arm vor, und, um sich nicht bücken zu müssen, gab er dabei in den Knien etwas nach, denn er war gross und die Klingel war tief angebracht. Das Schrillen berührte ihn unangenehm, aber er beschloss, sich jetzt nichts daraus zu machen.

Der Beamte Schmitz öffnete die Türe, ein knappes Kopfnicken deutete eine Begrüssung an, er trat zur Seite und ließ den Klavierspieler eintreten. Immer noch schweigend ging er voran in die Küche, wo die Post noch auf dem Küchentisch lag. Er zog die Postkarte hervor, die an ihn adressiert war, mit dem blauen Himmel und der blauen Wasserfläche, auf der helle und dunkle Flecken zu sehen waren, die über den Wellen tanzten.
Er drehte sie um, und las vor, was da stand: „Ich will dir gerne zugeben, dass du eine scharfe Klinge schlägst und nicht bloß Lufthiebe austeilst, denn du bist ein guter Beobachter. Aber vielleicht ist das eben dein Fehler. Vor lauter Beobachten kommst du nicht zum Leben, kommst du nicht über Anläufe zum Leben hinaus.“ – Dies las ich heute auf dem Klo, bei Kierkegaard, und wollte es Dir unbedingt schicken, v.a. den letzten Satz. Als eine vielleicht bittere, aber nötige Medizin... Anna.“

Der Beamte zitterte leicht, als er den Anderen von der Seite ansah. Er hatte ihm keinen Stuhl angeboten, sondern hatte gleich begonnen.
Er hoffte, der Klavierspieler wisse etwas darüber, was auf der Karte stand, denn die Zeilen verstörten ihn. Er zwang sich zu schweigen, obwohl er den Klavierspieler viel zu fragen hatte. Es war, als sei in ihm, dem Beamten Schmitz, der Deich, der so lange sein inneres von seinem äußeren Leben geschieden hatte, in einen bedenklichen Spannungszustand geraten.

Er wusste nicht genau, warum er den Anderen gebeten hatte, zu kommen, und warum es ihm so wichtig war. Erwartete er, der Klavierspieler würde in seiner, Schmitzens Wohnung etwas auffinden, das ihm abhanden gekommen war oder eine übersehene Tür öffnen? Hatte er gehofft oder gefürchtet, es möchte sich etwas finden lassen, mit dem er eigentlich zu tun hatte, etwas, das darauf wartete, von ihm, Schmitz in Besitz genommen zu werden? Gab es diesen verborgenen Gegenstand überhaupt?

Der Beamte spürte, wie in seinem Inneren ein Kampf tobte. Der, der er geworden war, kämpfte verbissen darum, die Oberhand zurückzugewinnen, und der, der er werden würde, wenn der Gewordene aufgab, tat nichts, um an die Oberfläche zu kommen. Auch er kämpfte. Aber er wehrte sich nicht. Er ließ die Angriffe des Gewordenen ins Leere gehen, wieder und wieder. Er war sich nicht sicher, aber er gab nicht auf.

Der Kampf fand statt in den ersten Junitagen, im Beisein des Klavierspielers Johann. Er fand statt in der Küche des Beamten, der Schmitz hieß. Seinen Vornamen hatte er vergessen. Er stand nicht in dem kleinen schwarzen Notizbuch des Beamten, das in der Spüle herumschwamm. Seite für Seite war herausgelöst. Seite für Seite hatte Schmitz kleine Hüte gefaltet, und aus den Hüten kleine Boote gemacht. Die Notizboote trieben in der Spüle des Beamten herum, während Johann bei ihm stand.

Andrea hat gesagt…

Hallo ich, ich wollte bis anhin nicht stören, ich bin ein Staubkorn oder ein Tränen Tropfen in Johann`s Auge und weiss nicht recht weiter, ich mische mich ein um nicht viel zu sagen nur die Hingezogenheit zu euch allen zu zeigen, mehr nicht. mich bringt soviel aus meinem Gleichgewicht Ich möchte mir Sorgen machen um was kommt was entsteht ich möchte einfach nur dabei sein nicht aus schaulustiger Neugier, sondern aus notwendigem Interesse zu schauen. Als Detail, als unscheinbares Detail mitmachen. Keine wichtige oder neue Perspektive, also.

Nicole hat gesagt…

Liebe Andrea, liebe Sophie,
ich kenne Euch beide nicht, dennoch habe ich eine Empfindung Euch gegenüber, und das möchte ich Euch kurz schreiben. Sophie, bei Dir/Ihnen schwingt immer Parzival und seine Frage, die er schliesslich doch gestellt hat, mit. Ich empfand Deine Aufforderung an Johann in diesem Sinne wie eine Lösung aus der Starre, die der mehrtägige "0-Kommentare"-Zustand in mir auslöste. Das Schweigen des Flügels, die Feststellung, es habe ihm die Sprache verschlagen, das still und irritiert Sein des Beamten, das sich Verkriechen des Geheimnisses habe ich "persönlich genommen". Ich bewunderte Deine/Ihre Distanz zu Ihrer Figur, der "Alten hinter dem Vorhang". Ich empfand meine Stummheit nach Jelles 2. Text als Versagen, ich empfand mich als jemanden, der mit Perspektiven um sich warf wie mit Bonbons, und der dann beschämt feststellt, dass die Pappkartons leer sind. Davor war es so, dass es mich Überwindung kostete, zu dem zu stehen, was ich noch hatte.

Was ich will, ist, mit der Gegebenheit von Nähe und Distanz anders umgehen zu lernen. Dass die Vorstellung, das eine sei besser als das andere dem Erlebnis weicht, wie sie zusammenhängen und zwei Fähigkeiten sind.

Es geht um Sprache, aber es geht auch um persönliche Entwicklung, mir geht das so. Ich freue mich über diese Möglichkeit, zu entdecken, ins Spiel miteinander zu kommen, das ist etwas, was ich mir schon lange gewünscht habe.

Andrea, mich trifft, dass Du Deine Perspektive so einbringst, als sei sie nicht wichtig. Sie ist ebenso alles entscheidend innerhalb des Ganzen wie jede andere, finde ich. Ich freue mich, dass Du geschrieben hast und was Du zur Sprache brachtest. Es würde dieses Detail sonst fehlen. Wenn wir uns erlauben, für das zu stehen, was DA IST in uns (das ist ja wahr, dass das da ist), kommt es nur darauf an, und verlieren die alten Maßstäbe nach und nach an Bedeutung. Scheinbar/unscheinbar, Flügel und Schiffe, Klappstühle und Vorhänge, Tränen und Notizbücher, Parzival und Johann, Schmitz, Anna, das schwarze "Ding"..
Das Geheimnis liegt vielleicht darin, dass wir die (je eigene) Furcht überwinden, und etwas Neues entsteht..

Viele Grüsse
Nicole

Sophie Pannitschka hat gesagt…

Liebe Nicole,

herzlichen Dank für deinen Kommentar! Einerseits bin ich überrascht, dass die Parzival-Frage durch meinen Text hindurchklingt, andererseits freut mich das aber auch sehr, denn ich habe tatsächlich etwas "damit" zu tun.

Zur Zeit Wolframs von Eschenbach (um 1200) war die Frage "Wie geht es dir, was bewegt dich?" (Oheim, waz wirret dier?) neu, ganz neu. Ich glaube aber, dass diese Frage mittlerweile ganz gut bei uns Menschen angekommen ist.

Was mir jetzt dringender erscheint ist die Form, der Raum, in dem so eine Frage gestellt wird. "Wie gehts dir?" ist schon fast zur Floskel geworden. Entscheident ist der Raum, in dem so eine Frage schwingen und klingen und dann vielleicht auch irgendwie beantwortet werden kann. Will der Andere wirklich wissen, wie es mir geht? Haben wir dafür Raum und Zeit? Bin ich in der Lage etwas dazu zu sagen? Welche Worte finden sich, wenn der Raum geöffnet und geschützt ist, wenn Vertrauen da ist? Und, wenn "der Andere" echt wissen will, was mit mir los ist - was ich ja selber oft nicht weiss...

Ja, und Johann erschien mir tatsächlich ein wenig in sich selber erstarrt zu sein - und ich wollte ihm ein wenig Luft verschaffen...

Und, offensichtlich ist das ja auch irgendwie gelungen.

Noch einmal, herzlichen Dank für deine Kommentare!
Sophie

Anonym hat gesagt…

Immer wieder informativ!