26.07.2007

"Jetzt" heisst: über die Hände hinaus

(Fragment. Anläßlich eines Vortrags in Tennental)
Sprache ist wie Wasser. Sprache wartet Jahrhunderte lang geduldig in tiefen Erdschichten, liegt Kilometer dick gefroren an den Polen unserer Kultur, springt von der Oberfläche auf, verdampft in der Wärme und steigt auf in Lieder, spiegelt das Licht, lässt das Dunkle durchschimmern, wendet sich in der Werbung leicht nach links und gleich danach leicht nach rechts, spritzt in Fontänen aufwärts, fällt als Regen nach unten, strömt in großen Erzählungen aus in den Ozean. Sprache bewahrt, wartet, erdrosselt, vernichtet, schleift, spiegelt, reinigt, befriedigt, befruchtet, befreit.
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Sprache ist zu Hause in allen Kategorien der Zeit: in der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Im Hinleben zum Tode beleuchtet sie düstere Ängste in uns; hingegeben an die anhaltende Geburtlichkeit, macht sie Glaube, Hoffnung und Liebe bemerkbar. In ihrer Grammatik ist Sprache treu und fast unveränderbar, in ihrem Idiom behaltend und kreativ, in ihren Klängen zugleich urig und spielerisch; und in der Semantik umfängt sie die Spannweite zwischen alten Weisheiten und neuen Wahrnehmungen.
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Nimm das Wort „ jetzt“. Für uns bedeutet „jetzt“ so etwas wie: in diesem Moment, dieser Mittwochabend, neunzehn Minuten nach acht… Ich rede „jetzt“ und ihr hört „jetzt“ zu. In unserer modernen Vorstellung schiebt die Zeit „jetzt“ immer weiter: Erst ist „jetzt“ neunzehn Minuten nach acht und kurz darauf ist „jetzt“ zwanzig Minuten nach acht. Der Inhalt vom „jetzt“ besteht aus dem, was die Wirklichkeit um – inzwischen fast – einundzwanzig Minuten nach acht anzubieten hat. Das „jetzt“ von neunzehn Minuten nach acht ist inzwischen kein „jetzt“ mehr, sondern „Vergangenes“. Durch unsere Erinnerung aber können wir das „jetzt“ von neunzehn Minuten nach acht zum Inhalt vom „jetzt“ von einundzwanzig Minuten nach acht machen.
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Jetzt heisst "Nu", auf Deutsch noch in: "im Nu". Etymologisch ist das Wort „Nu“ verwand mit dem Wort „neu “ – im Lateinischen neo, im Englischen new, im Holländischen „nu“. Dieses Wort ist hiernach verwand mit dem Zählwort „neun“ – Latein novem, Englisch nine und Holländisch negen. Irgendwann müssen Menschen die Vorstellung gehabt haben, dass die Zahl neun eine Art von „Sprung“ bedeutete, eine „neue“ Reihe anfing, eine andere Wirklichkeit sich öffnete. Mit der Zahl acht hörte etwas auf und mit der Zahl neun fing etwas Neues an. Das Wort acht heißt im Lateinischen octo, im Englischen eight und bedeutete ursprünglich „die zwei mal vier Fingerspitzen“, womit die Finger der beiden Hände gemeint waren, die Daumen ausgeschlossen. „Acht“ bedeutete so etwas wie: die Überschreitung der Grenze vom Beendeten ins Unvollendete, ein Schritt in eine Wirklichkeit, die die Möglichkeiten des gewordenen Menschen überschreitet.
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Irgendwann müssen die Menschen die „Dinge“ – zum Beispiel die Hände – als Bilder der Wirklichkeit aufgefasst haben. Hände waren nicht nur nützliche physische Instrumente, sondern auch Bedeutungshorizonte, die wie Fenster verstanden wurden, wodurch das Leben „angeschaut“ wurde. Um klar zu machen was ich meine: das Wort „Tumult“ ist ursprünglich verwandt mit „Daumen“ – der kräftige Außenstehende, eben der Finger, der kein Teil der gewordenen zweiteiligen Achtheit ist und deswegen Unruhe verursacht. Das, was Unruhe im Leben verursacht, ist mit dem Bilde des Daumens zu verstehen. Und das, was „neu“ ist im Leben und in dem „jetzt“ erscheint, kann verstanden werden als eine Wirklichkeit, die die Möglichkeiten der beiden Hände übersteigt.
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Hinter dem Wörtchen „jetzt“ schlummert eben ein Bild, nämlich das der Hände. Hinter den Worten, die wir jeden Tag wieder benutzen, liegen Bilder gespeichert, worüber wir uns in der Regel nicht bewusst sind. Je tiefer wir mit dem Spaten der Etymologie graben, umso öfter stoßen wir auf Bilder. Und wie bei der Archäologie: nach sorgfältigem Säubern mit einem Pinsel, bleiben wunderschöne und dichterische Bedeutungen übrig, von denen wir nicht wissen, was damit zu tun ist. Das Wort „Ding“ zum Beispiel bedeutete irgendwann „Zusammenziehung“: etwas war weit und peripher und luftig, zog sich nachträglich zusammen und wurde ein „Ding“. (Auch eine Zusammenkunft von Menschen wurde ein „Ding“ genannt.) Und ein „gebeurtenis“ – noch immer leicht zu sehen – ist etwas, was „geboren“ wird. Das heißt: sichtbar erscheint (verwand mit “eine Gebärde“ machen).
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Bedeutend für diese ursprünglichen (Ur-Sprung) Bilder ist, dass sie einen Prozess ausdrücken: die Bedeutungen sind nicht statisch und einseitig ausgeschnitten, wie Klötze in einer Klotzschachtel; sie lassen sich am Besten mit dem Wort „Mythos“ beschreiben. In jedem Mythos, groß oder klein, werden Herkunft und Zukunft aufeinander bezogen, wobei der Mythos selber als aktuelle Erzählung das „jetzt“ ist. Die Erzählzeit und die erzählte Zeit fallen zusammen in das „jetzt“, das dadurch zu Betroffenheit führt, oder mit Aristoteles: zu Katharsis.
(Mit dank an Birgitt Kähler und Michael Dackweiler)

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