Frau mit hohen schwarzen Hut in den Anden
Der Bus stoppt bei einem Gehöft, dessen Name ich nicht mehr weiß. Ich steige aus, fest entschlossen, einen Kaffee zu trinken, wo auch immer, wie auch immer. Ich schaue mich um, auf der Suche nach etwas, das einer Bar ähnlich sieht. Die breite Straße, die eigentlich kaum eine Straße ist, sondern ein Streifen freigehaltenen Landes mit Häusern daneben, ist völlig leer. Kein Mensch ist zu sehen. Das einzige deutliche Zeichen, das ich sehe, ist ein Schild mit dem Wort »téléfonica«. Ich laufe 50 Meter weiter bis zur nächsten Straßenecke und sehe, dass von diesem Punkt aus ein schmaler Pfad auf die Hochebene hinaufführt. Links und rechts des Pfades ziehen sich niedrige Mäuerchen hin, die etwas einschließen, das ich, ohne nachzudenken, als »Gärtchen« bezeichne. Doch in diesen Gärtchen ist nichts zu finden, kein Gemüse, keine Obstbäume, nichts.
Während ich mich vergeblich frage, was das eigentlich ist, was ich da sehe, kommt gemächlich eine alte Frau mit einem hohen schwarzen Hut auf mich zu. Die Art, wie sie läuft, trifft mich. Ich bemerke, dass unwillkürlich das Wort »langsam« in mir aufsteigt, doch eigentlich sollte ich lieber sagen »nicht schnell«, oder noch besser: mit einer Geschwindigkeit, die »richtig« ist. Sie wird, indem sie läuft, nicht von etwas angetrieben, das hinter oder vor ihr liegt, sondern von etwas, das mit dem zusammenfällt, was sie in diesem Moment ist, nämlich eine in sich selbst versunkene Frau. Sie läuft so, wie ein Baum steht. Ihr Hut erinnert aus der Ferne einen Augenblick lang an die Hüte auf manchen Gemälden Rembrandts und macht sie für einen kurzen Moment zu einer Regentin, die sie gar nicht ist, denn sie ist eine Bäuerin.
Erst als sie sich mir bis auf einige Meter genähert hat, blickt sie auf – ich sehe ihre großen braunen Augen – und lässt erkennen, dass ich für sie existiere. Sie nickt. Und ich nicke. Ihr Nicken und meines bilden zusammen ebenfalls ein Nicken, welches die weite Hochebene um uns wie eine Sperrholzplatte zum Brechen bringt. Die Mäuerchen mit den Gärten und die Ebene dahinter sind verschwunden und haben Platz gemacht für die Frau und mich. Ich habe das eigenartige Gefühl, dass ich in ein Geschehen hineingezogen werde, das mir ausgesprochen ungewöhnlich erscheint, ohne dass ich verstehe warum. Denn um was sonst sollte es sich handeln als um zwei Menschen, die einander auf einem Pfad begegnen?
Ich frage sie, ob es hier irgendwo einen Kaffee gibt. Sie schaut mich an und lacht. Und ich denke, dass sie denkt: Aha, ein Gringo auf der Suche nach Kaffee! Sie schüttelt den Kopf und macht eine weit ausladende Geste, die nach meinem Gefühl auf das 50 Kilometer entfernt gelegene Cuzco deutet. Als ich mit gespieltem Unglauben reagiere, deutet sie nach unten, auf das Haus an der Straßenecke, vor dem ich gerade stand. Die offene Tür dieses Hauses ist gerade noch erkennbar. »Ven conmigo«, sagt sie, »komm mit …« In ihrem bedächtigen Tempo gehen wir die Straße hinab, ein verwirrter Gringo, der auf einmal keine Eile mehr hat und überhaupt nicht mehr an Kaffee denkt, und eine alte Frau mit einem hohen Hut.
50 Meter vor der Straßenecke bleibt sie kurz stehen und geht in ein Gärtchen, in dem plötzlich Hühner scharren. Hühner? Ich dachte doch wirklich, dass ich in jeden Garten geschaut hatte, doch Hühner hatte ich nirgends gesehen und auch das Gackern nicht gehört, das jetzt hell und deutlich meine Ohren erreicht. Die Frau schlurft zwischen den Hühnern umher und zählt: uno, dos, tres, cuatro … Während sie so zählt, sehe ich, dass das Rückenteil ihrer Jacke ein paar sorgfältig gestopfte Löcher aufweist. Ich habe das Gefühl, dass ich etwas sehe, was ich nicht sehen soll, und wende meinen Blick ab. Ein tiefes Gefühl der Scham überfällt mich: Ich hätte die Jacke schon zehnmal weggeworfen … Und später werde ich in mein Notizbuch schreiben: »Das Rückenteil der Jacke der Frau zeigt ein ganzes Leben, das sorgfältig von ihrer Willenskraft zusammengehalten wird.«
Sie dreht sich um, macht wiederum eine ausladende Geste – als ob da mindestens hunderttausend Hühner wären – und sagt: »Todos los pollos están aquí«, alle Hühner sind da. Ich werfe einen flüchtigen Blick auf die Tiere und schätze, dass es sich um nicht mehr als zehn Hühner handelt. Als ich sie frage, ob es ihre Hühner sind, sagt sie: »Nein, sie gehören meiner Familie. Die meisten meiner Kinder und Enkelkinder wohnen in Lima.«
Das Haus an der Ecke erweist sich tatsächlich als die örtliche Bar, nach der ich gesucht habe. Von außen ist davon allerdings nichts zu erkennen, jedenfalls nicht für mich. Erst als ich die Schwelle überschreite, sehe ich dort Tische und Stühle. Die Frau steht noch in der Türöffnung, als sie sagt: »Kein Kaffee, vielleicht aber Nescafé.« Und dann, in feierlichem Ton, wie zum Abschied: »Ich hoffe, dass unser Land Ihnen gefällt.« Als ich sie in meiner Verwirrung zu einem Nescafé einlade, schüttelt sie entschieden den Kopf und verschwindet.
Während ich sie fragte, wusste ich bereits, dass diese Einladung unpassend war. Für sie keinen Kaffee, und außerdem: War nicht das Wichtigste bereits ohne Worte gesagt worden?
3 Kommentare:
Lieber Jelle,
dank Dir für die Geschichte, sie lädt ein zum wohltuenden Innehalten!
Gruß
Michael
Diese Frau ist Regentin - Regentin ihrer Selbst. Oder besser: Regentin ihres Selbst. Sie trägt den Hut auch nicht, sondern hat ihn in sich. Das ist der Unterschied von 'Tracht' zur 'Mode': Verkörperung eines kulturellen Ichs, das aus dem Bewußtsein und nicht aus der Verheißung heraus getragen wird. Darum- und die Stelle ist gut - darum geht sie wie ein Baum steht.
Das Leben in der geflickten Jacke kann sehr überzeugen, allerdings halten Flicken nichts zusammen. Menschen die Flicken aufsetzen, betonen die Löchrigkeit, die Fadenscheinigkeit eines Textils vielmehr. Flicken - die Tätigkeit des Flickens wie das Stück Stoff 'Flicken' - bilden Lebenssedimente aus und dienen der Leiberweiterung. Königliche Roben erweiterten den Leib der Menschen, indem sie eine funktionale Überfülle von Stoff (Schleppen) um die Nobiltierten legen. Bäuerliche Jacken erweitern den Leib der Menschen, indem sie Flickenschichten um den (von Arbeit) Nobilitierten legen.
Das heißt: Der Hut steckt im Detail.
Viele Grüße
Heidi Helmhold
Lieber Jelle,
Unerwartet, aber schon erwartet, deines Erscheinen auf dem Netz. Hoffe, dass du noch viele Nu's beschreiben werdest.
herzlich, nard
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