30.04.2011

Versuch zu einer adamitischen Sprache. Über eine Freundin

Sie ist eine Freundin. Ihre ganze Art ist fest und gleichzeitig weich. Ihre Natur ist von einer Qualität geprägt, die Joseph Beuys dem Fett zuschreibt: Sie bewahrt, ruht in sich selber, ist nicht so sehr an einer Form interessiert, sondern an Masse und Tiefe.

Die Dauer der Zeit liegt ihr offen in ihrer Langsamkeit. Für Gespräche nimmt sie sich Zeit, viel Zeit, die sie auch hat. Sie sitzt dann fast unbeweglich auf einem Sofa, hört mit großen Ohren zu, spricht eine Sprache ohne Hast und Druck, ist bei jedem Wort, bei jedem Gedanken voll dabei, bewegt sich innerlich wie der große Saturn in weiten Kreisen, alles umfassend, alles tragend, alles in eine Breite und eine Tiefe ziehend.

Stille Momente, auch wenn sie länger dauern, sind ihr nicht unangenehm, ganz im Gegenteil: Sie meint, dass es so etwas wie eine sinnlose Leere nicht gibt oder eben überhaupt nicht geben könnte.

Ihr Wohnzimmer ist ein Ort-zum-Sein. Alle Gegenstände stehen an der richtigen Stelle, kommen einander nicht zu nah, stören nicht, sprechen nicht zu laut, sind nicht zum Schweigen verdammt. Für die Blumenvasen (die es immer reichlich gibt), die Kerzenständer, die sanften Kissen und eben die Bücher, die sie gerade liest – sie liest immer etwas, ist immer in ein Thema versunken – findet sie die richtige Stelle, ohne darüber nachdenken zu müssen.

Sie mag Fragen, weil sie Antworten mag. Um die Frage zu stellen, mit der sie gerade lebt, nimmt sie sich viel Zeit. Sie führt aus, bezieht sich auf die Vergangenheit, erwähnt vielleicht relevante Autoren, ohne sie zu zitieren, weil sie immer in umfassenden Zusammenhängen denkt, bewegt sich tastend vorwärts, bis die Frage-als-Frage einwandfrei im Raum erscheint.

Eigentlich stellt sie die Frage nicht, sie kreiert eine stimmige Umgebung, die EINE stimmige Umgebung. Sie nimmt sich die Zeit, um die Frage im Hier und Jetzt entstehen zu lassen. Auch wenn sie dazu Sachen erzählen muss, die schon längst bekannt sind, wiederholt sie in aller Ruhe die Details, als ob sie noch nicht bekannt gewesen wären.

Und wenn die Frage letztendlich erscheint, sieht sie wie ein weißer Schwan aus. (Ist der lange Hals des Schwans nicht reine Frage?) Und interessant: Wenn umgekehrt ihr jemand eine Frage stellt, hält sie inne, schaut auf die Regungen, die spiegelnd in ihrem Innersten erscheinen, wartet und wartet, bestimmt also das Tempo der Zeit, und versucht dann langsam die Frage in ihren Worten zu formulieren.

Sie will eine Meisterin der tragenden Tiefe sein. Nicht, dass sie keine Wut kennt. Ein aufkommender Ärger wird allerdings in ihrer Welt „verbuttert“, sie breitet sich verhalten in der inneren Masse aus, wirkt deswegen immer indirekt und wird gemäßigt aus allen Poren ihrer Seele fast anonym und atmosphärisch ausgeatmet.

Es wäre ein Fehler zu denken, dass dadurch ihr Ärger und ihre Wut weniger massiv wirken würden, ganz im Gegenteil, die mächtige Verhaltenheit erzeugt einen Schatten von einem enormen Kaliber. Selber merkt sie allerdings nicht, dass sie von dieser machtvollen Gestalt begleitet wird, die auf ihre Vertrauten und Kollegen manchmal erschreckend wirkt. Alle wissen: An dieser Stelle muss man bei ihr ein bisschen aufpassen.

6 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Wut und Zorn sind nicht dasselbe! Kennt die Sonne ihren Schatten auch nicht?

Michael Heinen-Anders hat gesagt…

Einige Versuche über die Ursprache hat es ja schon gegeben. Aber mehr als eine babylonische Verwirrung ist dabei nicht herausgekommen. Sicherlich ist das "denglish" (eine Kombination von deutschen und englischen Worten), welches in Industrie und Werbung schon beinahe durchgängig gesprochen wird, ein starker Trend zur Internationalisierung und Globalisierung der Sprache.
Für eine Rückbindung zu einer adamitischen Ursprache reicht dies aber nicht. Vielleicht ist es in der kommenden Kulturepoche, dem Wassermann-Zeitalter wieder soweit, dass alle - ganz selbstverständlich - die gleiche Sprache sprechen: wortmächtig und ausdrucksstark muss diese Sprache wohl sein, ganz so, wie Deine Freundin, Jelle, es wohl jetzt schon ist.

Herzlich,

Michael Heinen-Anders

Jelle van der Meulen hat gesagt…

Der Begriff "Adamitischer Sprache" stammt von Walter Benjamin. In einem Blogtext von 26.04.2010 habe ich darüber geschrieben.

Michael Heinen-Anders hat gesagt…

LYRIK KANN ALLES

Lyrik kann stahlhart sein - oder samtweich.
Sie kann realistisch oder romantisch sein.
Sie kann naturalistisch oder phantastisch sein.

Lyrik kann alles und jedes immer sein.
Selbst aus der härtesten Prosa wird
mit etwas Anstrengung noch ein Gedicht...

Lyrik kann adamitisch
oder lediglich hinlänglich sein.

LYRIK KANN ALLES.


(Michael Heinen-Anders)

Anonym hat gesagt…

Ich danke sehr für den Versuch, "adamitisch" zu schreiben.
Das ist ein sehr schöner Text geworden. Herzenssprache.

Ehrlich, beschreibend, tief, wahr.

Die adamitische Sprache hat es verdient wieder in unser Bewusstsein zu kommen.
Ich kenne den Sprachaufsatz von Walter Benjamin gut und habe mich immer wieder mit ihm beschäftigt - faszinierend.

Zu finden unter: www.sophiepannitschka.blogspot.com
21.5.2010, Pfingsten. Sprachliche Verwirrungen und Entwirrungen.

Auf einen adamitischen Sprachtag! Herzlich, Sophie

Anonym hat gesagt…

In tiefer Vebundenheit einen hellen Gruß an die neuen Adamiten!