06.05.2011

Brennende Reisepässe. Über die Aufgabe Deutschlands in veränderten Zeiten

Letzte Woche sagte mir ein Freund: „Innerlich habe ich meinen deutschen Reisepass schon längst verbrannt. Vom staatlichen Gebilde der deutschen Republik erwarte ich nichts mehr. Ich bin überzeugt, dass Deutschland als Nation seine Aufgabe verpasst hat.“ Als ich nachfragte, machte mein Freund einen Unterschied zwischen dem Staat und dem Kulturkreis Deutschlands. „Wenn es zum Beispiel um den deutschen Idealismus geht“, so meinte er, „bin ich noch immer voll dabei.“

Wie kam mein Freund zu dieser heftigen Aussage? Ich hatte von der historischen Entwicklung Europas gesprochen, und dabei vor allem auf die Süd-Nord-Achse hingewiesen: Im Süden gab es die alten Griechen, die die philosophische Reflexion, die zu den tragenden Ideen Europas führte, gebracht hatten. Diese Bewegung vom Süden aus, gipfelte in der Renaissance und der Aufklärung. Manchmal wird das moderne Europa als ein Ergebnis dieser historischen Entwicklung verstanden.

Es gab allerdings auch eine Bewegung, die vom Norden ausging. Sie drückte sich zum Beispiel in der schwindelerregenden Wirkung der Wikinger aus, die – anders als die Griechen – nie eine große Philosophie hervor zauberten. Die alten nordischen Mysterien, die übrigens relativ spät ihre Götterdämmerung erlebten, waren komplett anders gepolt. Dort ging es vor allen um die Verwandlung von Wut in Zorn, und um ein dementsprechendes Handeln. Ohne die Wikinger, so sagte ich, wäre das heutige Europa nicht entstanden.

Und so kam ich auf Deutschland zu sprechen, das zum Herzen Europas gehört. In der Spannung zwischen dem Norden und dem Süden hat aus meiner Sicht, der deutsche Kulturkreis eine ausgleichende Aufgabe, die im Grunde genommen beide Pole vereinigt. Und ich denke, dass diese Aufgabe bis heute aktuell ist: Nur augenscheinlich liegt die Spannung zwischen Nord und Süd in einer historischen Vergangenheit. Unter der Decke der Geschichte ist sie aber noch immer wirksam.

Ich sagte in dem Gespräch, dass Deutschland und die Deutschen in Bezug auf die ausgleichende Aufgabe vor allem seit dem Holocaust stark verunsichert sind. Mit dieser Verunsicherung geht allerdings eine Stimmung einher, „a mood of the country“, die ich – gerade weil ich Holländer bin? – immer wieder spüre, und die für mein Empfinden auch eine Hoffnung in sich birgt.

Ich würde diese Stimmung als ernsthaft, betroffen und nachdenklich beschreiben. Was die ganze Welt im Moment als „German Angst“ wahrnimmt, bedeutet nicht nur Lähmung, sondern auch ein positives Innehalten, eine Art innere Neuorientierung, die sich allerdings in den tieferen Schichten des Bewusstseins vollzieht.

Das postmoderne Europa ringt zurzeit mit großen Fragen, die direkt mit „aufgeklärten“ Kernideen zusammenhängen, die gerade nicht geklärt sind. Das ideelle Gefüge von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit (mein Freund sprach von „Geschwisterlichkeit“) droht auseinander zu fallen, weil die widersprüchlichen Lügen mittlerweile unerträglich geworden sind.

Ich behaupte, dass von allen Ländern in Europa gerade Deutschland sich weigert, ich müsste natürlich schreiben: noch verweigert, sich dem Populismus zuzuwenden. Um ein Wort zu benützen, das Nietzsche so gerne mochte: „vielleicht“ findet Deutschland in seinem Innehalten eine Tür ins Innere und Offene... Die Flammen der Reisepässe würden dann die Überschreitung einer neuen Schwelle ermöglichen. Es ist spannend in Deutschland zu leben.

4 Kommentare:

Michael Heinen-Anders hat gesagt…

Lieber Jelle,

meinen Reisepass habe ich nicht verbrannt, aber er ist - gewissermassen 'en passent' - lange Jahre unbenutzt, mittlerweile abgelaufen. Die letzten europäischen Länder, die ich noch besuchte waren Italien und Österreich.
Davor war ich viel in Frankreich und Griechenland und gelegentlich auch in den Niederlanden. England und der Türkei habe ich in meinem Leben jeweils nur einen einzigen Besuch abgestattet.
Der Norden, also die skandinavischen Länder, blieben auf meinen Reisen unberührt, obwohl ich
z.B. Astrid Lindgren und Olof Palme sehr schätzte.
Meine älteste Tochter wuchs mit den Kinder- und Jugendbüchern von Astrid Lindgren auf und schrieb ihr eines Tages ohne die genaue Anschrift der Jugenbuchautorin zu wissen, einen Brief.
Total perplex war sie aber, als sie einige Wochen später tatsächlich eine persönliche Antwort erhielt.
Astrid Lindgren, Schweden, reichte als Anschrift also offensichtlich aus, denn in Schweden war die rührige alte Dame mindestestens ebenso populär wie Olof Palme.
Von beiden gingen entscheidende Impulse aus. Ich würde fast wetten, dass ohne die Kreation der Figur der Pippi Langstrumpf, 1968 und die darauf folgende Alternativbewegung gar nicht stattgefunden hätten.
In Griechenland begegnete ich den großartigen Chansons von Mikis Theodorakis - und auch er ist m.W. noch immer ein weltweit angesehener kultureller Botschafter.
Wenn ich aber gefragt werde, welche
deutschsprachigen kulturellen Botschafter mir einfallen, dann muß ich gleich an Jürgen Habermas, an Peter Sloterdijk und an Hans Georg Gadamer denken, wobei letzterer bereits verstorben ist. Unter den Politikern fallen mir auch nur Willy Brandt und Helmut Schmidt ein, die beide im Alter ins philosophische tendier(t)en.
Ist Deutschland also noch immer das Land der Dichter und Denker?
Ich hoffe schon, schließlich genießt auch das Werk so manches deutschen Schrifstellers und Dichters der Gegenwart hohes Ansehen. Ich will da nur beispielhaft einmal Hans Magnus Enzensberger und Erich Fried nennen.
Vielleicht ist ja Mitteleuropa doch noch nicht verloren...

Herzlich,

Michael Heinen-Anders

Anonym hat gesagt…

Dem deutschen Volk
(1841)

Deutschland, o zerrissen Herz,
Das zu Ende bald geschlagen,
Nur um dich noch will ich klagen
Und in einer Brust von Erz

Schweigend meinen kleinen Schmerz,
Meinen kleinen Jammer tragen,
Vaterland, um dich nur klagen.

Lustig grünt dein Nadelholz,
Lustig rauschen deine Eichen;

In den neununddreißig Reichen
Fehlt ein einzig Körnchen Golds:
Freier Bürger hoher Stolz
Fehlt im Lande sondergleichen,
In den neununddreißig Reichen.

Wenn ein Sänger für dich focht,
Wenn ein Mann ein Schwert geschwungen,
Hast du scheu nur mitgesungen,
Hast du schüchtern mitgepocht;
Und man hat dich unterjocht,

Hat dich in den Staub gezwungen,
Weil du gar so still gesungen.

Ihr beweinet's und bereut's -
Und das nennt ihr deutsche Treue?
Laßt die Tränen, laßt die Reue,

Soll nicht einst der Enkel Teuts
Sterben an der Zwietracht Kreuz,
Kämpf und handle, Volk, aufs neue,
Denn der Teufel ist die Reue!

(Georg Herwegh
1817 - 1875)

Anonym hat gesagt…

Fado

Wie so flüchtet der Mensch freiwillig
unwissend
im Exil der Verfremdung,
wenn die Realität
ihm nicht mehr umfasst,
wenn die Wahrheit nicht
zum wahr haben wollen
geworden ist?

Wie so ist der Sinn der Gedanken
geflogen
im Exil der Verlogenheit,
wenn das Gefühl
ihm nicht mehr passt,
wenn die Sprache nicht
zum Sprechen der Sprachlosigkeit
geworden ist?

Wie so findet nur der Fremdling
den Zuflucht zu mir,
wenn ich mich selber hin
verschlossen bin,
wenn ich selber nicht länger
den eisern Schlüssel
find´?

Wie so ist der Weg zu meinem Herzen
wie einen Fado,
wie saudade,
wenn er aus der Ferne sich
die Erinnerung nähert,
wenn er lacht wie eine Träne
in dem er sie besingt?

Huub

14 Mai 2011

Anonym hat gesagt…

Deutschland ist wieder Europas Riese. Es scheint mir kein guter Riese zu sein, der sich da erhebt. Rechtsextreme oder zumindest rechtspopulistische Anschauungen sind, wie alle Untersuchungen bestätigen, auf dem Vormarsch. Die Kinderarmut wächst. Die Schere zwischen arm und reich geht immer weiter auseinander, soziale Leistungen werden konsequent gekürzt. Eiskaltes neoliberales Gedankengut breitet sich aus. Wir haben praktisch kein Asylrecht mehr. Halbwegs ordentliche Gesundheitsfürsorge wird bald ein Vorrecht der Wohlhabenden sein. Ich erlebe als soziale Tätiger schmerzlich, wie die übervollen Kassen immer weniger hergeben für Bedürftige. Ähnliche Tendenzen gibt es auch in anderen Ländern, aber der Riese Deutschland gehört zu den Vorreitern des Marschs in den neuen Kapitalismus/
Sozialdarwinismus. Der plötzliche Gesinnungswandel betr. Kernkraft ist rein wahltaktisch zu verstehen. Das gilt auch für die (relative)Zurückhaltung der Deutschen bei Kriegseinsätzen.
Wenigstens dies gibt zu hoffen: Man glaubt, weder Kernkraft noch dreisten Militarismus "politisch durchsetzen" zu können. Ist also doch wieder eine Bevölkerung da, die sich nicht endlos vera... lässt? Man wird sehen. Ich bin nicht besonders optimistisch, was "unser" Land betrifft. Übrigens auch in kultureller Hinsicht nicht. Man sehe sich mal die Bestsellerlisten an ...
Das Schicksal hat micht in diesen Sprachraum, Kulturraum, dieses Deutschland gestellt. Deshalb bin ich auch hier geblieben. (Es hätte andere Möglichkeiten gegeben.) Zufälle gibt es schon, aber dies ist wohl keiner. Umso wichtiger erscheint es mir, gerade hier, in meiner Heimat, auf Werte zu pochen, die nichts mit Nationen zu tun haben, sondern mit Menschen, wo immer sie leben. Ich bin nicht stolz, Deutscher zu sein. Dazu besteht nun wirklich kein Grund. Ich bin stolz, Freunde und Bekannte zu haben, die sich bemühen, Menschlichkeit vorzuleben. Ob sie nun Deutsche, Holländer, Ungarn, Amerikaner, Schweden, Schweizer, Franzosen Israelis, Japaner, Iraner, Christen, Moslems, Juden, Buddhisten, Bahais, Atheisten oder sonstwas sind. Das sage ich als jemand, der sich tief im Christentum verwurzelt weiß.