Nochmals über das Lauschen. Hat die Konferenz schon angefangen?
Ich bleibe auch in dieser Woche beim Lauschen. Was höre ich im neuen Jahr? Welche Stimmen klingen in mir? Was steigt bei meinem Lauschen aus dem Ozean der Sehnsüchte hoch, was will verdichtet werden zum Vorsatz und zu einer Entscheidung? Welche Weichen wollen gestellt, welche Bestimmungen erreicht, welche Fäden geknüpft werden? Wohin geht die Reise im Morgenland?
Auf Spanisch spricht man von „Levante“, dem Osten, dem Bereich des Himmels, wo sich die Sonne „hebt“. Wenn man auf die Levante schaut, sich auf sie orientiert (Orient: der Osten) richtet man sich auf die Dinge, die im Kommen sind. Mit dem Ansteigen der Sonne werden die Schatten zwar kleiner, sie schrumpfen, ziehen sich quasi in die Gegenstände zurück, verschärfen und vertiefen sich allerdings auch. In den Osten zu blicken bedeutet innerlich: auf „Ostern“ zu zugehen, auf Tod und Auferstehung.
Was höre ich? Es gibt Stimmen in mir, die von der Vergangenheit sprechen. Sie erzählen von Ereignissen, an denen ich beteiligt war, und die aus irgendeinem Grund nicht ad acta gelegt werden können. Sie erscheinen allerdings traumhaft und in einem neuen Licht, das sie leichter und überschaubar macht. Die zarten Erzählungen betreffen zwar schmerzhafte Vorfälle, sind aber getragen von einem sanften Willen zur Versöhnung. Ihre behutsamen Beschreibungen wecken in mir ein Verlangen zum Verzeihen.
Gleichzeitig erzeugen sie Angst, Unsicherheit, Zweifel... Eine Stimme sagt mir, dass ich die Vergangenheit in Ruhe lassen soll, ich habe mich doch damals richtig bemüht, ja eben verausgabt, um den Ansprüchen gerecht zu werden, um mich mit den Beteiligten auseinanderzusetzten, um die hohen Ziele zumindest halbwegs zu erreichen? Mir im Nachhinein einen Vorwurf zu machen, so besagt die Stimme, würde heißen, dass ich mich selbst nicht respektiere.
Ich verstehe diese Stimme. Aber eine andere Stimme verstehe ich allerdings auch: Sie weist mich leise darauf hin, dass es gar nicht um mich geht, gar nicht um die Frage geht, ob ich „richtig“ gehandelt habe, sondern darum, ob ich heute, nach so vielen Jahren, einen neuen Blick auf die Vergangenheit werfen, neue Erkenntnisse haben, mich auf neue Stimmungen einlassen kann. Die Frage der Richtigkeit, sagt diese Stimme, bezieht sich nicht auf die Vergangenheit, sondern auf die Gegenwart.
Diese Stimme will nicht überzeugen. Sie sagt einfach, was sie zu sagen hat, und ist in eine freilassende Stimmung eingebettet, die vielleicht noch am besten mit dem Adjektiv „wohlwollend“ anzudeuten ist. Sie will zwar etwas von mir, überlässt mir allerdings das Wollen. Und seltsam: würde ich nicht wollen, was sie will, findet sie dies auch in Ordnung. Sie würde sich nicht einmal von mir abwenden.
Dann gibt es in mir Stimmen, die sich auf heute und morgen und übermorgen und das ganze kommende Jahr richten. Sie verwirren mich, sind schwer einzuordnen, kommen nicht aus einem Zentrum, das ich lokalisieren könnte, sondern bewegen sich aus einer „levantischen“ Peripherie auf mich zu. Sie beziehen sich auf konkrete Sachen: auf Freunde und Feinde, auf versöhnende Worte und öffnende Aussagen, auf Treffen auch, irgendwann und irgendwo, die nur dann stattfinden werden, wenn ich das will.
Vielleicht könnte ich es am besten so sagen: die Stimmen aus der Peripherie versuchen offenbar ein Licht auf die Möglichkeiten zu werfen. Was wäre, wenn ich Freund X, Feind Y und Weggefährte Z zu einem Gespräch einladen würde, um gemeinsam auf Vergangenes zu blicken? Was könnte ich dann, von Angesicht zu Angesicht, ihr oder ihm sagen? Wie könnte ich mich entschuldigen, wie könnte ich sie oder ihn erreichen, welche konkreten Worte könnten ausgesprochen werden?
Und durch diese Annäherung findet das Treffen eigentlich schon statt, zwar in mir, – dort, wo ich bei mir und bei dir bin - vielleicht allerdings somit auch schon in dir? Vielleicht lauschst Du schon längst mit, in dieser inneren Welt der Stimmen? Vielleicht schaust du, genau wie ich, auf diese verwirrenden und verlockenden Möglichkeiten, auf diese potentiellen Annäherungen, die nicht mehr potentiell sind, sobald wir sie annehmen und aufnehmen und ernst nehmen? Hat die Konferenz, das Konzil, das Treffen schon begonnen? Vielleicht rede ich schon in dir und du in mir.
Lebendige Vergangenheit bezieht sich immer auf lebendige Zukunft. Im inneren Lauschen gibt es keinen Unterschied zwischen Vergangenem und Kommendem. Im geistigen Raum der inneren Nähe gibt es nur eine Wirklichkeit, die der Gegenwart. Sich vertrauensvoll aus diesem aktuellen Lauschen zu Vorsätzen und Entscheidungen vorzutasten, bedeutet im Grunde genommen: Sich als souveräne Hoheit in das kommende Jahr hineinzubegeben. Das Jahr und ich: wir wollen auseinander hervorgehen.
10 Kommentare:
VOM MYSTERIUM DER STIMMEN
Wenn die Stimmen zu
flüstern beginnen,
so ist das nicht
bloß krankhaft.
Stimmen die
lauschen, die lallen,
die fallen.
Stimmen die
aufstehn, die weitergehn,
die weggehn.
Und dann noch
die innerste Stimme,
die mich mahnt,
die Dich ahnt,
die mich nachdenklich
werden lässt.
Fehler sind menschlich,
sind verzeihlich,
unsere Stimmen
sind es auch.
(Michael Heinen-Anders)
Immer während
Der Augenblick,
in Achtsamkeit erfasst
erschliesst sie immer wieder neu,
die Quelle
eigener Ich - Aktivierung
Lauschend auf das Du hin,
eigene Vorstellungsraster überwindend,
vernimmst Du das Raunen
eigener Möglichkeiten,
trittst Du Dir selber -
Neuland Wanderer,
entgegen!
Und erwachend
pulsen
vorher ungeahnte Kräfte in Dir,
senken sich
als stille Wegweisung
innerer Befreiung
ein in Deine Schrittgebärden.
Angekommen bei Dir,
um erneut tiefer Dir entgegen zu gehen,
von Augenblick zu Augenblick!
© Bernhard Albrecht
Ja, was bedeutet Lauschen für mich? Meine Russische Freundin Marina sagte das letztes Mal zu mir: “Die Warheit entsteht im Gespräch, wie man in Russland sagt.” Jetzt bin ich mit Jelle im Gespräch. Er spricht über Lauschen, Stimmen aus der Vergangenheit, und wie er sich einstellt auf das Kommende. Auch spricht er über seine Verwirrung und konfliktierende Emotionen. Das alles erkenne ich. Es gab sogar einen Moment als ich dachte er spricht über mich.
Lauschen ist für mich: die oberflächliche Gedankenfluss zum Schweigen bringen. Damit ich meine erste Gedanken hören kann. Diese Gedanken sind nicht die Gedanken der Ratio. Und man hört sie nich so oft. Das erfordert dass ich eigentlich keine Fragen habe. Das ich vollkommen offen bin. Es sind auch nicht nur Gedanken, es können auch Bilder sein, oder Musik. Alles was aus einer Urtiefe quellt.
Diese Gedanken sind immer neu und frisch, und sie bringen die Verwirrung, die konfliktierende Emotionen zum Schweigen. Sie lassen die Vergangenheit hinter sich. Sie öffnen neue Horizonte.
Solch eine Stimme oder Gedanke hörte ich zweimal letzte Woche. Der eine sagte: “Blick auf den Jungen.” Der andere war ein Bild: Ich sah Jelle in meiner Küche auf der Schwelle zum Balkon. Er rauchte eine Zigarette und blickte nachdenklich in die Ferne.
Ich lese jetzt die Memorien eines Mannes der als Junge Tolstoj als Lehrer hatte. Er war ein einfacher Bauernjunge, Vasili Morozov. Er hat sein Lehrer sehr geliebt, weil Tolstoj ihn eine ungewöhnliche Begeisterung und Lebensfreude gelehrt hatte. Zum Beispiel zusammen Schlitten im Schnee. Lernen ist Spielen, und nicht umgekehrt.
Ja Jelle, die Konferenz hat schon angefangen!
Für diejenigen die Niederländisch lesen: die Memorien von Vasili Morozov kann man lesen im Internet:
Tolstoj als pedagoog, cahier 5. Herinneringen van een leerling.
http://www.kohnstamm.info/dolphkohnstamm/tolstoj-als-pedagoog.htm
Lauschen...
Gedanken bändigen, das Kreisen um und in Gedankenverknüpfungen zur Ruhe bringen. Wie Ebbe und Flut die Wellen kommen und gehen lassen. Sich gleich den Wellen in Einklang versetzen mit dem, was da kommt und geht. Den Sand eigener Interpretationen oder Einschätzungen des Gesagten zu Boden sinken lassen. Sich innerlich öffnen vom Gehörten Gesagten hinüber zum noch nicht Vernommenen. Eine Schwelle überschreiten. Warten. Neue Räume bereitstellen, Räume der Geduld. Das Gehört Gesagte als keimende Pflanzstätte erleben. ...
Worte sind Brutstätten des Lebens, wenn ich über das Gehört Gesagte bereit bin innerlich hinaus zu schreiten. Wenn ich bereit bin,
"mir etwas sagen zu lassen"
und nicht nur ein Gehörtes im Anflug gleichsam zum Abschmieren bringe, indem ich diesem mir im Hören Zufliegenden mein vorgestelltes Vorverständnis unmerklich überstülpe.
Lauschen...
Auf dem Acker innerer Stille ein Keimendes zu sich sprechen lassen. Ein Wachsendes Vernehmen. Erfahren, dass ich nichts weis und im Erfahren dieses Zustandes des Nicht Wissens geschliffen werde. Geöffnet werden für Botschaften des Lebens. Denn so Lebendes vertraut sich nur dem Ehrfürchtigen an, flieht vor dem, der nur nach Wissen heischt. Flieht vor dem leichtfüssigen Drängeln platten Vermeinens.
Lauschen fördert immer bisher Ungehörtes, oft auch Unerhörtes zu Tage. Mit dem Lauschen betrete ich eine Terra Ingognita.
Mit und in dem Lauschen wandere ich durch zwei Tore: Durch ein inneres Tor des Todes, mit dessen Durchreiten alle Vorstellungen verbrennen und ein zweites Tor, dem ich aus meinem Erfahren heraus hier den Namen Neuland-Tor geben will, denn, wer es durchschreitet, beginnt mit dem Herzen zu hören. Und damit kann er Neues erfahren in einem bisher nicht geahnten Sinne. Die vielleicht tiefgreifendste Erfahrung ist die langsame Selbstvergewisserung einer inneren Neugeburt, die mit dem Durchschreiten eines dritten Tores dann Willensherausforderung und Willensgewissheit wird.
Bernhard Albrecht
Ja, die Konferenz hat angefangen.. und genau in diesem Sinne:
Willkommen im gemeinsamen Feld.*
*Selbst da, wo wir gar nicht persönlich gemeint sind.
Für mich ist es ein soziales Phänomen.
Lieber Jelle, ich habe Dich ja nie selbst getroffen und dennoch triffst Du mich mit Deinen Gedanken und Empfindungen genau da an, wo es in mir beim lesen schwingt und resoniert. Dankeschön für alle Deine in Worte gefassten Erhellungen(und "Beschwingungen des Herzens")
Ein gutes neues Jahr allerseits!
Maria Becker
Es ist mehr als eine Konferenz. Es durchdringen sich Lebensfelder, Empfindungen, Gedanken, Sicherheiten, Ahnungen einer großen Veränderung.
Mit Erstaunen wurde erlebbar, wie Texte in einem anderen Blog dazu führten, die Seelen begegnen sich Nachts, tauschen sich bewußt aus. Eine neue Bewußtseinsenergie gelangt an die Oberfläche des Tages. Viele sind Zeuge, alte Strukturen brechen in sich zusammen, wenn der Mut der Seelen erstarkt.... .
Mut
Altes sucht seinen Abschied,
findet im Du
ein Sprachrohr,
das leise anmahnt -
Erinnerung.
Bist Du bereit,
Halt Gebendes
los zu lassen -
Dir selber entgegen zu gehen -
im Ich?
Bist Du bereit,
Deine Füsse zu setzen
auf das Meer,
das Wasser
alles durchdringender Erneuerungskraft?
Bist Du bereit,
nach innen lauschend,
die neuen Ufer zu sichten,
die darauf harren
von Dir betreten zu werden?
Du - Ich!
© Bernhard Albrecht
Lauschen
Nicht mehr reden,
denken,
tun.
Nichts mehr
wissen wollen,
fassen.
Sanft die Stille
nur erhalten.
Hände öffnen.
Lauschen.
Lassen.
Warten.
Alles,
was ich hier
erhalte,
will von selber
überfließen,
nicht bedenkend
festgehalten,
in das Leben
sich ergießen.
Ein Gefäß
sind leere Hände.
Eine Schale
ist das Sein.
Einz'ge Tat,
sanftes Tun
warten.
Lauschen.
Stille sein.
© Barbara Hauser
15.1.2011
Freundliche Grüße
Bernhard Albrecht hat mich auf dieses Blog aufmerksam gemacht.
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