30.01.2011

Die Dämmerung der Philosophie. Über den Fluss der Sprache

Leider können wir nicht in die Zeit der alten Griechen zurück. Ich sage ‚leider‘, weil ich gestehen muss, dass ich mich manchmal nach der unbefangenen Frische im Denken der alten griechischen Philosophen sehne. Auch heute noch, mehr als zweitausend Jahre später, wirken ihre Texte wie Früchte, die gerade gepflückt wurden und noch nass vom Tau sind. Ihre Worte scheinen noch unbelastet zu sein, die Begriffe frei von Krieg, die Schönheit unmittelbar erotisch.

Solon aus Athen (640 – ca. 560 v. Chr.) soll gesagt haben: „Die Rede sei durch Schweigen zu besiegen, das Schweigen aber durch die Zeit“. Auch heute noch zwingt uns diese Aussage dazu, frisch über die Phänomene des Redens, des Schweigens und der Zeit nachzusinnen. Irgendwie scheint das Rätsel eine Wahrheit zu beinhalten, die wir vielleicht nicht sofort denken können, trotzdem aber spüren. Eine Wahrheit macht sich bemerkbar, bevor wir sie wirklich begreifen.

Von Pittakos aus Mylene (ca. 650 - 570 v. Chr.) ist überliefert: „Bemaltes Holz ist der beste Schutz der Polis“, eine Aussage, die wie die von Solon als Rätsel gemeint war. Klar ist, dass der alte Weise über die Gesetze gesprochen hat, die in Athen auf Holztafeln verzeichnet und in den Straßen aufgestellt wurden. Rätselhaft ist allerdings, warum Pittakos nicht einfach von Gesetzen gesprochen, sondern auf das Holz verwiesen hat.

Und dann der Hammer von Thales aus Milet (erste Hälfte des 6. Jahrhunderts) : „Das älteste der Wesen sei Gott, der unerzeugte, das schönste sei die Welt, das Werk Gottes, das größte der Raum, der allumfassende, das schnellste der Geist, der alles durchdringe, das stärkste die Notwendigkeit, die alles beherrsche, das weiseste die Zeit, die alles erfinde“. Mit dieser Aussage, meinte Thales, wären alle möglichen Fragen über das Leben und die Welt beantwortet. Hinter den Worten ist allerdings ein Lächeln spürbar, vor allem auch, weil der letzte Teil der Aussage – „das weiseste ist die Zeit, die alles erfinde“ – rückwirkend das Ganze fast ironisch in Frage stellt. (Weil es nicht ganz ironisch ist, bleibt die Weisheit dabei.)

Von solchen Aussagen sind wir in der heutigen Zeit weit entfernt. Philosophen schreiben sehr komplizierte Bücher, Politiker machen geschmeidige Aussagen, Wissenschaftler überladen uns mit Ergebnissen von Untersuchungen, Journalisten veröffentlichen täglich Nachrichten und vor allem auch Kommentare, Wikileaks kreiert einen Stau von Dokumenten. Einen Überblick in den Ozean der dringenden Meldungen hat kein Mensch.

In der aktuellen sprachlich-kulturellen und „weltanschaulichen“ Vielfalt werden Worte und Begriffe immer wieder neu definiert, dass heißt erst „dekonstruiert“ und dann wieder neu „konstruiert“. Egal wovon man redet, in fast jedem Diskurs müssen die Worte von Altlasten befreit werden, bevor sie eingesetzt werden können. Meistens, so meine ich, gelingt das nicht nachhaltig, höchstens für die Dauer des entsprechenden Textes.

Es gibt eine ganze Menge von Wörtern, die man nicht mehr benutzen kann, ohne mit Sicherheit Missverständnisse zu erzeugen. Alleine in dem Text, den ich jetzt gerade schreibe, wären als problematisch zu bezeichnen: Denken, Philosophen, Begriffe, Schönheit, erotisch, Leben, Welt, sprachlich, kulturell, weltanschaulich, dekonstruiert, (hat Jacques Derrida damit gerechnet, dass auch der Begriff Dekonstruktion ständig dekonstruiert werden würde?)... Und in jedem weiteren Satz werden Worte und Begriffe auftauchen, deren Bedeutungen (!) sich leicht in der Weite der Vielfalt verlieren.

Dieser Umstand, so scheint es mir, erzeugt zwei Bewegungen. Die erste Bewegung kennen wir alle, sie ist eigentlich gerade als eine Nicht-Bewegung zu beschreiben, weil sie Fixierung bedeutet: wir versuchen die Worte und Begriffe in bestimmten sprachlichen Zusammenhängen – man könnte auch sagen: in Diskursen – festzulegen. Um Missverständnissen vorzubeugen, versuchen wir krampfhaft den Worten eine steinige Eindeutigkeit zu verleihen. Das führt dazu, dass die Worte keine saftigen Früchte mehr sind, wie Pfirsiche, sondern nur noch Kerne ohne Fleisch.

Die zweite Bewegung bemerken wir weniger, sie ist allerdings wichtiger. Sie bedeutet, dass wir uns gerade von den Eindeutigkeiten entfernen und ins sprachliche Spielen geraten. Vor allen in den Kneipen, Schlafzimmern, Küchen, Straßenbahnen und auf der Straße ist diese Tendenz zu beobachten. Sie beruht auf der inneren Haltung, dass es „egal“ sei, wie wir die Dinge benennen, die Hauptsache wäre, dass wir „uns verstehen“. Und diese Haltung steigert sich schwindelerregend, sobald wir uns ins Internet begeben.

Man könnte es auch so sagen: in der Sprache wird immer wichtiger, dass Bedeutungen „intuitiv“ (!!!) ergriffen werden. Nicht das äußere Gewand der Sprache zählt, sondern ihre innere-spielende-verwandelnde Dynamik. Wir fangen langsam an, über die festgelegte Sprache hinaus zu lauschen, kommen somit von durchschaubaren Konzepten weg und finden Zugang zu einer ätherischen (excusez le mot!) Ebene, wo Gegenstände keine Gegenstände mehr sind, Worte keine Flaschen, Meldungen keine Nachrichten, Fußnoten keine semantischen Schrauben.

Und interessant: in der Dämmerung der Philosophie, die mit diesen beiden Bewegungen einher geht, kriegen die Aussagen von Solon, Pittakes und Thales – sie gehörten zu den sogenannten „Sieben Weisen“, die vor mehr als zweitausend Jahren die Philosophie angestachelt haben – eine unerwartete Wirkung. Sie wirken taufrisch, weil sie eine Nähe zum Fließen der ätherischen Welt haben. Um an ihre rätselhaften Bedeutungen heran zu kommen, verlangen sie etwas von uns, was wir gerade lernen wollen: uns dezentriert in der Vielfalt immer wieder neu erfinden.

3 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Sprachlos

Sprache los
löst
der Ur Sprung sich
von ihre Bedeutungen los.
Der Authentizität vorbei
dekonstuiert
das Ich sich
frei von Sätze
bis ins Geschwätze
des fremde N-ich-ts.
Nur aus der Quelle
im Strom der Sprüche und Sätze
finden Verbindungen statt
Konstrukt statt.
Und vom Sprung der Sprache ins Ohr
fliesst der Sprung
wiederum ins Ur
zurück.

Huub
30. Januar 2011

Michael Heinen-Anders hat gesagt…

WORTFETZEN

"Ich bin Hauptbahnhof",
ja so habe ich es
gehört.
Sprachverarmung,
Sprachverstümmelung,
Sprachverfremdung
gehen miteinander
her. Manche
Wortfetzen
zeugen
von der Unfähigkeit
"in der Sprache
zu sein".

(Michael Heinen-Anders)

Anonym hat gesagt…

In der Sprache sein, bedeutet manchmal auch: Schweigen... Wollen wir heute schweigen? Nein, wegen Ägypten nicht...