05.07.2010

Samuel heute zu Sammy. Über die Stadt und Ballad in plain D

Lieber Sammy, es ist noch früh, die Strahlen der Sonne haben allerdings die höchsten Stockwerke der Häuser an der Eisenbahn schon erreicht. Sie leuchten auf, wie die Stirnen griechischer Philosophen. Als ich vor zehn Minuten in den Garten ging, um nach den Rosen zu sehen, war der Fuchs da. Er stand beim Teich, schaute mit seinem spitzen Blick kurz auf mich, und verschwand, erst hinter seinem Schwanz, dann mit seinem Schwanz zwischen den Brennnesseln. Er versteht noch immer nicht, dass er vor mir keine Angst zu haben braucht. Ich weiß leider nicht, wie ich die Kluft zwischen seiner Welt und meiner Welt überbrücken kann.

Die Stadt ist vom Sommer überflutet worden. Sogar die Geräusche der Züge klingen anders, als ob die Wärme von gestern, die die Nacht nicht vertrieben hat, das Reiben von Eisen auf Eisen sanft einbettet und in meinen Ohren verschmelzen lässt. Gerade kommt ein Güterzug vorbei, langsam, und wie es mir vorkommt: ohne ein Ziel, so, als ob Rotterdam oder Antwerpen oder Hamburg in der Hitze sowieso nicht zu lokalisieren sind. Wenn es warm ist, scheinen Ziele zu verschwinden. Füchse haben davon allerdings offenbar kein Wissen, sie bleiben immer wach.

Lieber Sammy, ich habe es schon verstanden: du bist unterwegs zu mir. Die Stirnen der Häuser denken an dich, die Züge bringen einen Hauch von dir, die Lücken in den Vierteln flüstern von dir... Und vor allem die Vögel: sie berichten davon, dass du im Kommen bist, dass du dich von deinem Schreck losgelöst hast, nicht länger im Wohnzimmer deiner Eltern verbleibst, sondern in Luftbewegungen schwebst, nein, nicht frei „from the chains of the skyway“, sondern gerade von deren ziellosen Schwingungen getragen.

Die Stadt ist eine vibrierende Schale. In ihrem Herzen quillt eine goldene Kraft, die aus dem Inneren der Erde heraufkommt, sich durch Tiefgaragen hocharbeitet, die großen Frauen der Geschichte in sich aufnimmt und ihnen endlich die richtigen Rollen gestattet, die Toten zum aktuellen Leben erweckt, die Lebenden auf den wahren Tod vorbereitet... Ich habe es schon verstanden: es ist diese Kraft, die dich sucht, dich von deiner Vergangenheit befreien will, dich anzieht – und umgekehrt: es ist dieser Zauber, den du suchst, den du in deinem Schweben da oben vor Augen hast.

Deine Reise geht erst ostwärts und dann südwärts. Von dir aus gesehen sieht der große Fluss wie eine Ader für ganz Deutschland aus, die immer noch mächtige Intuitionen herunter holt und gegen den Wasserstrom über die vielen Nebenflüsse bis in die Großstädte und in die Kleinstädte und in die Dörfer und in die Weiler bringt, ja, weit an der Stadt vorbei, wo ich lebe (und der Fuchs) und wo die Menschen warten, ohne es zu wissen. Ostwärts gehen bedeutet für dich: von links nach rechts schreiben. Für mich bedeutet es allerdings, dass ich wieder lernen muss, von rechts nach links zu lesen. Und ich räume ein, dass dies mir manchmal nicht leicht fällt.

Die Stadt erwartet dich. Manchmal leuchtet die Wiese in meinem Garten auf einmal ein bisschen auf, als ob sie im Kleinen macht, was im Großen geschieht: ein Aufwachen im Warten, dass aber kein Warten mehr ist, sondern ein Ankommen-im-Kommen. Irgendwie scheinen Wiesen, auch wenn sie klein sind, an großen Ereignissen beteiligt zu sein – sie können leuchten, auch wenn die Sonne sich hinter den Wolken verbirgt. Alles was sich zur Schale neigt, offenbart was Schale ist: aufnehmen und weiter schenken wollen. (Wenn eine Amsel morgens früh auf der Wiese hin und her hüpft – ja, um Würmer zu suchen – betont sie nur, dass die Wiese eine Schale ist.)

Ich warte auf dich. Im Garten unter dem Efeu, direkt neben der Hausmauer wartet bereits eine kleine Bank, die nie benutzt wird, weil sie für dich und für mich gemeint ist. So wird das mit uns sein: wir werden nebeneinander sitzen, nicht einander gegenüber, weil wir nur so gleichzeitig schreiben und lesen können, von rechts nach links. Und ich werde dir von den großen Songs erzählen, die ich kennen gelernt habe, nachdem wir uns damals getrennt haben. Das erste Lied wird sein: Ballad in plain D. Ich werde es für dich auf der Gitarre spielen, gleichzeitig von links nach rechts und von rechts nach links. Ich bin schon dabei, das Lied zu üben.

10 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Lieber Samuel, Liieber Sammy!

Nun seid Ihr also wieder und trotzdem anders und gesteigerter im gemeinsamen Atemhaus angekommen.

Wie schön, von Euch zu hören und den Klang Eurer warmen Sprache lesenden Auges dann in meinem Herzen zu spüren.
Danke für diese dargebotene Nähe.
Herztau, Dröpche vor Dröpche.
Maria

Anonym hat gesagt…

Sehr sehr sehr schön. Bitte mehr davon! Wouter L.

Anonym hat gesagt…

Beste Jelle, zijn je bijdragen ook in het Nederlands beschikbaar? Wouter L.

Jelle van der Meulen hat gesagt…

Beste Wouter L., ik schrijf de teksten in het Duits. Natuurlijk mag iemand ze vertalen. Maar mij ligt dat niet zo. Hartelijk...

Andrea hat gesagt…

diese Bahngleise die in der Sommerlichen Hitze anders tönen , die Amsel , die die kleine Gartenwiese als Schale betont,
Das sind sehr schöne Beschreibungen , das es fast hörbar und erlebbar wird.Und der Fuchs, gibt es einen Stadtfuchs bei dir im Garten? Echt schön wie du über ihn schreibst.herzliche Grüsse Andrea

Jelle van der Meulen hat gesagt…

Liebe Andrea, ja, es gibt bei uns tatsächlich einen Fuchs. Er ist ziemlich groß. Er hat sein "Lager" etwa zwanzig Meter vom Garten entfernt. Herzlich, Jelle

Michael Heinen-Anders hat gesagt…

DER FUCHS

Der Fuchs
er gilt als listig
Der Fuchs
er gilt als schlau

Im Falle eines Falles
bleibt der Fuchs
lieber
in seinem Bau.

(Michael Heinen-Anders)

Michael Heinen-Anders hat gesagt…

Schade - von rechts nach links lesen und schreiben, wie z.B. im arabischen habe ich nie gelernt. Ich habe schon Schwierigkeiten lateinische Worte zu buchstabieren und griechische überhaupt nur entziffern zu können.

An mir ist also die altsprachliche Bildung komplett vorbeigelaufen und überdies kann ich weder russisch, noch chinesisch und auch nicht arabisch oder hebräisch.

Insbesondere die alten Sprachen flößen mir großen Respekt ein und wenn ich bei Robert Powell nachlese die chinesischen Schriftzeichen seien quasi unmittelbar in der Umgebung des "Gelben Kaisers", welchen er als ehemalige Inkarnation Luzifers
in China lange vor unserer Zeit ansieht, entstanden, so steigt nochmals mein kultureller Respekt vor allem altsprachlichen.

Im Falle der von ihm für 2012 erwarteten Inkarnation Ahrimans in Amerika (das Datum halte ich aber für wenig stichhaltig) dürfte man aber schon mit profanem amerikanisch bzw. englisch auskommen.

Diese letztere Sprache beherrsche ich einigermassen, na ja - immerhin.

Herzlich,

Michael Heinen-Anders

Michael Heinen-Anders hat gesagt…

Hier noch der Titelnachtrag zu dem erwähnten Buch von Robert Powell: "Christus und der Mayakalender. 2012 und das Erscheinen des Antichrist", ISBN 978-3-9523521-1-3.

Anonym hat gesagt…

Sammy und Samuel bewegen sich aufeinander zu, sie werden eins.

Sterben sie ineinander oder werden sie auseinander geboren?

Herzlich, Sophie