19.04.2010

Über Täter und Opfer. Und den Akt des Verzeihens

In der Beziehung zwischen Täter und Opfer werden die menschlichen Bezüge auf eine Spitze getrieben, die schwer eindeutig zu denken sind, ich meine: eine ganze Menge von Begriffen werden gebraucht, um das Spannungsfeld zwischen den beiden in den Blick zu bekommen. Und vor allem sind es dabei die Paradoxe, die es schwer machen, die beiden Begriffe transparent vor Augen zu führen.

Als erstes fällt auf, dass die beiden Begriffe miteinander verschränkt sind: es gibt keine Opfer ohne Täter und keine Täter ohne Opfer. Als solches ist das nichts Besonderes: es gibt auch keine Töchter ohne Mütter, keine aktiven Rechtsanwälte ohne Mandanten, keine Gewählten ohne Wähler. Trotzdem ist die Verschränkung bemerkenswert, weil sie nicht auf biologischer oder funktionaler Ebene liegt – sie liegt in einem schrecklichen Ereignis begründet. Dadurch, dass etwas Ungeheuerliches geschehen ist, sind zwei Menschen miteinander verbunden.

Die Beziehung zwischen Tätern und Opfern ist extrem asymmetrisch. Von dem einen ist ein Akt des Missbrauchs oder der Gewalt ausgegangen, der dazu führt, dass der andere für längere Zeit – vielleicht eben für sein ganzes weiteres Leben – in einem Schmerz gefesselt ist. Die Ungleichheit der Beziehung ist meistens „gefroren“ und lässt sich nur schwer ändern. Wenn eine „lösende“ Annäherung zwischen Opfer und Täter angestrebt wird, bedeutet dies immer einen Gang über den Abgrund.

Für Täter sind ihre Opfer sehr oft anonym. Die Persönlichkeit des Opfers muss durch den Täter verdrängt werden, egal ob er sein Opfer kannte oder nicht. Täter neigen dazu zu vergessen, dass es überhaupt Opfer gibt. Umgekehrt aber steht die Persönlichkeit des Täters in den Augen des Opfers mit klaren Konturen im Raum. Für das Opfer ist es oft so: es gibt diesen EINEN Menschen, der mir DIES angetan hat.

Und damit verschiebt sich die „gefühlte“ Beteiligung-als-Dauerzustand einseitig in die Richtung des Opfers. Es ist, als ob das Ereignis auf der einen Seite ausgeblendet und deswegen auf der anderen Seite doppelt so schwer erlebt wird. Aus der Literatur ist die bittere Tatsache bekannt, dass sich Opfer manchmal schuldig fühlen. Der Grund ist verständlich: um innerlich mit etwas fertig zu werden, wird eine Art Erklärung oder Schuldzuweisung gebraucht. Und weil der Täter sich nicht auf die Not des Opfers einlässt, bleibt der letztere mit sich selber alleine. Früher oder später kommt er oder sie auf den Gedanken: habe ich nicht aktiv zu dem Ereignis beigetragen?

Täter isolieren sich in der Anonymität und versuchen sich in einem Nichts quasi aufzuheben, Opfer dagegen verstecken sich in ihrem konkreten Erlebnis, das sie verheimlichen MÜSSEN, weil es nicht zu tragen und zu vertreten ist. Der Täter läuft vor dem Umstand weg, dass er Täter ist, das Opfer kann nicht anders, als sich immer wieder zu vergegenwärtigen, dass es Opfer ist. Der Täter schweigt in jeder Hinsicht, das Opfer redet ständig mit sich selber.

Eine unerträgliche Beziehung wird gestiftet, weil etwas Ungeheuerliches geschehen ist. Immer geht es dabei um eine Schwellenüberschreitung, die in unserer Gesellschaft strengstens verurteilt wird. Nun kann man natürlich die relativierende Frage stellen, warum in unserer Gesellschaft bestimmte Handlungen negativ belegt sind. Für die Beziehung zwischen Täter und Opfer ist diese Frage aber nicht relevant. Das (oft unausgesprochene) Verharmlosen eines Gewalt- Aktes – wenn es zum Beispiel um sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen geht – ist alleine dadurch grausam, weil es dem Opfer seine Würde nimmt.

Die Beziehung ist aber nicht nur extrem asymmetrisch, sondern in gewisser Hinsicht auch extrem symmetrisch. Das liegt erstens in der Tatsache begründet, dass ein Ereignis „geteilt“ wird – ich meine: dass eine gemeinsame Geschichte vorhanden ist. Was die beiden verbindet, ist der EINE Moment des Geschehens. Die einzigen Gesprächspartner, die auf gleicher Augenhöhe über das Ungeheuerliche sprechen könnten, sind Täter und Opfer. Alle anderen Menschen sind nur indirekt beteiligt.

Aber zweitens liegt die Gleichheit auch darin begründet, dass Täter und Opfer in Bezug auf die Erlösung nur aufeinander angewiesen sind. Das bedeutet, nicht nur gemeinsam auf das Geschehen zu schauen-um-zu-verstehen, was ja meistens nicht möglich ist, sondern sich darüber hinaus auch auf die weitreichenden Prozesse des Verzeihens und der Versöhnung einzulassen. In dem heiligen Bereich „zwischen uns“ (Emmanuel Lévinas) gibt es nichts Wesentlicheres als den Akt des Verzeihens.

An dieser Stelle taucht die Ungleichheit aber wieder auf, wenn vom Opfer (meist unausgesprochen) verlangt wird, dass sie oder er sich dem Täter öffnet (weil auch Christus das gemacht hat!). Niemand – und vor allem der Täter nicht – kann an dieser Stelle eine Erwartung oder eine Forderung haben. Der Täter kann höchstens aus einer ehrlichen Betroffenheit um Verzeihung bitten. Die extreme Asymmetrie muss aber respektiert werden, weil das Opfer sie braucht, um seine Souveränität und damit seine Würde wiederzuerlangen.

20 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Für mich beinhaltet der Begriff "sexueller Mißbrauch von Kindern und Jugentlichen" die Möglichkeit, das es auch einen "korrekten" sexuellen Gebrauch von Kindern und Jugentlichen geben könnte.

Historie der letzten Monate:
Erdbeben in Folge, ein Flugzeugabsturz mit 96 Toten, ein Vulkan der 200 Jahre ruhte explodiert , Sperrung des gesammten europäischen Luftraumes.
alles ohne nachvollziehbare Gründe. Wenn es so bleibt, was könnte das für Auswirkungen haben? Welcher Zusammenhang könnte zwischen diesen Ereignissen und dem Erscheinen Christi im Ätherischen bestehen? Wer spricht darüber? Antje Klettner

Anonym hat gesagt…

...

Jelle van der Meulen hat gesagt…

Liebe Antje, Ja, wer spricht darüber? Vielleicht werde ich nächster Woche einen Versuch machen. Sei herzlich gegrüsst, Jelle

Anonym2 hat gesagt…

Schläge bestimmen die Grundschulzeit

http://www.schwaebische.de/lokales/markdorf/meersburg_artikel,-Schlaege-bestimmen-die-Grundschulzeit-_arid,4070228.html

Auch Waldorfschulen sind vor Mißbrauch nicht gefeit!

Anonym2 hat gesagt…

Vorwürfe gegen Waldorfpädagogen

http://www.schwaebische.de/lokales/markdorf/meersburg_artikel,-Vorwuerfe-gegen-Waldorfpaedagoge-_arid,4069041.html

Anonym hat gesagt…

Jahr Erdbeben (starke)
2001 5
2002 6
2003 8
2004 16
2005 12
2006 12
2007 29
2008 32
2009 19
2010 22
Insgesamt (bis 19.04.10) 682.495 Todesopfer. Furchtbar!
Tröstlich ist:
Christus ist da. Er "steht" im Süd-Osten der Erdumgebung. Ich durfte IHN schauen. Das Schauen war ein Erkennen, wie jemand den man kennt - sehr lange! - und doch noch nie gesehen hat. Und dann weiß man - plötzlich - wem man gegenüber steht; in einer Stille die unendlich ist...
Alle Menschen können jetzt eine Verbindung mit IHM schaffen. Zwei Voraussetzungen helfen: Das Wissen von IHM und den Gegenkräften.

Ich freue mich auf Deine Antwort, Jelle, die Du Antje geschrieben hast...

Jelle van der Meulen hat gesagt…

Liebe(r) Anonym, was meinen Sie mit "Süd-Osten der Erdumgebung"? Herzlich, Jelle van der Meulen

Sophie Pannitschka hat gesagt…

Ja, das stimmt, man muss den Begriff Opfer differenzieren - denn es gibt ja nicht nur die Ebene von konkreten Tätern und Opfern. Und: das Wort "Opfer" kann ja auch im Sinne von Verzicht benutzt werden.

Also ein vielfarbig schillernder Begriff.

Hier ein paar Beispiele:

Die vielen Erdbebenopfer - wie gehen wir mit dem "Täter" um?
NS-Opfer, Stasiopfer...
Holocaustopfer... da gibt es oft keine konkreten Täter, die dem Opfer gegenüberstehen.

Oder auch:
Todesopfer bei kriegerischen Auseinandersetzungen (Afghanistan)...
Opfer des dreigliedrigen Schulsystems...
Brandopfer werden...

Und es gibt den Begriff "Opfer" auch ohne einen Gegenbegriff - weder einen konkreten noch einen unkonkreten:
...das religiöse Opfer - das "freiwillig" gegebene, geopferte Opfer... Opferwille, Opferstock...

...man kann aber auch einer Sache oder eben jemandem zum Opfer fallen...

...oder opferbereit sein...

Herzlich, Sophie

Michael Heinen-Anders hat gesagt…

ALS ICH NOCH EIN KIND WAR...

Als ich noch ein Kind war
da schlug mich mein Vater.

Ich fragte nicht warum.

Als ich noch ein Kind war
da schlug mich mein Lehrer.

Ich fragte nicht warum.

Man nannte das normal.
Und den Umständen geschuldet.

Heute haben Kinder RECHTE.

Gottseidank!

(Michael Heinen-Anders)

Anonym hat gesagt…

Spur 1: Täter und Opfer. Spur 2: Vulkan und Christus. Bin gespannt. Nitta

Ruthild Soltau hat gesagt…

Ein alter Freund, der lange gestorben ist, sagte oft zu mir: Wer handelt wird schuldig, wer nicht handelt, auch!!
Zur Zeit machen wir uns fast alle in den Industrieländern schuldig an der Erde und ihren Naturreichen und an den vielen hungernden Menschen. Alles, was geschieht, ist eingeschrieben in das Gedächtnis der Erde.
Lieber Michael Heinen! Die Rechte der Kinder sind immer noch fast überall abhängig von der Willkür der Erwachsenen. Gerade bei uns in Deutschland werden die Rechte der Kinder zum Soielball der Politik und Wirtschaft.
Dann noch:
Der schönste Ausdruck der menschlichen Freiheit ist, glaube ich, dass wir einander verzeihen können.

Ruthild Soltau hat gesagt…
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Anonym hat gesagt…

...genau genommen hätte ich im Osten-Süden schreiben sollen.
Mein Blick war (zu Beginn) vom Weltraum aus auf die Erde gerichtet, frontal geschaut, aber leicht erhöht von oben nach unten blickend.

Die Erde dreht sich, ja, aber ER STEHT ("rechts") im Osten - ("unten") im Süden, in tiefer Stille gehen Wellen von ihm aus...

Die Farben des Umkreises der Erde, in dem ER stand, zeigten oliv-grün-braun-Töne.

Seine Gestalt, sein Aussehen: unaussprechlich schön; mild; sanft - wie ein vollkommener Mensch...

Müssen die Beben sein, damit die Menschen ihn anblickend er-kennen können? Warum?

Die Flugzeuge heben heute wieder ab... und fliegen in "Wolken" (Asche) die so fein, dass sie nicht gesehen, nur gemessen werden können...

Anonym hat gesagt…
Der Kommentar wurde von einem Blog-Administrator entfernt.
Anonym hat gesagt…

Die okkulte Bedeutung des Verzeihens.

Sergej O. Prokofieff

Verlag Freies Geistesleben

Anonym hat gesagt…

Lieber Jelle,
dieses ist mir zu deinem Blog durch den Sinn gegangen.
Ist jeder aktiv Tätige ein Täter? Ist jeder passiv Erleidende ein Opfer?
Wo bleiben bei sexualisierter Gewalt gegen Kinder die Eltern? Sind sie Täter(gegenüber den Kindern) und Opfer (Gegenüber den Tätern) zugleich? Oder machen sie sich einer Unterlassungssünde schuldig? Sind sie Opfer ihrer eigenen Unfähigkeit zu sprechen?
Wann fühlt man sich als Täter oder Opfer? Wann bereut man es, nicht Täter oder Opfer geworden zu sein?
Wie wird man durch das, was man bisher tat (zwangsläufig?), Täter oder Opfer? wie gestaltet man dadurch die Zukunft?
Könnte sein, das eine oder andere ist notwendig, um eine zukünftige Not zu wenden, oder eine alte Not abzutragen.
herzliche Grüße
Antje

Jelle van der Meulen hat gesagt…

Liebe(r) Anonym, danke für die Hinweis auf das Buch von Prokofieff, das ich sehr schätze.

Liebe Antje, ich würde deine erste Frage mit ja beantworten, obwohl es nicht üblich ist, diesbezüglich von Täter und Opfer zu sprechen. Aber ja: beinhalten Schicksalsbeziehungen nicht AUCH die Tatsache, dass Schmerzen entstanden sind, die es zu erlösen gilt? Man könnte diesbezüglich von Schicksalsgefährten sprechen. Herzlich, Jelle

Sophie Pannitschka hat gesagt…

Wie man es auch dreht und wendet: ein Täter-Opfer-Verhältnis ist nicht zu legitimieren. Und noch darüber hinaus: es sollte einfach gar nicht existieren.

Jede andere Art der "funktionalen" Beziehung, Lehrer-Schüler, Eltern-Kinder, Arzt-Patient usw. birgt einen Gestaltungsraum. Birgt Sinn und fragt "nur" immer wieder neu danach, wie es gelebt werden soll, kann, darf, muss...

Der Blickwinkel kann sich dabei ändern, die "Ziele", das Verhältnis, die Atmosphäre - diese Dinge rekurrieren sich aus Zeit, politischen Verhältnissen, Bewusstsein, Ansinnen, Anliegen u.a.m.

Aber ein Täter-Opfer-Verhältnis hat diese Berechtigung nicht. Es "schenkt" nichts. (Außer Dunkelheit.)
Das einzige was sich sagen lässt ist, dass es existiert. Und: diese Existenz kann gestaltet werden - mehr oder weniger.

Was wäre die Welt ohne Täter und Opfer respektive Opfer und Täter?

Was gäbe es "positives", weltentwickelndes dazu zu sagen?

Ich glaube, dass wir hier an Grenzen stoßen. Jedenfalls was ein Leben ohne den Reinkarnationsgedanken betrifft.

Nur dann könnte "Sinn entstehen". Oder?

Herzlich, sophie

Anonym hat gesagt…

Ich möchte älteren Beitrag löschen.
Wie geht das?

Jelle van der Meulen hat gesagt…

Liebe(r) Anonym, wenn ich richtig durchblicke, kann nur ich ältere Kommentaren löschen. Sie müssten mit also mitteilen, um welche Beitrag es geht. Herzlich, Jelle