„Menschen sind Fragmente aus der Zukunft“. Eine permanente Konferenz
Die Erkenntnis ist gleichzeitig sehr einfach & sehr kompliziert, sehr beruhigend & sehr verwirrend: was alles noch in der Welt geschehen wird, hängt davon ab, was individuelle Menschen heute tun oder lassen. Oder mit Orland Bishop: „I invite you to think that you are just as important to this world, as the sun is“. Und natürlich mit dem jungen deutschen Filmemacher Joshua Conens: „Diesen Satz habe ich verfilmt“!
Nicht die großen gesellschaftlichen Einrichtungen – Banken, politische Parteien, Kirchen, Unternehmen, Universitäten – bestimmen die Zukunft, sondern die Menschen (innerhalb oder außerhalb der Institute) bestimmen die Zukunft der Gesellschaft. Menschen können mächtig viel erreichen, auch wenn es erst einmal nicht so aussieht. Es ist wie mit einem Öltanker: der Steuermann dreht heute ein ganz winzig kleines bisschen am Rad & zehn Tage später erreicht er nicht Sidney, sondern Singapur.
Das Beispiel des Öltankers ist deswegen so hilfreich, weil es nur zur Hälfte stimmt. Was nämlich nicht passt, ist die einfache & komplizierte Tatsache, dass es in der Zukunft so etwas wie Sydney oder Singapur nicht gibt. Die Geographie der Zukunft ist noch berauschend unbekannt, kennt keine Kontinente oder Häfen oder Koordinaten. Singapur & Sydney sind ja noch nicht einmal Gegenwart, sondern Vergangenheit.
Die Zukunft kann man mit Konzepten nicht in den Griff kriegen. Die großen gesellschaftlichen Einrichtungen sind aber gerade ständig damit beschäftigt, die heutigen Ängste bis in die Zukunft hinein zu verlagern & die klugen Maßnahmen von heute dementsprechend zu extrapolieren. Die Zukunft wird als eine mengenmäßige Steigerung der Gegenwart verstanden & deswegen können manch einfache & komplizierte Gedanken nicht gedacht werden (zum Beispiel, dass die Arbeitslosigkeit auch damit zusammenhängt, dass Menschen ANDERS arbeiten wollen).
Offene Räume für Unerwartetes bieten Institute ganz wenig. Die aktuelle Wirklichkeit ist diesbezüglich haargenau umgekehrt: sofern es in den gesellschaftlichen Einrichtungen so etwas Zerbrechliches & Behutsames & Berauschendes wie Freiräume gibt, werden sie von individuellen Menschen immer wieder erobert & erkämpft & behütet. Manchmal sehen die Freiräume wie komische oder unpraktische oder träumerische oder sehnsüchtige „Orte“ aus, weil ja alles was nicht irgendwie in die Vergangenheit passt, lächerlich wirkt.
Sich innerlich frei & mutig & verliebt & existentiell auf die Zukunft einzulassen, sind Merkmale einer Kultur des Herzens. Auf der Website www.projektzeitung.org, wo eine Art Zeitung vorgestellt wird die viermal im Jahr erscheint, wird es so beschrieben: „Wo sind Menschen, die sich jenseits politischer Pragmatik Aufgaben in der Welt stellen – Menschen, die Lebensräume schaffen, die auf ihre unmittelbare Gegenwartserfahrung bauen?“
Und: „projekt.zeitung will Initiativen darstellen, Menschen ins Bild bringen und Fragen der Zeit vertiefen. Will anregen und Anknüpfungspunkte aufzeigen, Begegnungen stiften“. Und auch: „Junge Mitarbeiter erarbeiten Themen in offenen Redaktionstreffen. Sie hinterfragen Medien, schleifen Sprache, üben Kritik und Zuspruch. Permanente Konferenz, wo auch immer.“
In der neuesten Ausgabe von projekt.zeitung (Titel: „Menschenbilder“ – bitte sofort auf oben genannter Website bestellen!) werden unter der unpraktisch-sehnsüchtigen Behauptung „Menschen sind Fragmente aus der Zukunft“ etwa zwanzig junge Leute vorgestellt, die „auf ihre unmittelbare Gegenwartserfahrung bauen“. Oder genauso gut gesagt: die tun was sie wollen.
Menschenbilder bietet so richtig Text. So sagt Katharina Ludwig: „Ich laufe, ich bin in Bewegung, aber eigentlich kommt die Zukunft auf mich zu.“ Und Benjamin Kolass: „Jede menschliche Begegnung trägt in sich ein potentielles Projekt, im weitesten Sinne“. Und Florian Lück: „Alles das, was den Menschen vorformen will, soll herausgenommen werden, um Situationen zu schaffen, wo Menschen sich treffen können und etwas Neues entsteht.“
Lisei Caspers: „Die Menschen kann ich nicht verändern, aber ich kann Anlass zur Veränderung geben, ich stehe mit meinem eigenen Leben dafür.“ Und Adrian Wagner: „Mit Mercedes bauen ist es eben noch nicht getan, das reicht nicht. Unsere Sprache, Philosophie und Kultur ist nur so lebendig wie wir sie im Herzen tragen und damit in globalen Austausch treten“. Und Krimoun: „Ich hätte gern ´nen Plan, doch habe keinen. Hätte gerne Sicherheit, aber es gibt keine. Würde gern wissen, was ich tue und weiß überhaupt nichts.“
Und Friedel Reinhardt: „Unsere Zeit fordert, dass das Unsichtbare sichtbar werden kann“. Sie hat recht. Auf der unsichtbaren Ebene sind eine Menge „Projekte“ im Kommen: unsichtbare Schulen & Banken & Kigas & Tempel & Zeitungen & Öltanker, die zwar keine institutionelle Verkörperung suchen, das eben gerade nicht, irgendwie aber doch eine sprachliche – und damit soziale – Verankerung brauchen.
Das große Ringen liegt zurzeit in der Frage: wie können die unsichtbaren Projekte zur Sprache gebracht werden? An dieser Stelle ist der Dichter-in-uns gefragt, auch wenn man Erzieher oder Filmemacher oder Journalist oder Kaufmann ist.
16 Kommentare:
Der aktuelle Mensch scheitert heute nicht selten an den Institutionen.
Oft kommt es mir so vor, als wären die Institutionen der Gegenwart (noch) nicht reif für die Menschen der Gegenwart, auch eingedenk von Rudolf Steiners soziologischem Grundgesetz: Die Institutionen der Zukunft sollen für die individuellen Menschen da sein - nicht die Menschen für die Institutionen.
Aus diesem Impuls heraus - und auch da die großen Projekte der Gegenwart, z.B. 'Mehr Demokratie' auch auf Bundesebene und das Bedingungslose Grundeinkommen statt Hartz IV (noch) nicht realisiert sind - schrieb ich mehrere Gedichte, hier drei davon:
Die Freiheit, nichts als die Freiheit
Die Freiheit
will ich in solchen Dingen.
Die Freiheit, nichts als die Freiheit.
Die Freiheit
will ich in allen Dingen.
Die Freiheit, nichts als die Freiheit.
Die Freiheit
will ich um ihrer selbst willen.
Die Freiheit, nichts als die Freiheit.
Die Freiheit
will ich um der Vielfalt willen.
Die Freiheit, nichts als die Freiheit.
Die Freiheit will ich,
nichts als sie
will ich.
Die Freiheit,
einzig die Freiheit
will ich
wollte sie einst
wollt sie haben.
(Michael Heinen-Anders)
PERSPEKTIVE: VERÄNDERUNG
Auch jene die wir Hoffnung nannten verschwanden
Schweigend hinter Spiegelungen und Vorwänden
DER MARSCH DURCH DIE INSTITUTIONEN (Apo)
Brandt: MEHR DEMOKRATIE WAGEN
Wir nannten das Vernunft. Ihr hilfloses Raunen
DIE EXISTENZ BESTIMMT DAS SEIN (Sartre)
Ist Trauma geworden, wie alles beherrschte, unmöglich
Passiv gewordene. Nur niedertrachtend, trauernd der Macht
Der Vorgänge und Niederlagen.....
.....
....
Die schäumenden Wellen
des ersterbenden Ozeans vor mir
Dein Gesicht sagt mir: noch ist es Mittag.
Vögel fluten kreiselnd in die Gezeiten.
Der Wind hat sich gedreht.
Dein Haar löst sich im Sand:
Ein Hauch Seesterne zieren deine Augen.
Du wirkst stürmisch, ich muß
an Leuchtfeuer denken.
Unsere Worte fahren die Sandhügel hinab
Und niemand verläßt abends die Bucht.
(Michael Heinen-Anders)
Wahlreklame
Wir bieten mehr
Wähle uns!
Wir geben Dir alles
Wähle uns!
Auch was Du
Wähle uns!
Nicht erwartet
Wähle uns!
Nicht erhofft, vielleicht
Wähle uns!
Geben wir Dir alles
Wähle uns!
Oder nichts
Wähle uns!
Für Deine Stimme
(Michael Heinen-Anders)
"sich jenseits politischer Pragmatik Aufgaben in der Welt stellen" -
so zu denken scheint mir sehr sehr wichtig
Hallo Jelle, das spricht mich an. Kommt auf mich zu aus ganz verschiedenen Richtungen.
Hallo, Du, der, das da auf mich zukommt. Hier bin ich. Spreche aus, so gut ich kann, was ich jetzt erlebe.
Es ist, als sei die ganze Welt eine Dose mit Knöpfen. Ich stecke den Arm hinein und fische einen heraus. Ich verstehe nicht. Ich lasse mich ein. Es klappert und klimpert und klingt. Es macht Spass. Ich verstehe nicht.
So wie ich mich durch die Knöpfe wühle, schaufele ich mich durch Informationen im Internet, durchfurche meine innere Welt, in der sich Gefühle auftürmen, ich überblicke sie nicht. Hinter mir her ziehe ich einen Karren. Er ist voll mit den Büchern, die ich gelesen habe.
In die Erde habe ich kleine Schatullen gesteckt. Darin sind Zettel, auf denen steht geschrieben, was ich dachte, fühlte, wollte.
Ich bin nicht alt und nicht jung. Hinter mir und vor mir und über mir und unter mir und in mir ist ein Raum, der ausgekleidet werden will mit den Worten, die von überallher zu mir kommen.
Ein umgekehrter Sog von Wörten, Knöpfen, Eindrücken, Ahnungen fällt in die Dose.
Dann ist es still. Und da stehe ich mit den geprasselten Knöpfen und schaue auf.
@@@
Nebenan spielen die Kinder. Sie singen: Wer will fleissige Handwerker sehen? Der muss zu uns Kindern geh'n.
Ja, die Kinder sind schon die fleißigsten Handwerker ... aber nicht nur das:
"In jener Stunde traten die Jünger zu Jesus und sprachen: Wer ist der Größte im Reich der Himmel? Und er rief ein Kind herbei und stellte es mitten in ihren Kreis und sprach: Ja, ich sage euch, wenn ihr nicht innerlich umkehrt und das Wesen des Kindes in euch belebt, werdet ihr den Zugang zum Reich der Himmel nicht finden. Je mehr ein Mensch in Demut das Wesen des Kindes in sich belebt, um so größer ist er im Reiche der Himmel. Wer sich im Vertrauen auf mich in das Wesen eines solchen Kindes vertieft, der findet in dem Kinde mich"(Mt 18,1-6).
Was ist aber das Wesen eines Kindes (in Differenz zum Erwachsenen)?
Zur ersten Annäherung hier ein Gedicht:
HELDENTOD
Wimpel flattern, frische Brise
Sonne dringt durch Hängewolken.
Viele Vögel flattern wild.
Möwenschreie schrecken Fische.
Sonntagsgäste liegen plump
auf dem Yachtendeck herum.
Fischer sind schon längst vertrieben,
von der Hast des nahen Mittags.
Kinder, spielend,
- Erbauen neue Welten -
Formen Sand zu festen Türmen,
Ziehen siegreich nach den Feinden,
Stürzen Burgen, trampeln Pfade,
Manch ein Feind fängt
- plötzlich Kind -
dann an zu weinen.
Strandgespenster ziehen um,
sind wie Riesen faul und dumm.
Schreien bloß: Mach dich nicht
dreckig! Sei schön artig!
Putz die Nase! Komm zum
Essen!
Schnell und hurtig, rasch, voran!
Stiefeln dann die kleinen Helden,
Schwerbeladen,
Mit Schaufel und Spaten,
Siegestrunken,
unwillig heran.
Sind entsetzt von der Mama,
die das Strandöl heut vergaß.
Lauf zum Kiosk, lauf
mein Kleiner,
Spielen kannst du nachher
weiter.
(Michael Heinen-Anders)
knöpfen
scheitern
zweimal scheitern
hartz vier
netzwerk
herzwerk
herz drei
herz null
seestern eins
pferd zwei
förster
liesel
(blümchen sechs?)
worte
wörter achttausendvier
nummer eins
nummer zwei
nummer drei
info
schritt
gedicht eins
schritt
gedicht zwei
sprung
gedicht drei
strandräuber
uswuswuswusw
Lieber Jelle,
Deine 'Aufzählungen' - die Du ja so sehr liebst - kann man auch als gelungenes Gedicht begreifen.
Herzlichen Gruß
Michael Heinen-Anders
Poetry?
een een
twee twee
drie een
vier een
vijf twee
zes drie
zeven twee
acht een
negen een
tien twee
elf drie
twaalf twee
dertien een
veertien een
vijftien twee
zestien drie
zeventien vier
achttien drie
negentien twee
twintig een
Lieber Jelle,
eine bloße Zahlenaneinanderreihung - auch wenn es auf niederländisch geschieht - halte ich nicht für Poesie im engeren Sinne.
Allerdings gibt es auch dort Grenzgänger, wie Ernst Jandl, Dada-Poeten und Vertreter einer rein visuellen Poesie (Chr. Morgensterns "Fisches Nachtgesang" zählte dort übrigens zu den Vorbildern), die z.T. als eine, wenn auch außergewöhnliche, Form der Dichtung anerkannt sind (vgl. z.B. die 'Gedichte' von Eugen Gomringer, Karl Riha und Heinz Gappmayr sowie Claus Bremer, in: Der neue Conrady, Das große deutsche Gedichtbuch, 2. Auflage 2001)...
Herzlichen Gruß
Michael Heinen-Anders
stappen
vooruit, zei de geit
een, twee, drie
speel je mee?
nee, hoor, ik heb vandaag al genoeg zitten treuzelen
ach, kom nou
ok, een spelletje dan
21?
Kein Gedicht!!!
....
kannitverstaan
Blub blub blub blub
Quest ce c'est?
Blub blub blub blub
words of the big one
Blub blub blub blub
Coca-Cola
Blub blub blub blub
Coka Cobana
Blub blub blub blub
Sur plus
Blub blub blub blub
Zero
Blub blub blub blub
Null
Blub blub blub blub
Rien ne va plus!
Blub blub blub blub
Nichts geht mehr!
Die letzten vier Zahlen ergeben in der Summe je 21. Ich habe einfach damit gespielt und hatte nicht den Anspruch, ein Gedicht zu schreiben.
Verzeihung, Nicole, das war gar nicht an Dich gerichtet, sondern an Jelle, der mich fragte, ob eine einfache Aneinanderreihung von Zahlen denn auch ein Gedicht ist.
Daraufhin habe ich dann das Anti-Gedicht, also den Text 'Kein Gedicht' verfasst, um zu zeigen, das ein Text zwar ähnlich wie ein Gedicht strukturiert sein kann, z.B. durch systematisches wiederholen der gleichen Lautfolge, aber bei der Abwesenheit jeglichen inneren Sinngehalts denn auch kein Gedicht mehr ist.
Deinen Text wollte ich damit in keinster Weise beurteilen.
Herzlichen Gruß
Michael Heinen-Anders
O Jelle,
auch in Deinem Haus geht der BiBaButzemann herum...
Viele Grüße, Barbara 1
@ Barbara 1
Wer ist der BiBaButzemann?
Und wo tanzt er (noch)?
Lieber Jelle!
Ich habe mich in den letzten Tagen vertieft in die Porträts und Beschreibungen der projekt.zeitung "menschenbilder". Sie berühren und begeistern mich sehr. So viel Kraft, Freude,Liebe zur ureigenen Aufgabe, um die Welt über verhärtete Konventionen, Strukturen und Machterhalte hinwegzuhelfen!
Herzliche Grüße
Ruthild
Befreie die Zeit
an deiner Seite.
Sie liebt dich
und braucht die Weite
deiner Seele,
damit sie nichts zu verhehlen,
nichts zu verfehlen
braucht um in der Wahrheit
lange zu verweilen.
Zeit gibt es ohne Ende
und ohne Beginn.
Sie bringt dir die Wende
die dich überall begleitet.
Du bist mitten drin.
Unscheinbar
und scheinbar ohne Sinn
opfert sie sich
ohne sich zu beeilen
deiner Zukunft hin.
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