17.08.2009

August und Merel. Über ein Loch, Melancholie und Licht

August habe ich kennengelernt, als ich vor einigen Jahren im Krankenhaus war. Es war Hochsommer, die Stadt um mich herum badete in Licht & Wärme, und ich hatte gerade einen Herzinfarkt erlitten. Ich war ganz & gar nicht draußen, sondern bei mir, sehr nahe bei mir, irgendwie bei einem schwarzen Loch in mir, das sich in meiner Brust befand. Mein Herz, so meinte ich, war zerbrochen – und was sich offenbarte, war eine Öffnung in die Dunkelheit.

Ich starrte ins Schwarze. Das Loch schien mich einzuladen, es sagte: „Ich bin eine Grube, bitte fahre in mich ein“. Ich wollte das aber nicht, weil ich irgendwie spürte, dass ich mich in der Dunkelheit verlieren würde – das Loch schien mir bodenlos zu sein, ohne Treppen oder Durchgänge oder Rastplätze. Hinter dem Loch, befürchtete ich, gab es nur noch das Nichts.

Das Loch übermittelte mir gnadenlos eine schlechte Nachricht: „Du hast nicht richtig gelebt & du bist deswegen selber schuld.“ Doch gab es noch etwas. Ganz tief unten, wo meine Füße standen, herrschte sanft & kaum bemerkbar eine merkwürdige Stimmung, eine Art Sehnsucht, die sich am besten mit den Wörtern bitter & süß beschreiben lässt. Irgendetwas in mir & bei mir & neben mir verbreitete ein bitter-süßes Verlangen, das wie eine leise Bejahung wirkte, eine Verführung ins Nichts.

Als ich nach Tagen & Tagen endlich auf diese Stimmung da ganz unten schaute, sah ich eine kleine schwarze Gestalt, die genauso gut ein Vogel hätte sein können, weil sie sich wie ein lebendiger Haufen glatter Federn anfühlte. Und weil sie außerdem auch einen Schnabel hatte, der orange war, schien die Gestalt mir eine Amsel, oder mindestens mit dem bitter-süßen Singvogel verwandt zu sein.

In meiner Muttersprache heißt die Amsel „Merel“. Und Merel sagte: „Du hast mich erst nicht bemerkt, weil ich in deinem Schatten bin.“ Und ich meinte: „Ich habe gar keinen Schatten. Ich sehe nur ein schwarzes Loch.“ Und Merel: „Das Loch bist du. Warum hast du dich vom Sommerlicht abgewendet? Warum schaust du nur noch nach unten?“ Und ich: „Tue ich das?“ Merel: „Das Licht ist hinter dir. Bitte, drehe dich um!“

Als ich mich umdrehte, stand da groß & weit & blendend eine lächelnde Gestalt, die alles was ich draußen gelassen & vergessen hatte, zusammenzog & verdichtete & mir großzügig präsentierte. Und weil ich mir sicher war, dass die Gestalt ein Sommerwesen war, nannte ich sie „August“.

Seitdem lasse ich mich von August begleiten. Mittlerweile weiß ich, dass er viele Gesichter hat. In gewissem Sinne ist er sehr bescheiden & manchmal sogar fahrlässig, weil er sich nur einmischt, wenn ich nachdrücklich darum bitte. Er meldet sich nie von sich aus & ohne meinen Willen würde er quasi nicht existieren. Auch wenn das Loch sich in mir ausbreitet & ich dringend seine Hilfe brauche, bleibt er auf Distanz.

Wenn ich aber etwas von August erbitte, steht er sofort zur Verfügung & schenkt mir aus seiner Fülle immer wieder sommerliche Einblicke in das Leben, in die Welt, in mich. Seine mächtige Perspektive hat eine ganz bestimmte Qualität: er befindet sich immer in dem wunderbaren Übergang zwischen Blühen und zur Fruchtbildung neigen. Egal was ist, sein Blick sieht strahlende Blumen (immer mit einigen summenden Hummeln drum herum) & in den Blumen sieht er den Ansatz für die Samenbildung.

In der Neigung von der Blüten- zur Fruchtbildung wirkt ein Hauch Melancholie, ein „Herr, es ist Zeit, der Sommer war sehr groß!“ Im Vordergrund steht aber immer das große Vertrauen in Vorgänge, Ereignisse, Abläufe. August braucht eigentlich fast gar nichts, um gerade in der Neigung zum Abschied einen neuen Anfang zu erleben. So etwas Absolutes wie „aufhören“ & „verschwinden“ & „nichts“ gibt es in seinem Blick nicht. August sieht nur „alles“.

Die Frage wie & wo & warum August existiert, finde ich mühselig. Weil ich gerne Dichter bin, bleibe ich bei der einfachen Antwort, dass er meine literarische Schöpfung ist. Ich habe zwar nichts dagegen, ihn einen Engel zu nennen, bin mir aber nicht so sicher, ob dadurch nicht nur Missverständnisse erzeugt werden. Ich habe August einmal gefragt, ob er ein Engel wäre – er antwortete lachend: „Natürlich, natürlich, wenn du das magst! Bitte!“

9 Kommentare:

Michel Gastkemper hat gesagt…

Wunderbare Geschichte, Jelle, ich möchte sogar sagen: fast eine ‘schottische Story’.

Ruthild hat gesagt…

Danke,Jelle, der August lebt und leuchtet in Deiner Sprache!

Anonym hat gesagt…

Lieber Jelle,
ein Teil in mir weiß genau wovon Du schreibst. Lieben Dank für diese schöne und klare alles umfassende Geschichte.
Ich wünsche Dir, dass August immer in Deiner Nähe ist, wenn Du ihn suchst.
Herzliche Grüße, Birgitt

Jelle van der Meulen hat gesagt…

Lieber Michel, ich kenne mich nicht so aus mit Schottland. Was macht die Erzählung "fast schottisch"? Herzlich, Jelle

Michel Gastkemper hat gesagt…

Lieber Jelle,
Die Atmosphäre der ständigen Wechsel zwischen Licht und Dunkelheit; man weiss nimmer was schöner ist, die durchscheinende Helligkeit, oder das düstere Dunkel; das Letzte ist fast noch beeindruckender.
Herzlich,
Michel

Jelle van der Meulen hat gesagt…

Lieber Michel, verstanden! Danke. Jelle

Michael Heinen-Anders hat gesagt…

Der Engel

Mein Engel, Er
lächelt so sanft
wenn ich ihn ahne
so nahe und schützend -
immer wieder reicht er
mir seine Hand, um
von dem trüben Dunkel
meiner Taggedanken
ins lichte Anschauen
seiner Stärke
zu wachsen.
Du, mein Engel,
wenn ich Dich deutlich
ahne, Deine Flügel
fast schaue,
so lächle ich mit Dir,
Geliebter, mein
ständiger Begleiter.

(Michael Heinen-Anders)

Jelle van der Meulen hat gesagt…

Lieber Michael Heinen-Anders, danke sehr für dein Gedicht! Herzlich, Jelle van der Meulen

Anonym hat gesagt…

Ein wunderbares Lebenszeichen.
Vielen Dank
Maria