13.07.2009

Die alte Mühle. Über einen Stein, einen Bach, Esel, Menschen

In einer landschaftlich verborgenen Nische, direkt bei Aachen, steht eine alte Mühle. Ihr großer schwarzer Mühlstein arbeitet längst nicht mehr. Er ruht mit seinem vollen Gewicht auf dem Boden des Zimmers, wo er sich abgemüht hat. Wenn man auf den Stein schaut & innerlich schweigt & lauscht, offenbart sich ein enormes Gedächtnis, das aber ohne Jahreszahlen funktioniert. Der Stein ist bereit all seine Geheimnisse preiszugeben, allerdings ohne zeitlich genaue Angaben. „Ich bin ja kein Historiker“, meint der Stein.

Neben der Mühle strömt noch immer ein Bach. Seine steilen Ufer & seine kräftigen Kurven verraten, dass er richtig arbeiten muss, um ein ordentlicher Bach zu sein. Wenn es heftig regnet, wird er sofort stürmisch. Seine Sprache wird dann laut & überzeugend & mitreißend – er scheint dann zu rufen: „Schluss mit lustig“. Das treibende Wasser wühlt Steine auf, die sich gegen die Kraft nicht wehren können. Und ja, irgendwo am steilen Ufer hat ein Eisvogel sein Nest.

Auf dem grünen-sehr-grünen Mühlen-Gelände gibt es Gärten & Wiesen & mächtige Bäume & Scheunen. Und auf den Wiesen weiden Esel & Schafe. Sie verhalten sich so, als ob sie die Hauptfiguren einer wichtigen Erzählung wären. Ich meine nicht, dass sie Anerkennung verlangen, nein, gar nicht. Sie scheinen den Menschen mitzuteilen: „Wenn ihr unsere Wichtigkeit nicht bemerkt, ist das euer Problem“.

Neben dem Gittertor zum Gelände hat der Hund Juli seine Hütte. Er liegt allerdings meistens faul auf der Wiese oder dem Hof, steigt aber sofort auf seine vier Beine, wenn er herankommende Passanten bemerkt. Seine Aufgabe ist ihm ganz klar: er soll fremden Leuten deutlich machen, dass die Mühle schon vergeben ist. Und wenn ein fremder Hund dabei ist, bellt Juli extra laut, einfach um eventuellen Missverständnissen vorzubeugen.

Der Stein ruht. Der Bach strömt. Die Esel sind souverän Esel. Und der Hund bellt. Dazu wäre noch zu sagen, dass die Blumen blühen & die Bienen summen & die Hühner gackern & die Findlinge träumen & der Kastanie sich gewaltig breit macht & die Katze unbemerkt regiert. Und nein, ich darf die Forellen nicht vergessen, die man im Bach antreffen kann, wenn man Glück hat. Sie scheinen zu zischeln: „Du bildest dir nur ein, dass du uns erwischen kannst“.

So weit, so gut.

In einem landschaftlich verborgenen Winkel, direkt bei Aachen, leben & arbeiten auch noch Menschen. Die alte Mühle beherbergt ein Kinderhaus, mit zurzeit drei Jugendlichen, sieben Kindern & etwa zehn Erwachsenen. Zwei von diesen Erwachsenen arbeiten nicht nur in der Mühle, sondern sie haben dort auch ihre Wohnung. Mit Erwachsenen sind ErzieherInnen, SozialpädagogInnen, eine auszubildende Hausmeisterin, ein Praktikant & ein Zivi gemeint.

Anders als der Stein & der Bach & die Esel & der Hund machen diese Menschen ständig Geschichte. Mit den Menschen & zwischen den Menschen & wegen der Menschen geschieht andauernd dieses oder jenes. Man könnte es auch so sagen: das Kinderhaus in der Mühle ist ein Herzwerk von Biographien & Beziehungen & Ereignissen. Jeden Tag gibt es in der Mühle neue Anlässe zu epischen, lyrischen und dramatischen Erzählungen.

Auch wenn man den Winkel bei Aachen „verborgen“ nennen kann, oder eben „idyllisch“ - das Leben das sich dort jeden Tag wieder entfaltet, wäre eher trocken-treffend als „gesellschaftlich sehr relevant“ zu beschreiben. Was dort geschieht, steht an der Spitze von allem Denkbaren. Wenn man eine Idee davon haben möchte, was zurzeit in der öffentlichen Gesellschaft wirklich los ist: verbleibe eine Woche in der Mühle & mache mit & staune & verstehe! Das Ringen um Normen und Werte, die Höhen und Tiefen in Beziehungen, die Bewältigung der Vergangenheit, das Öffnen der Zukunft, die Selbstfindung & Selbstgestaltung, die gewagten Sprünge ins Leben... In der Mühle kriegt man es hautnah mit.

Und auch, wenn wir Mühle-Menschen es vielleicht immer wieder vergessen: unsere Geschichten sind in das Ruhen des Mühlsteins & in das Strömen des Baches & in das abendliche Singen der Amseln & in das Krähen des Hahnes eingebettet. Ohne diese umgebende Welt von tragenden Hoheiten gäbe es gar keine menschliche Geschichte. Ohne die unveränderliche Souveränität der Esel hätte unsere brennende Sehnsucht nach Erleuchtung keine Bedeutung.

Mit Dank an Sophie Pannitschka

1 Kommentar:

Helden und Raubtiere hat gesagt…

Esel sind manchmal auch wichtige Raubtierbezwinger...

Herzlich
Sebastian