07.11.2008

Zwei Zerrbilder. Über Rudolf Steiner als Esoteriker (3)

In meinen letzten Blogbeiträgen habe ich zwei Zerrbilder von Rudolf Steiner beschrieben, die meines Erachtens einen freien Diskurs über seine Bedeutung verhindern. Beide Zerrbilder, so meine ich, hängen mit einer unausgesprochenen „Verlegenheit“ in Bezug auf das esoterische Denken Steiners zusammen. Wenn diese Verlegenheit keinen Raum bekommt, aus (falsch verstandener) Liebe, entsteht das erste Zerrbild – das zweite tritt in Erscheinung, wenn Hass der Grund dafür ist.

Beide Zerrbilder tragen dazu bei, dass die Bedeutung Rudolf Steiners nicht unbefangen bewertet werden kann. Ich meine, dass seine Arbeit gerade das braucht: eine freie & eben „lockere“ Bewertung. Seine – oft sehr ungewöhnlichen – Gedanken über dieses und jenes können erst dann in der Öffentlichkeit aufgenommen werden, wenn sie ideologisch unbelastet dargestellt und verstanden werden. Von mir aus dürfte man durchaus sagen: na ja, der Typ war manchmal vielleicht ein bisschen verrückt, es lohnt sich aber, sich mit seinen Gedanken auseinander zu setzen.

Und ich meine: Rudolf Steiner hätte nichts dagegen, so gesehen zu werden.

Todesernst & Schwere & Melancholie belasten sein Vermächtnis. Licht & Heiterkeit & Vertrauen sind aus seiner öffentlichen Aura fast komplett verschwunden. Für Freund und Feind ist Rudolf Steiner gerade die Gestalt geworden, die er nicht sein wollte: der dunkle Prophet im schwarzen Anzug. Das Spielerische & das Kindliche & das immer wieder neu im Kommen sein wollen – dieser Rudolf Steiner ist hinter den Zerrbildern verschwunden. (Ich meine: nur ein Spielfilm über seine Person könnte seine Gestalt retten. Jeremy Irons müsste dann die Hauptrolle spielen.)

Wie ist Rudolf Steiner als Esoteriker zu verstehen? Und was heißt das eigentlich: esoterisch denken? Ich werde es nicht schaffen, diese Fragen hier zu beantworten. (In meinem Buch „Mittendrin“ habe ich meine Ideen zu dieser Frage bereits dazu gegeben, und es gibt noch ein paar gute Texte mehr von anderen Leute darüber. Heute aber, und in meinen Worten von heute:

Das esoterische Denken wird durch die Annahme begründet, dass nicht nur das rational-begriffliche Denken ein vertrauensvoller Ausdruck unseres Willens zur Wahrheit ist. Im Grunde genommen werden alle seelischen Fähigkeiten (englisch: faculties) als Erscheinungen verstanden, die prinzipiell mit dem Wahrheitsempfinden zu tun haben. In unseren Traumbildern & Gefühlen & Sehnsüchten & Stimmungen & Intentionen & Intuitionen drückt sich der Wille zur Wahrheit aus.

Laut der frühe Friedrich Nietzsche hat Sokrates damit angefangen die Welt der Bilder (den Mythos) zu demontieren. Mit Sokrates fängt der schmale Weg des rational-begrifflichen Denkens an. Seitdem erlebt unser Wille zur Wahrheit Verlust nach Verlust. Was heute übrig geblieben ist, ist ein Denken der (wirtschaftlichen) Nützlichkeit. Die Götter sind tot, die Religion ist tot, die Moral ist tot, und als letztes droht auch noch die Kunst zu sterben. Die Kunst ist zur ästhetischen Beliebigkeit geworden.

Und das heißt: der Wille zur Wahrheit ist in einen engen Bunker hinter die Gestirne verwiesen worden. Das Herz denkt nicht mehr, Bauch und Knie (Joseph Beuys: „Ich denke sowieso mit meinem Knie“) schon gar nicht. Der Wahrheitsmensch ist ein rationales Gespenst geworden, das sich in Bezug auf die Wahrheit von seiner Seele und seinem Körper entfremdet hat. Der Körper ist keine empfindliche Erscheinung mehr, keine Landschaft-zum-Erwachen, sondern eine Maschine die uns „produziert“.

Es gab aber nicht nur Verluste. Der Weg von Sokrates bis zur Aufklärung (Descartes, Kant) brachte laut Rudolf Steiner auch einen großen Gewinn, nämlich: Freiheit. Im begrifflichen Denken macht der Mensch sich von der Gewalt-der-gegebenen-Bedeutungen frei. Der Mensch kann frei denkend zum Schöpfer werden.

Das Monopol des rational-begrifflichen Denkens führte aber, so meinte Steiner, zu neuen Unfreiheiten. Deswegen hat er dieses Monopol angegriffen, und zwar methodisch. Er hat sich bemüht, die verloren gegangenen Wahrheitsbezüge auf eine moderne Art und Weise neu zu greifen. Wenn er zum Beispiel von „Imagination“ spricht, geht es ihm darum, die Beziehung zur Wahrheit von „Bildern“ zu untersuchen. Er geht dabei so vor, dass er sich bemüht, die – oft sehr großen – Schritte, die er macht, auch begrifflich nachvollziehbar darzustellen.

Das ist ihm aber nicht immer gelungen. In seinen Texten & Vorträgen fliegen die Bälle oft so frei im Raum umher, dass man nicht mehr weiß, welches Spiel er eigentlich gerade spielt. Seine Begriffe & Imaginationen & Inspirationen & Intuitionen können so virtuos durcheinander spielen, dass einem der Überblick verloren geht.

Dazu kommt, dass er immer wieder & immer wieder neue Versuche gemacht hat. Für mein Verständnis ist das übrigens die schönste Seite von Rudolf Steiner: in dem im Kommen sein, war er nicht zu stoppen. Und seine Schwäche lag aber genau in diesem Umstand: er machte so viele Versuche, dass er sich um die Bewertung-im-Nachhinein nicht kümmern wollte & konnte. Er hat sehr viele – oft sehr interessante! - Aussagen einfach im Raum stehen lassen.

Und genau so wichtig ist: seine damaligen Zuhörer haben kaum nachgefragt. Man traute sich nicht, den großen „Eingeweihten“ kritisch zu hinterfragen. Ich meine aber, dass seine großartige Arbeit erst dann fruchtbar wird, wenn der Diskurs über seine Person & seine Bedeutung frei wird. Und das geht erst, wenn der Schützengrabenkrieg zwischen den zwei Zerrbildern aufhört.

2 Kommentare:

Jasna Caluk hat gesagt…

Großartiger Beitrag, danke dafür!

"Er hat sehr viele – oft sehr interessante! - Aussagen einfach im Raum stehen lassen."

Dieser Satz ist mir besonders aufgefallen und mir viel sofort ein "Die Ressource Schüler"! und die Tatsache, dass Menschen sich nicht trauen kritisch zu hinterfragen, weil innerlich ein Gefühl entsteht, man würde die Person kritisieren (die man ja eigentlich bewundert und ehrt) und nicht die Aussage, was eben meiner Ansicht nach genau zu diesem Hindernis führt, dass Aussagen, die weiterer Inspiration der Schüler bedürfen, garnicht weiter WERDEN können.

Vielleicht hängt es doch auch damit zusammen, was Zuhörer bzw. Schüler der Lehren Rudolf Steiners sich im Studieren dieser erwarten: Eine Identifizierung oder ein Verständnis mit der Person Rudolf Steiner bzw. mit der Anthroposophie als Gruppierung oder eine Identifizierung und ein Verständnis mit der LEHRE SELBST bzw. welchem von beiden sie die größere Relevanz zuschreiben.

Das war jetzt garnicht so leicht in Worte zu fassen, was ich ausdrücken wollte.

Herzliche Grüsse
Jasna Caluk

Anak hat gesagt…

namaste ihr lieben,
ich wuerde es einfach so definieren: wo rudolf steiner aufgehoert hat, fangen wir (die jetzige generation) erst an.
mit tigergeschrei oder indianergebruell auf ins wirkliche leben. vom wissen ins erfahrene ins sein.
herzlichst
anka