28.11.2008

Parzivals Weg. Über Wissenschaft und Hingabe

Der Unterschied zwischen guten und schlechten Texten liegt darin, dass gute Texte eine Form haben, die dem Inhalt entsprechen. Schlechte Texte haben eine Form, die von irgendwo hergeholt werden, dass heißt, nicht aus & mit dem Inhalt entstanden sind. Ganz bestimmte Inhalte brauchen ganz bestimmte Formen, um zu werden was sie sind, nämlich ganz bestimmte Inhalte. Und ganz bestimmte Formen brauchen ganz bestimmte Inhalte, um zu werden was sie sind, nämlich ganz bestimmte Formen.

Ich komme auf diesen Gedanken auf Grund der Veröffentlichung einer Magisterarbeit im Fachbereich Germanistik. Die Autorin heißt Sophie Pannitschka. Der Titel ihres Buches lautet: „Mitspieler werden. Parzivâls Weg – vom Mittelalter in die Postmoderne. Identitätsentfaltung im ´Roten Ritter` von Adolf Muschg“.

Ich kenne die Autorin seit dem Erscheinen von Bernard Lievegoeds letztem Buch „Über die Rettung der Seele“. In diesem Buch spielt die Gestalt von Parzival eine große Rolle. Lievegoed befreit den mittelalterlichen Ritter von der Geschichte und beschreibt ihn als einen inspirierenden Geist bis in die heutige Zeit und sogar in die Zukunft hinein. Er macht, was Esoterikern eigen ist und verleiht der Gestalt eine wesentliche (oder mit Heidegger: eigentliche) Wirkung.

Seitdem ist die Autorin von Parzival berührt. Sie macht keinen Hehl daraus. Und als sie vor der Frage stand, welchem Thema sie sich in ihrer Magisterarbeit zuwenden würde, hat sie sich für „Der Rote Ritter“ des schweizerischen Schriftstellers Adolf Muschg entschieden. In diesem Roman verarbeitet & ergänzt & ändert Muschg die mittelalterlichen Angaben von Wolfram von Eschenbach und kreiert als „postmoderner Gegenwartsautor“ seine eigene Parzivalgeschichte. „Leitmotivisch“, schreibt Sophie Pannitschka, „ist der Roman [...] von einem Dialog zwischen Wolfram und Muschg durchzogen“.

In ihrer Magisterarbeit beschreibt Sophie Pannitschka, wie die Identitäten der Romanfiguren „aus einander hervorgehen“. Im Herz der Geschichte steht klipp und klar Parzival. Beschrieben wird aber, dass seine Person Schritt für Schritt aus den diversen Begegnungen entsteht. Ohne Herzeloyde & Sigune & Gurnemanz & Kundry & Anfortas & Gawan & Trevrizent kein Parzival und schon gar kein Gralsritter. In ihrer Arbeit greift sie indirekt die übliche Vorstellung an, dass ein „Ich“ sich souverän und linear entfaltet.

Sophie Pannitschka spricht in ihre Arbeit von „sozialen Netzwerken“. Sie schaut nicht auf „Kerne“, sondern auf Konstellationen von Kernen. Und in diesen Konstellationen von Kernen gibt es erkennbare Subjekte, (die aber nicht mit „Kernen“ verwechselt werden dürfen), so wie „Ermöglichungsfiguren“, „Erkenntnisfiguren“, „Opferfiguren“, „Orientierungsfiguren“ und „Gegenfiguren“. Parzivals Identität – Inhalt und Form seines Ichs – wird als eine periphere Erscheinung dargestellt.

Die Form der Arbeit-als-Text spiegelt den Inhalt. Das fängt schon in der ersten Bewegung des Titels an: „Mitspieler werden“. Alle Beteiligten (die Leser, die Autorin) werden direkt angesprochen. Der Text hat diesbezüglich übrigens eine bemerkenswerte Widmung: „Meinem Schicksalsnetzwerk“! Interessant ist die Tatsache, dass auch das Buch-als-Ding das gemeinte Schicksalsnetzwerk intensivieren und erweitern wird. An dieser Stelle reichen Inhalt und Form einander die Hand. Was könnte ein Buch anderes sein, als ein „Bedeutungsknoten“ in einem sozialen Flechtwerk?

Ebenso wesentlich für die Struktur des Textes scheint mir zu sein, dass die Arbeit in einen Prolog und einen Epilog eingebettet ist. Wenn der wissenschaftliche Haupttext eine Tür ist, bilden Prolog und Epilog die Angeln. Für die eigentliche wissenschaftliche Arbeit sind Prolog und Epilog überflüssig. Sie schildern die persönlichen Umstände – wenn man will: die schicksalsbildenden Faktoren – die die Arbeit begleiten. Vom rein wissenschaftlichen Inhalt her, werden sie nicht gebraucht.

Im Prolog schildert Sophie Pannitschka eine Begegnung, die sie mit dem Schriftsteller Adolf Muschg hatte. Sie schreibt, dass was ihr in Muschg entgegenkam „nicht nur Kompetenz, mittelalterliche, literarische Kompetenz, sondern vor allem Hingabe“ war. Und: „Auch sein, wie unser aller Leben, ist mit dem Parzivâls verknüpft – und daraus macht er keinen Hehl“. Und im Epilog: „Ich bin, als intensive Leserin, im Laufe der Zeit ein Teil des Dialoges geworden. [...] Ich bin durch diese Tür zu mir selbst gegangen“.

Die Bedeutung von Prolog und Epilog geht über die wissenschaftliche Ebene hinaus und macht den Text zum Ereignis. Anders gesagt: durch die beiden Texte kriegt das Ganze eine gespannte Form, die mit dem gespannten Inhalt übereinstimmt. Prolog und Epilog „tun“ gerade das, von dem die Inhalte sprechen, was man tun soll.



Sophie Pannitschka: Mitspieler werden. Parzivâls Weg - vom Mittelalter in die Postmoderne. Identitätsentfaltung im „Roten Ritter“ von Adolf Muschg. Tectum Verlag, Marburg, 2008. Erhältlich im Buchhandel. Oder bei www.amazon.de

4 Kommentare:

Hermann Finkelsteen hat gesagt…

Lieber Jelle van der Meulen,
ich finde die Szene mit Treverizent sehr eindrücklich, vor allem wie Muschg sie beschreibt. Sowas bräuchte ich jetzt einfach abhängen bei einem Mönch!!!!!
"Und wie ist Dir Oheim?"
Herzlichst Herrmann Finkelteen
P.S.Haben Sie Murat gesehen by the way?

Anonym hat gesagt…

„Abhängen bei einem Mönch“
Trevrizent ist einer der wenigen, die Parzival auf seinem Weg „erkennen“. Als der verzweifelte Held am Karfreitag zu seiner Höhle kommt, fragt er bang, ob er nicht störe und
Trevrizent antwortet: „Wer gestört ist, muss stören“ (S. 632). Trevrizent nimmt Parzival in seiner Einsiedelei regelrecht auf, der Suchende zieht seine Rüstung aus und kleidet sich in ein einfaches Leinenhemd, und der Einsiedler beginnt, ihn das Alphabet zu lehren. Wie soll er das, was einst auf dem Gral geschrieben sein wird, überhaupt „lesen“ wenn er die Schriftkunst nicht beherrscht? Muschg „realisiert“ in dieser Szene eine Transformation der Geschehnisse auf die Bewusstseinsebene des heutigen Menschen. Trevrizent wird nicht als ein bußefordernder Mönch präsentiert, sondern als fähiger Mitmensch, der sein Wissen weitergibt. Parzival wird „eingeweiht“ - in die Schrift- und Lesekunst und lernt somit die Zeichen im Buch des Lebens zu lesen.

„Wie ist dir Oheim?“
Wolfram von Eschenbach lässt Trevrizent in der Einsiedelei Parzival soufflieren, was er auf der Gralsburg hätte sagen müssen: „hêrre, wie stêt iwer nôt?“ Und Parzival ist es selber, der die Frage umformuliert - in die Du-Form - auf Grund seiner eigenen durchlittenen Erfahrungen: „œheim, waz wirret dier?“. Muschg spielt die Verwandlung Parzivals, seinen Zweifel, das Erleben, Erkennen und Wieder-gut-machen-Wollen, die Erfahrung der Wunde in der Welt und der Riß, der durch das Leben geht - Schrift und Leben unterscheiden sich! - in den entsprechenden Kapiteln voll aus.
Die Bedeutung der physischen Verwandtschaft verwandelt sich in die seelische, mitmenschliche Verwandtschaft und entsteht in dem Moment, als das Er-kennen einsetzt und das gegenseitige Ver-kennen abnimmt. Durch das Mitgefühl für den Anderen - Anfortas - beginnt die Heilung.

Herzlich, Sophie Pannitschka

Jelle van der Meulen hat gesagt…

Lieber Hermann Finkelsteen, abhängen bei einem Mönch könnte ich manchmal gut gebrauchen. Gerade um - wie Sophie Pannitschka oben beschreibt - das Alphabet des Lebens zu lernen. Es gibt in meinem Leben viel unlesbares. Oheim, wie es mir geht? Pfff... Und: Mmmm... Und: Aah... Nein, Murat habe ich nicht gesehen. Vielleicht können sie ihn herzlich von mir grüßen? Jelle van der Meulen

Anonym hat gesagt…

Hallo.
Ich mochte mit Ihrer Website jellevandermeulen.blogspot.com Links tauschen