21.11.2008

Was Sammy heute Samuel sagt. Über "spocken"

Lieber Samuel, gestern bin ich raus gegangen. Ich habe gedacht: es wird mal Zeit, dass ich mir die Gegend, in der Du lebst, anschaue. Ich hatte verstanden, dass Dir die Straßen & Plätze & Ecken & Kneipen in deinem Viertel wichtig sind. Immer wieder hast Du von der stummen Sprache der Stadt geredet, von den Zeichen & Statements & Behauptungen, die laut-still von etwas ganz Bestimmtem sprechen. Ich wollte endlich mal wissen, wie die Zeichen & Statements & Behauptungen in meinen Augen aussehen.

Und Du hast recht: sie sprechen von einer Unterwelt. Schon die Namen der Bars sind wie Türen nach unten. „Furchtbar“, heißt eine Bar, und „Umbruch“ eine zweite. Und komisch: vier Namen haben mit dem Kommunismus zu tun: „Che“ & „MiG“ & „Sovjetbar“ & „Roter Platz“. Es ist, als ob die Wende von 1989 in deinem Viertel eine eigene Bedeutung hat.

Wo du lebst, so sagen die Einwohner von Köln, „bebt die Stadt“. Damit ist gemeint, dass die Musik laut ist & die Menschen in der dunklen Nacht feiern & feiern & feiern. Sie stehen beisammen, trinken Kölsch und bewegen etwas. Irgendwie scheint es mir so zu sein, dass man in deinem Viertel versucht die Wirklichkeit, die im Alltag bedeckt ist, aufzudecken.

In deinem Viertel herrscht die Allnacht. Sobald am Abend die Sonne verschwindet, erwachen in Kneipen & Ecken & Innenhöfen dunkle Gestalten zum Leben, ich würde sagen: verlassene & vergessene & manchmal unhöfliche Gesichter, die sich selber nicht kennen & keine Namen haben & deswegen „MiG“ genannt werden wollen. Nicht weil „MiG“ ein russisches Militärflugzeug ist, oh nein, die Gestalten wissen das vielleicht gar nicht – es reicht, dass der Name verboten ist, dass heißt, auf einer Verneinung basiert.

Und so erscheinen die allnächtlichen Bedeutungen in deinem Viertel über eine verdoppelte Distanz: ein Nicht-Wissen und ein Verbot. Und umgeben von diesen Bedeutungen stehen die Menschen beisammen, trinken Kölsch und bewegen etwas. Sie lassen die bebende Verneinung an sich herankommen, verstehen gar nichts davon, merken aber, dass sich etwas bewegt. Und obwohl dieses Bewegen sprachlich auf einem Nicht-Wissen & Verbot basiert, sich also in irreführende Gestalten hüllt, spüren die Menschen: wir befinden uns auf dem richtigen Weg.

Weil sie wissen, dass sich ohne Irreführung nichts bewegt.

Ich sah zwei Frauen und einen Mann. Sie standen beisammen, tranken Kölsch und bewegten etwas. Und weil ich noch immer wie ein Kind aussehe - bin ich natürlich längst nicht mehr! - haben sie nicht auf mich geachtet und einfach weiter geredet. Man braucht sich durch ein Kind nicht stören zu lassen. Meine Neugier, Samuel, war groß, weil sie intensiv gesprochen & gelacht & widersprochen haben. Als ich die drei sah, meinte ich: da ist richtig etwas los.

In der Sprache war aber gar nichts los. „Weißt du“, sagte eine Frau, „er wollte nur ficken!“ „Das glaube ich dir“, sagte die andere Frau. „Stell dir vor“, sagte die erste, „mit diesem Mann. Nie, nie, nie...“ „Oh nein“, lachte die zweite Frau, „ich kann mir gar nicht vorstellen, dass du mit diesem Mann...“ „Ich weiß nicht“, sagte die erste Frau, „wie er überhaupt auf diesen Gedanken kam. Irgendwie muss da oben in seinem Kopf etwas grundsätzlich durcheinander geraten sein.“

„Wie hieß der Typ auch wieder?“ fragte der Mann. „Spock“, sagte die erste Frau. „Spock, Spock, Spock...“ Und der Mann wiederholte: „Spock, Spock, Spock... Nun ja, ich kenne keinen Spock. Und er ist Professor?“ „Genau“, sagte die Frau, „letztes Jahr geworden. Und sein Thema ist ganz spannend: Pilze in der Großstadt“. „Macht mich richtig scharf“, sagte der Mann lachend. „Spock, Spock, Spock“, sagte die zweite Frau, „das schmeckt nach trockenem Sex.“

Also, Samuel, in der Sprache gab es gar keine Bedeutungen. Was gesagt wurde, war belanglos. Nicht belanglos war aber die Hitze, die heiße Heiligkeit, die Tack-Spock-Tack-Spock-Tack-Spock Bewegung, die knackige Verwobenheit der Worte, die Schnelligkeit, das Theater... Als ich meine Augen schloss – manchmal muss man das machen, um zu wissen, was man sieht – sah ich Folgendes:

Ich sah drei Menschen, die Bewegung suchen. Ich sah drei Menschen, die irgendwie spüren, dass hinter oder unter oder über den Worten ein Leben fließt, sich eine Kraft bewegt, ein Feuer brennt... Dort wird gehandelt, getanzt, getötet, gefickt, gegessen, getrunken, gespielt, gekämpft, ohne zu wissen warum. Oder besser gesagt: dort ist das Warum belanglos. Ich sah drei Menschen, die sehnsüchtig teilnehmen wollten an einem abgründigen Bewegen.

In deinem Viertel wird gespockt.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Noch ein Blick aus dem Fenster! Aber in dieser Ecke gibt es doch wieder neue Rosen jedes Jahr! In meiner gibt es die "Fruchtbar", ein Obstgeschäft also mit sehr netten Verkäufern mit tiefgehenden Gedanken...