05.07.2008

Mein Lehrer Pietersen tauchte nicht auf

Ich erinnere mich noch an meinen Lehrer Pietersen – einen großen Mann, der sich geschmeidig bewegte, immer in einem braunen Anzug vor der Klasse stand und offensichtlich problemlos von Gott, Afrika, Willem van Oranje, amerikanischen Soldaten und vor allem Grammatik sprach. Ich saß ganz hinten im Klassenraum und meine Aufmerksamkeit war ganz auf ihn gerichtet.

Ich war neun Jahre alt. Der Lehrer Pietersen stand da vorne und sprach. Er schien irgendwie auf den Inhalten, von denen er erzählte, zu treiben, wie ein Stück Holz auf sanft fließendem Wasser. Es waren die Inhalte, die ihn bewegten: er kam, so schien es mir, nie davon los, um zum Beispiel einen Blick auf mich zu werfen. Ich hatte das Gefühl, in seiner Welt nicht zu existieren. Seine Aufmerksamkeit betraf ganz und gar nicht mich, und ich meinte, dass er auch die anderen Kinder nicht wirklich wahrnahm. Ja, als ein Klassenkamerad zu laut war, nahm er das schon war. „Mattheus, bald ist Pause“, sagte er dann geschmeidig und ohne Ärger, „dann kannst du in aller Ruhe mit Hans reden“. Mattheus muss aber das Gefühl gehabt haben, dass nicht er gemeint war, sondern sein zu lautes Sprechen.

Der Lehrer Pietersen war unerreichbar. Seine Aufmerksamkeit und meine Aufmerksamkeit – oft läuft das ja über Blicke – haben einander nie gekreuzt, berührt, getroffen. Es gab nur ein einziges Mal eine Ausnahme – ein Ereignis, dass in meinem weiteren Leben eine nicht unbedeutende Rolle gespielt hat. Es betraf eine Situation, vor der ich damals wie heute eine richtige Angst hatte und habe. Die Tatsache, dass gerade in dieser Situation das Gespür der Nähe auf einmal da war, hat mich als Erwachsenen sehr beschäftigt.

Ich war ein braves Schulkind. Aus irgendeinem Grund – ich weiss nicht mehr, was geschehen war – hatte der Lehrer Pietersen mich aber einmal in ein kleines Zimmer ganz oben unter dem Dach des Schulgebäudes eingesperrt. Es wird etwa drei Uhr nachmittags gewesen sein. Er war sofort wieder runter gegangen und ich wartete. Weil die Schulzeit gewöhnlich um vier Uhr zu Ende war, meinte ich, dass ich noch etwa eine Stunde da oben zu bleiben hätte. Es wurde aber vier, es wurde fünf, es wurde halb sechs... Und mein Lehrer Pietersen tauchte nicht auf.

Ich war verzweifelt. Ins Leere hinein zu warten, kann ich noch immer nicht. Warten ist okay – aber nur dann, wenn ich weiss, wie lange ich ungefähr zu warten habe. Die Tatsache aber, dass ich nicht wusste ob der Lehrer mich einfach vergessen hatte oder mich bewußt warten ließ, gab mir richtig zu schaffen. Ich saß da im Dachzimmer auf einem Stuhl und hatte Angst. Vor mir gab es nur eine leere & unbestimmte & dunkle Zeit.

Um sechs kam er. Ich hörte ihn mit schnellen Schritten die Treppe hoch kommen. Er öffnete mit dem Schlüssel die Tür, kam auf mich zu, kniete vor mir nieder, nahm meine beiden Hände und schaute mir in die Augen. „Es tut mir leid“, sagte er, „ich habe dich komplett vergessen. Du Armer...“ Später stellte sich heraus, dass mein Vater ihn zu Hause mit der Frage angerufen hatte, wo ich denn blieb. (Denn ich war ja ein braves Kind, und immer pünklich um halb fünf wieder zu Hause.)

„Du Armer...“. In seiner Stimme, seinen Händen, seinen Augen war auf einmal eine Aufmerksamkeit zu spüren, die mich völlig umgab, vereinnahmte, trug und innerlich wieder auf die Beine stellte... Und ich war dankbar, eigentlich nur dankbar. Ich war dankbar, weil ich auf einmal in seiner Welt existierte und offensichtlich genau so wichtig war wie Willem van Oranje oder amerikanische Soldaten. Und obwohl in den nächsten Tagen nichts mehr von der Nähe zu merken war, ist sie lange als eine Aura geblieben.

Bis heute weiss ich noch, wie mein Lehrer Pietersen gerochen hat, als er vor mir kniete.

4 Kommentare:

Anak hat gesagt…

oh wie schoen. diese aufmerksamkeit, diese komplette annahme unseres seins, das mitgefuehl, diese liebe, das ist das einzige, was noetig ist.
dies zu erfahren in kurzen momenten im leben, kann uns wieder "auf die beine stellen", uns einen sinn geben, kraft und energie geben.
es sind momente der bedingungslosen liebe.
licht und liebe
anak

Anonym hat gesagt…

Martin Buber nennt diese Nichtaufmerksamkeit: Vergegnung. Die echte Aufmerksamkeit kann Begegnung werden. Ist eine Aufmerksamkeit aus Angst und Beschämung vielleicht nur der Beginn einer möglichen Begegnung?!
Angst kann man riechen.Wahre Begegnung brauchen wir alle.Nur laufen wir oft wie Gespenster aneinander vorbei.
Wer kennt die Nicht-Wahrnehmung nicht?
Lieben Gruß und diese Geschichte erschüttert mich, denn: Gebe jedem Kind im Kindergarten einen Moment lang deine Echte Aufmerksamkeit, sagte Henning Köhler.Und ich frage mich jeden Tag habe ich das auch gemacht? Birgit

Anonym hat gesagt…

Der Bericht berührt mich sehr, weil er mich an meine Kindheit erinnert. Mein Vater wollte mich von der Schule abholen. Ich wartete vor der Schule aber er kam nicht. Zuerst dachte ich, dass mein Vater bei seiner Arbeit aufgehalten wurde aber nach einer Stunde Warten ging ich zur Bushaltestelle. Nach einer weiteren Stunde oder länger fuhr ich dann mit dem Bus nach Hause. Als ich zu Hause ankam war mein Vater schon da.
Ich kann mich nicht erinnern, dass er sich entschuldigt hat oder mir erklärt hat, warum er mich nicht abgeholt hat. Aber an das Gefühl "vergessen worden zu sein" erinnere ich mich deutlich.

Jostein hat gesagt…

Lieber Herr van der Meulen,

mit Interesse lese ich manchmal Ihre Blogs. Diesmal war ich stark berührt von Ihrer Schulgeschichte der Vergegnung und von der unerwarteten Begegnung mit Ihrem Lehrer und seinem Geruch. Solche intimen Erinnerungen haben einen großen Wert, wenn sie preisgegeben werden. Da spüre ich hindurch noch einen karmischen Hauch Ihres Wesens, und ich erinnere mich, wie wichtig Ihre Taten für Bernhard Lievegoed waren, als Sie ihn am Sterbebett begleiteten. Ohne diese Erfahrung als Kind, hätten Sie wahrscheinlich Lievegoed nicht so nahe kommen können. Seine letzten Bücher waren damals für mich aussergewöhnlich wichtig, um meinen Weg mit der Anthroposophie und der Karmaforschung weiter zu finden. Haben Sie tausend mal Dank!

Mit herzlichen Grüßen

Jostein Sæther