10.09.2011

Götz Aly. "Warum die Deutschen? Warum die Juden?"

In seiner vor Kurzem erschienenen Publikation „Warum die Deutschen? Warum die Juden?“ versucht der Historiker und Politikwissenschaftler Götz Aly den Holocaust als eine Beziehungsfrage zu verstehen. Er geht der Thematik nach, was etwa ab 1800 zwischen den Deutschen und den Juden geschehen ist und beschreibt die Spannungen, die dazu geführt haben, dass im Dritten Reich sechs Millionen Juden umgebracht wurden.

Die Kraft des Buches liegt in seiner Einfachheit. Götz Aly begibt sich kaum in philosophische oder zeitgeschichtliche Überlegungen, verzichtet fast komplett auf „grundlegende“ Fragen über das Gute und das Böse, spekuliert nicht über weltanschauliche Hintergründe, sondern lässt einfach Tatsachen sprechen. Der Leser begegnet einem sauberen Historiker mit trockenen Fingern, der sich durch Hunderte von schriftlichen Quellen gearbeitet hat. Viel mehr als zitieren, macht Götz Aly im Grunde genommen nicht.

Ein paar Tatsachen reichen, um eine Vorstellung davon zu bekommen, was das Buch beinhaltet. „In Preußen“, stellt Aly beispielsweise fest, „lag der Anteil jüdischer Studenten (an den Universitäten. JvdM) 1886/87 bei knapp zehn Prozent, der Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung bei knapp einem Prozent“. Und: „In der Regel begannen Juden das Studium erheblich früher und studierten schneller als die christliche Kommilitonen“. Ein preußischer Statistiker bemerkt in diesen Jahren: „Die jüdischen Studierenden scheinen danach durchschnittlich mehr Befähigung zu besitzen und mehr Fleiß zu entwickeln als die Christen“.

Und in einem Inspektionsbericht des großherzoglichen badischen Bezirksamts über die Geschicke des südbadischen Gailingen: „Noch vor 40 bis 50 Jahren hatte die große Mehrzahl der Israeliten dem ärmeren Teil der Einwohnerschaft angehört“. Jetzt übertrafen sie die christlichen Bürger „bedeutend an Vermögen.“ Der Inspektor stellt fest: „Fast alle größeren Häuser sind im Besitz von Israeliten“. Die Handelskammer der Stadt Köln beschrieb bereits Anfang 1800 die jüdischen Bürger als „üppiges Schlingkraut".

Die Deutschen dagegen zeigten sich als langsam, konservativ, träge. Sie kamen mit den rasanten Entwicklungen in der Gesellschaft nicht mit. Sie waren „die Dümmeren“, die an einem „sich über sich selbst unklaren Gefühl“ litten (Ludwig Bamberger, 1880). Der Zionist Heinrich York-Steiner schreibt 1932: „Das deutsche Selbstempfinden ist das unsicherste aller großen Nationen Europas“. Die Deutschen bleiben in den traditionellen und ländlichen Verhältnissen hängen, die Juden steigen aktiv ins moderne und städtische Leben ein.

Das Ergebnis war Neid, der sich über Jahrzehnte in vielen Deutschen einnistete. Der Neid wurde – wie ein Hund – ein fester Bestandteil des deutschen Haushalts, wurde eigentlich nicht beachtet, auch nicht wenn er gelegentlich laut gebellt hat. Langsam wurde der Jude zur Karikatur: er ist nicht schlau, sondern listig, nicht fleißig, sondern gierig, nicht wach, sondern herrschend...

In meinen Worten: Der Neid machte die jüdischen Bürger zu Doppelgängern. Sie wurden nur noch als bedrohende Unwesen wahrgenommen, ohne Seele, ohne Biographie, ohne Berechtigung. Sie sind die Schatten der Deutschen geworden. Ich brauche an dieser Stelle nicht auszuführen, wie in den dreißiger Jahren die Nationalsozialisten das über Jahrzehnte entstandene Schattenreich instrumentalisiert haben.

In der Einleitung seines – sehr überzeugenden – Buches spricht Götz Aly von „der Frage aller Fragen“: „Warum ermordeten Deutsche sechs Millionen Männer, Frauen und Kinder, und das aus einem einzigen Grund: weil sie Juden waren?“ Übrig bleibt die Frage: Hat Aly nun mit seinem Buch diese schwerwiegende Frage beantwortet? Ich würde sagen: mehr als halbwegs, allerdings nicht vollständig.

Im Kern seiner Betrachtungen steht der Neid. Um individuell oder kollektiv mit den verheerenden Wirkungen des Neides umgehen zu können, werden erstens Selbsterkenntnis und zweitens Ideen und Begriffe gebraucht. Nicht der Neid alleine war das Problem, sondern auch die Tatsache, dass eine kleinliche weltanschauliche Gesinnung herrschte. In seinen Betrachtungen wird klar, dass im damaligen Deutschland eine sehr beschränkte Auffassung von - zum Beispiel - Freiheit herrschte. Die Deutschen trauten sich eine innere souveräne Freiheit nicht zu.

Wie ist zu verstehen, dass gerade in Deutschland, dem Land der idealistischen Dichter und Philosophen, der großen Ideen und Begriffe, diese Wirkung weitgehend verloren ging? Was hatte dazu geführt, dass dem Neid nicht eine klare Stirn geboten wurde? Mir scheint diese Frage noch immer frei im Raum zu schweben. Und vermutlich ist es so, dass wir gerade auf der gedanklichen Ebene, heute nicht viel weiter sind als damals. Götz Aly hat deswegen auch völlig recht, wenn er am Ende seines Buches schreibt: „Ein Ereignis, das dem Holocaust der Struktur nach ähnlich ist, kann sich wiederholen".

5 Kommentare:

Michael Heinen-Anders hat gesagt…

Rudolf Steiner erwartete bereits 1924 für 1933 das Auftauchen des "Tiers aus dem Abgrund", welches erst überwunden werden müsse, um den ätherischen Christus schauen zu können.
Im Ergebnis muss man festhalten: Das deutsche Volk hat sich von "dem Tier" blenden lassen und hat es eben nicht überwunden - und so nahm die schreckliche Geschichte der Jahre 1933 - 1945 eben ihren Lauf.
Näheres dazu ist nachzulesen in meinem Werk "Aus anthroposophischen Zusammenhängen".

Herzlich,

Michael Heinen-Anders

Ruthild Soltau hat gesagt…

Lieber Jelle, ja,ich habe auch den Eindruck, dass Neid und Eifersucht Seeleneigenschaften sind, über die wir in Gemeinschaften am wenigsten offen reden können. Darum richten sie im Dunkeln sehr viel Schlimmes an. Ich wünsche auch, dass wir in kleinen und großen Gemeinschaften dahin kommen, so offen darüber zu sprechen, wie man heute über Sex spricht. Herzliche Grüße Ruthild

Anonym hat gesagt…

Ich bin Deutsche.

Keine Jüdin,
nicht christlich getauft,
nicht zu Beginn des letzten Jahrhunderts lebend.

Und dennoch, ich fühle mich angesprochen von dem Text. Berührt. Auch ein bisschen bedrängt.

Die Deutsche Schuld ist eine schwere Last. Und sie wird über Generationen weitergetragen, denn sie ist unentschuldbar, der Knoten von damals ist noch immer fest verknotet.

Neid?

Ich werde mal nachfühlen, welche Farbe diese Qualität in mir hat.

Ch.

Maria hat gesagt…

Viele dukle Quellen kommen in dieser Zeit an das Licht(werden also von unserem Bewusstsein beleuchtet).
Die Vergangenheit kann neu bewältigt werden.
Es gibt etliche (neue) Instrumente dazu.
An vielen Orten arbeiten Menschen daran in ernst-liebend tätiger Praxis Klärungs-und Christuslichtarbeit die Dinge anzuschauen, zu ermessen und dazu zu verhelfen, sie zu verwandeln.
So wie die Nahrung durch den Leib wandert und ausgeschieden wird- auf dem Weg zur Ausscheidung verwandelt wird- so sind wir heutzutage neu in der Lage, auch seelisch und geistig "das Heft neu in die Hand zu nehmen".
(die moderne Quantenphysik erklärt die Synchronizität zwischen echt erlebtem (gehandeltem) inneren Schritt und äusserer (in der Zeit versetzt stattfindender) vom Menschen selbst erschaffener Wirklichkeit.
Wie müde wir sind ist das eine, zweifelsfrei- wie groß jedoch die Sehnsucht ist, den Willen zu erkraften und den Tag zu nutzen- hängt von uns Allen ab.
Ich habe den Eindruck gewonnen, dass wir darum jetzt hier sind,- Jede und Jeder auf seine Weise.

Also, Carpe diem!
(Erst will und muss die Wahrheit an das Licht, dann erst kann die Liebe kommen...)

Anonym hat gesagt…

Vielleicht helfen dabei neu sich entfaltenden "Berufe"?
Wie wäre es mit:
Menschseinhelfer, Indirsonnensucher, Lebensvertrauenschaffer,
Sichimmerneuerfinder, Weitverbreiterganzklein,
Stilllebenerwecker, Atemraumlasser, Kreuzwegfinder, Schlaferwecker, Sonnensammler, Welteninnenraumerfinder.....wieviele noch nicht erfüllte Berufe, Wege die schon Einige gehen.