12.06.2011

Samuel ist unterwegs (2). Unter dem Wasserspiegel von Utrecht

Die Landschaften warten bereits in mir. Sie sind von Ost nach West in mir aufgezeichnet, der Bewegung meines Lebens entsprechend. Ich reise allerdings von West nach Ost, gegen den Strom der Zeit, die von der Vergangenheit bis in die Gegenwart läuft. Ich gehe also auf meine Vergangenheit zu, die bereits in mir vorhanden ist. Ich buchstabiere heute – kann es leider nicht anders – von links nach rechts, begebe mich jedoch in eine Bewegung, die mich an Altes erinnert: an ein Schreiben von rechts nach links.

Reisen bedeutet: Altes in neuen Zusammenhängen wiederzufinden. Der Bahnhof von Utrecht ist als leere Mitte des Landes und meines Lebens gemeint, als Ort des notwendigen Aussteigens und des sofortigen Einsteigens. Dort verbleibt man eine kurze Weile, weil man gerade dort nicht bleiben will. In diesem Loch kauft man sich Zigaretten, englische Romane, Brötchen und Coffee-to-go – man nimmt sich, was man unterwegs zum Überleben braucht. Es gibt wenige Orte, wo ich so oft, so hastig und so dumpf war, so schläfrig im Vorübergehen, früh morgens, spät abends, umgeben von lebendigen Gespenstern der Leere, die Gespenster sind, weil sie nicht bemerkt werden.

Diesmal brauche ich nicht umzusteigen. Ich schaue aus dem Fenster, sehe meine fröhlichen Landsmänner und -frauen auf die Rolltreppen gehen, die Gratiszeitungen locker unter den Arm geklemmt. Und wieder kommt die Frage hoch: Was haben die Niederländer, was die Deutschen nicht haben? Sie scheinen im Gehen ein ganz kleines bisschen weniger Widerstand überwinden zu müssen, werden getragen von einem Hauch Luft, oder ist es Wasser-in-Luft? Bestehen ein paar Prozent des gehenden Bemühens nicht eigentlich aus einem Fliegen oder Schwimmen? Das Leben flattert ein bisschen vor sich hin, eine Grundlage scheint es nicht wirklich zu brauchen.

(Die Zeitungen in Deutschland sind nie gratis und dazu immer schwer mit Wahrheiten beladen; sie werden eher fest in Taschen gesteckt, am liebsten solide und unsichtbar eingebaut in Taschenfundamente.)

Utrecht. Ich habe etwa zehn Jahre in dieser Stadt gelebt. Sie ist in mein Inneres wie eine Mauerarbeit aus alten und nassen Backsteinen eingebaut, die gerade noch nicht auseinander fällt. Die Stadt hat mich als Jugendlichen und als jungen Erwachsenen erlebt, umgekehrt war sie für mich immer ein älterer Herr, der hauptsächlich damit beschäftigt war, nicht in seiner Vergangenheit zu ertrinken. Alles was an Utrecht fremd ist und mir vertraut, habe ich in dieser Stadt kennengelernt: die englischen romantischen Dichter, die deutschen Philosophen, den französischen Käse... Ich habe damals meine Seele wie einen Koffer mit auch mir unbekannten Geheimnissen in der Innenstadt herum geschleppt. Der ältere Herr wollte meine Grundlagen nicht erkennen, bot mir allerdings in seiner verzweifelten Unachtsamkeit die dunklen Keller direkt am spiegelnden Wasser an, wo ich den Schlüssel fand: Blues.

Utrecht, es ist wahr: in deinen unsichtbaren Untergründen, in dem, was unter deinem Wasserspiegel wartete, lag unbemerkt meine Zukunft. Ich brauche nur die Kellertür zu öffnen, um die Poesie wieder zu hören, das leicht-schwermütige Singen des freien Wollens, des rhythmischen Schreibens von rechts nach links, den lockeren Aufbruch aus der Dunkelheit ins kommende Leben. Du bist mir fremd geblieben, hast mich jedoch in Ruhe gelassen und mir den Weg zu mir erlaubt. Und jetzt, wenn der Zug noch ein wenig wartet, nehme ich mir zum ersten Mal in meinem Leben die Freiheit, dir zu danken.

5 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

FLUCHT

Hormonen
fließen immer wieder
zu den flüchtigeren Regionen,
flatternd
um die Ikonen
der eigene Erziehung.

Mit welch einer Wucht
entfließen sie die gierige Glieder
zu den feuchteren Zonen
der Glückseligkeit,
suchend
nach Erlösung,
flüchtend
für den Hohn
der körperlichen Enthüllung
und
süchtig
nach dem Lohn
der Leibeserfüllung.

Eine Erfüllung
die ohne Liebe
Leere erzeugt.
Eine Erfüllung,
die ohne Liebe
die Schmerzen
des Anderen
verleugn´t

Aber da,
wo ich wohne,
da will ich leben
und da,
wo ich lebe,
will ich lieben,
in der Ruhe
der Liebenden,
in der große Truhe
des eigenen Lebens.

Immer mehr
und ohne Trieb
nähert sich
die Lieb´
ihr Liebesziel
und nährt sich
von ihrem Wille
bis der
letzten Verzehr
sich selber stillt.

10. Juni 2011

Huub

Michael Heinen-Anders hat gesagt…

Lieber Jelle!

Utrecht, die Stadt des Vorübergehens, habe ich nur einmal kurz zum Umsteigen frequentiert, also habe ich kaum Eindrücke von dieser niederländischen Stadt.
Ob die Niederländer einen anderen Gang durch die Zeit haben, mit weniger Widerstand gegen Wind und Wandel?
Ich weiß es nicht.
Allerdings habe ich Niederländer in Arbeitszusammenhängen immer als besonders pragmatisch und irgendwie auch als kumpelhaft erlebt. Man traute ihnen i.d.R. sofort einiges zu - und so wurden die Niederländer für mich die idealen Mittler zum europäischen Westen hin.
Anders als der sture Brite, in seinen verknitterten Regenmänteln, ist der Niederländer noch ein Angehöriger des Festlandes, wenn auch viele seiner Siedlungen weit ins Meer hinaus gebaut sind, mittels Melioration (Landgewinnung aus dem Meer): Goethe hat dies in seinem Faust in einen interessanten ökonomischen Zusammenhang gestellt.
Was ich an den Niederländern so mag, ist ihre scheinbare Unaufgregtheit, und ihr Zugang zur Welt der britischen und französischen Kultur & Philosophie, der so manchem Deutschen und auch Österreicher lebenslang verwehrt bleibt. (Andererseits vermischt sich das niederländische, flämische Element nahe Belgien mit einer unsäglichen Melange aus Fritten, frankophoner Rückständigkeit und Aachener Printenseligkeit, der nur schwer zu entkommenen ist...).
Niederländer sein heißt offenbar, Kosmopolit sein und bleiben. Speziell die Deutschen, denen das tiefgründige und genaue besonders liegt, haben sich nie als Kosmopoliten verstanden - obwohl sie dies - einer Aussage Rudolf Steiners zufolge - wohl eines Tages sein werden...

Bis hierhin erstmal.

Herzlich,

Michael Heinen-Anders

Andrea hat gesagt…

Liebe Grüsse und gratuliere zu dem wunderschönen Text. Es ist Spiegel deiner Seele und irgendwie auch vieler Seelen.
Ach übrigens in der Schweiz, der höflichen und freundlichen, in der vieles teuer zu erstehen ist, gibt es auch eine Gratiszeitung.:)
Dieses Bild die Seele als einen Koffer in der Stadt in der man studiert herumzutragen, das ist so passend so schön ausgedrückt! Ich sehe mich da selbst wie ich in Stuttgart auf der Königsstrasse "im Strom der Menschen bade" Reinhard Mey drückt das in einem Lied so aus. Ich schaute vielen Menschen in ihre Gesichter.
Wenige bemerkten das und lächelten mir zu.

Michael Heinen-Anders hat gesagt…

DEM DEUTSCHEN MICHEL


Der deutsche Michel
hat heute ‚lange Been’,
er trägt ne Wampe
bis auf die Knie
und gibt’s was zu feiern
so sagt er nicht nie.
Am deutschen Michel
wird die Welt nicht mehr
genesen, zu lange hat er
BLÖD gelesen.
Daher des deutschen Michels
deutscher Traum, den Models
unter Röcke zu schaun.
Möglich, dass Michel bald
fremd ist im eignen Land.
Propheten malen seinen
Untergang bereits an jede Wand.
Doch Sarrazino mag noch
so sehr in Talkshows schwitzen,
den deutschen Michel sieht er
wohl nur aus weiter Ferne sitzen...
Derweil zählt er sein Taschengeld;
er wär ein schlechter Deutscher,
wenn er nichts von Erspartem hält!
Doch Sarrazino sitzt in London,
Washington oder Tokio, Athen -
eben da wo gute Geschäfte noch gut gehen.

Nur an einem stillen Örtchen
widmet dem Michel er ein ehrlich Wörtchen:
„Du Michel nimm’s mir und BLÖD nicht krumm,
wir verkaufen uns gut, ist BLÖD auch dumm.
Doch dümmer wär’s die avisierten Moneten
nicht zu nehmen...“.
Michel sitzt derweil nicht mehr im Rathaus zu
Hamburg, sondern im brisigen Bremen...
Und wenn Michel mal ganz ehrlich ist,
dann wäre ihm beim besten Willen
ohnehin nicht mehr viel zu nehmen!


(Michael Heinen-Anders)

Anonym hat gesagt…

utrecht, stad van martinus nijhoff,van "het uur u", van de dom ook, die gescheiden van zijn lijf in de hoogte torent... mijn duits is slecht, kan je tekst niettemin begrijpen. mooi. met groet uit de domstad. willem b.