Behinderung als Schicksal (4). Über: einfach herum brüllen
Er setzt sich entschieden neben mir auf. „Sie haben einen guten Vortrag gehalten“, schickt er direkt vorweg. Dann schweigt er. Mir ist klar, dass er keine unnötigen Missverständnisse wecken und mir nicht zu nahe treten will. Von der Seite her schaut er mich verstohlen an. Und ich denke: Er will mir etwas sagen, ist sich allerdings nicht sicher, ob ich bereit oder reif bin, mir seine Sicht auf die Sache anzuhören.
Er ist groß und lang. Auch im Sitzen ragt er weit über mich hinaus. Seine langen Arme liegen auf seinen langen Beinen, die eigentlich nicht fürs Sitzen gemeint sind. Auch wenn er sitzt, scheint er zu stehen und zu gehen, und auch wenn er schweigt, scheint er zu sprechen. Seine Augen schicken einen brennend-fragenden Blick in die Welt. Die von ihm getroffenen und betroffenen Dinge bewegen sich. Er bewegt mich. Und ich denke: „Er verhält sich wie ein Wikinger“.
„Wie heißt du?“, frage ich verunsichert. „Michael“, antwortet er. „Ich heiße Jelle“, sage ich. „Das weiß ich schon“, teilt er mir mit. Ich zünde mir eine Zigarette an und schweige. Dann sagt er stockend: „Das große Problem ist, dass die Menschen einfach herum brüllen. Sie brüllen einfach herum. Und sie verstehen nicht, dass das nicht geht, einfach herum zu brüllen.“ Während seines Sprechens bewegt er seinen Körper kräftig nach vorne und wieder zurück, so, als ob er die Worte mit Kraft aus sich heraus schieben muss.
„Sie brüllen und brüllen und brüllen“, wiederholt er. Seine Worte scheinen mir wie Brocken trockenen Tons auf den Boden zu fallen. Er scheint auf diesen Brocken gehen zu wollen. „Was meinst du“, frage ich, „gibt es bei dir in der Gruppe Leute, die ständig brüllen?“ Er bewegt sich einmal nach vorne, eine Art des bestätigenden Nickens, die ich noch nicht kannte. „Alle Menschen brüllen!“, meint er dann. Mit „alle“ meint er offenbar „alle“, nicht nur ein paar Leute in seiner Gruppe.
„Die Menschen sollen nicht brüllen“, fährt er fort, „sie sollen zuhören, einfach die Klappe halten und zuhören. Anders wird es nichts. Anders kommt nichts Gutes dabei heraus. Herum gehen und brüllen, bringt gar nichts“. Mir scheint es, als ob Michael bald platzen wird, als ob die trockenen Brocken warnende Vorboten einer Explosion sind. Dann hebt er auf einmal seinen Kopf, steht energisch auf und verschwindet, ohne sich zu verabschieden. Aus irgendeinem Grund scheint er sein Vorhaben, keine Missverständnisse wecken zu wollen, nicht handhaben zu können.
Erst Stunden später, auf dem Bahnsteig in Fulda, während des Wartens auf den Zug nach Frankfurt, gelingt es mir, die Begegnung mit Michael zumindest halbwegs einzuordnen. Die Veranstaltung der letzten zwei Tage in der Gemeinschaft Altenschlirf liegt hinter mir; ich sehe die etwa vierhundert Leute noch vor mir: Menschen „mit Hilfebedarf“, ihre Eltern und Angehörigen, die Betreuer und Mitarbeiter der Einrichtung. Meine Aufgabe in Altenschlirf war es, die Beteiligten miteinander ins Gespräch zu bringen.
Deutlich wurde, dass das soziale Dreieck zwischen Behinderten, Eltern und (professionellen) Betreuern unter Spannung steht. Ganz große Fragen standen dabei im Raum. Die Eltern rangen mit ihren Gefühlen, die manchmal von Schuld und Sorge geprägt sind. Und auch wenn ihre behinderten Kinder schon längst erwachsen sind, können die Eltern sich verständlicherweise von der Sorge nicht immer frei machen. Wie eine Mutter mir in der Pause sagte: „Mich bedrängt, dass die Betreuer mir öfters sagen, dass meine Beziehung zu meinem Sohn symbiotisch sei. Ich fühle mich als Mutter manchmal nicht ernst genommen“.
Auch die Betreuer fühlen sich bedrängt. „Wir leben tagtäglich mit den Menschen mit Hilfebedarf“, sagte einer, „wir haben allerdings immer wieder das Empfinden, dass die Schatten der Eltern ständig präsent sind“. Zwischen Eltern und Betreuern ragt also ein Fragezeichen, das sich auf ein gegenseitiges Vertrauen bezieht. Die Tatsache der „Behinderung“ führt offenbar zu schmerzvollen Erfahrungen, die im sozialen Miteinander nicht so einfach anzusprechen sind. Und gegenseitige Verletzungen liegen ständig auf der Lauer.
Und die sogenannten „Behinderten“? Sie sind manchmal sprachlos. Sie schweigen einfach, oder reden stockend vor sich hin, wie der Wikinger Michael. Er hat es mir allerdings klipp und klar gesagt: „Das große Problem ist, dass die Menschen einfach herum brüllen“. In gewissem Sinne hat er natürlich nicht Recht, denn keiner der vierhundert Menschen im Saal hat wirklich gebrüllt. Ein Brüllen war einfach nicht dabei.
Auf einer anderen Ebene stimmt es allerdings vielleicht doch, was er sagte. Innerlich haben wir alle ein bisschen gebrüllt, oder vielleicht nicht nur ein bisschen... Wir alle haben eine Not gespürt, die uns Schmerzen bereitet, und die uns wie verwundete Löwen innerlich brüllen lässt. In der Stille gab es vielleicht hier und da doch ein Brüllen – und was, wenn Michael gerade dort zu Hause ist: in der Stille unseres Brüllens?
6 Kommentare:
Lieber Jelle,
gerade von einer 'Kultur des Herzens' aus gesehen, scheint mir der Gedanke notwendig auch den Behinderten als vollen Menschen ernstzunehmen - trotz seiner Defizite.
Es mag schon sein, dass Betreuer gelegentlich brüllen, was in dem 'Wikinger Michael' offenbar die Assoziation auslöst alle Menschen würden immer miteinander brüllen.
Rudolf Steiner hat einmal das Bild gebraucht, dass unser Ich fortwährend versucht ist, das Ich im Gegenüber niederzuringen und einzuschläfern. Insofern ist vielleicht in unseren tagtäglichen Begegnungen doch auch ein - wenn auch ganz leises - Brüllen gegenwärtig und notwendig, um im höchstpersönlichen Ich eben nicht niedergerungen und eingeschläfert zu werden - auch nicht vom Ich gegenüber, also vom Du...
Herzlich,
Michael Heinen-Anders
Lieber Jelle,
tägliches Erringen eines sozialen Miteinanders, täglich neu schauen, wer begegnet mir.
Das Taumeln zwischen gefrorenen Positionen, Situationen, Handlungen, Regelungen... und überhitzten, sich in der Verdunstung befindenden Klarheiten.
Auf den ersten Blick zwei sehr verschiedene Dinge, doch die Frage nach sozialem Miteinander-Leben und die Suche nach dem passenden Maß an Festigkeit und Auflösung sind dicht miteinander verwoben.
Den bewussten Umgang mit diesen Fragen und Aufgaben erlebe und gestalte ich jeden Tag aufs Neue in dem Zusammenleben mit verschiedensten Menschen in einer Hausgemeinschaft.
In Ihrem Text beschreiben Sie Michael mit sehr schönen und treffenden Worten (mit Ausnahme des Begriffs Wikinger), beim lesen empfinde ich eine Art Bewunderung, mit der Sie auf diesen Menschen schauen.
Diese Bewunderung gepaart mit großem Interesse am Menschen ansich kenne ich von mir selber. Schon als Kind habe ich in dieser Stimmung Menschen "mit Hilfebedarf", um bei diesem Begriff zu bleiben, wahrgenommen.
Wenn ich auf das schaue, was ich "Gesellschaft" nenne, erlebe ich weder dieses Interesse am Menschen, noch das gestalten des sozialen Miteinanders zwischen "gefroren" und "verdunstet".
Eher kommt mir ein ein erstaunter Blick auf das, was wir leben oder ein mitleidiger Blick auf die "kranken Menschen" entgegen.
Mich würde interessieren, wie Sie diese Verschiedenheit wahrnehmen und welche Möglichkeiten Sie sehen, in eine Art Gespräch, in einen Dialog zu kommen mit dem Umkreis. Und ich meine nicht diese Art "Vortrag" von Festen, Tagungen usw, was eher zu einem drauf schauen, als zu einem hinein blicken führt.
Herzliche Grüße
Annotator
Lieber Annotator, die Frage ist wichtig und schwierig genug... Die Gesellschaft ist weit von den Perspektiven der "Menschen mit Hilfebedarf" entfernt. In dieser Hinsicht bin ich mit Michel Foucault einverstanden, dass die "Einrichtungen" auch dazu dienen, die Gesellschaft zu schützen gegen sogenannte "Abnormalitäten". Wie können wir diesbezüglich in einen Dialog kommen? Ich glaube, dass wir in der "Normalität" kleine Orte der "Abnormalität" kreieren können: Bäckereien, Filzladen (wie ich in Aachen kenne), Holzwerkstätte, und so weiter. Und dazu vielleicht: immer wieder versuchen von den Äusserungen und Lebenstaten der ´"Menschen mit Hilfebedarf" berichten. Könnte es sein, dass eine Sprache gebraucht wird, die Taten statt Meinungen vermittelt? Herzlich, Jelle van der Meulen
Und über die Wikinger müssen wir uns vielleicht verständigen. Ich bewundere die Mutigen aus dem Norden sehr. Sie werden noch immer nicht verstanden. Jelle
Ja , es ist selten, dass ich Menschen mit Hilfebedarf treffe und wenn es aber passiert, dass ich sie treffe auf dem Gehweg, im Städchen, dann ist es mehr berührend, als den Menschen ohne sichtlich deutlichen Hilfebedarf zu begegnen. In jeglicher Hinsicht unangenehm so wie angenehm und natürlich. Unangenehm, schon sehr lange her ein junger Mann, der seinen auffallend entstellten Körper, vergrösserte Arme und Beine zur Schau trug.
Neulich aber war es so, ich traf Renate, die eine Wohngruppe betreut und sie war mit einem Mann Down-Syn. unterwegs, wir plauderten kurz und er auch dazwischen und mit uns und zum Abschied küsste er mich ganz geschwind mitten zwischen die Brüste, er war nicht grösser. Die Überraschung war gross und doch wieder gar nicht. So schnell wie das ging und sie fasste ihn energisch an der Hand und ging um den Termin beim Arzt oder so einzuhalten. Ich, auf der Heimfahrt im Auto, spürte die Berührung noch so lange deutlich nachklingen wie,.. wie mit nichts anderem zu vergleichen.
In herzlicher Verbundenheit Andrea
Lieber Jelle,
kurz noch eine Anekdote zu den Wikingern. Bevor die ungeschlachten, häufig als gewaltsam plündernd an den Staden Mitteleuropas erlebten Wikinger christlich wurden, hatten sie einen König namens Olav Tryggvason. Dieser führte in der rauhen Art der Wikinger das Christentum in seinem Herrschaftsbereich mit Gewalt ein:
"Taufe oder Kopf ab", diese Aussage von ihm wird überliefert.
Und so wurde er der erste christliche König der Wikinger.
Auf diesen König hat mich mein Freund Hermann aufmerksam gemacht, der mir sagte, dieser Olaf Tryggvason, das sei er selbst in einer früheren Inkarnation gewesen - und ich sei damals auch mit dabei gewesen, bei der gewaltsamen Bekehrung der Nordmänner.
Es mag gut sein, dass sich bei dem 'Wikinger Michael' real Züge einer früheren Verkörperung als Wikinger zeigen, die er aufgrund seiner Behinderung allerdings nur so "an den Mann bringen" kann, wie er es eben tut: ungelenk und von schlichtem Gemüt eben ... so wie damals die realen Nordmänner eben waren.
Eins waren sie aber dabei bestimmt, nämlich mutig. Und dieser Mut scheint auch bei dem 'Wikinger Michael' eine große Rolle zu spielen.
Herzlich,
Michael Heinen-Anders
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