16.01.2011

Konzepte sind immer fertig. Über die Hoffnung der Initiation

Wie fertig ist die Welt? Wenn wir auf das gesellschaftliche Leben schauen, könnten wir meinen, dass bereits alles, was wir brauchen, vorhanden ist. Für alle möglichen Fragen und Probleme gibt es Spezialisten, Verfahren und Lösungen: Um Krankheiten zu heilen, gibt es Ärzte und Therapeuten; um Konflikte zu lösen, gibt es Richter und Schlichter; um die (manchmal schwierige) Zusammenarbeit zu verbessern, gibt es Supervisoren; um finanzielle Engpässe zu bewältigen, gibt es Schuldenberater; um Kindern mit Defiziten zu helfen, gibt es Heilpädagogen; und um zu seinem höheren Selbst zu gelangen, gibt es sogar dafür mittlerweile spirituelle Dienstleister.

Vor allem gibt es aber eine ganze Menge von „Konzepten“. So wird von „strategischen Plänen“, „Evaluations-Techniken“, „Krisenmanagement“, „Schicksalslernen“ und sogar „Trauermanagement“ gesprochen. Es geht dabei um bestimmte „Methoden“, die gedanklich klar zu greifen sind – sie sind überschaubar und beinhalten immer zumindest drei „Schritte“, manchmal eben zwölf – und deswegen in unterschiedlichen Situationen operabel sind. Kennt man sich mit dem entsprechenden Konzept aus, kann man es anwenden.

Schon die Sprache verrät aber, auf welcher Ebene die Lösungen gesucht werden. Wörter wie Strategie, Management und Techniken haben zum Beispiel einen gemeinsamen Bedeutungskern – sie unterstellen, dass man das Leben im Griff haben KANN. Nun scheint es auch mir richtig zu sein, dass man sich Gedanken über das Leben macht und versucht, sich dementsprechend zu verhalten. Sobald man allerdings meint, dass damit alle Rätsel des Lebens gelöst werden können, erzeugt man ein noch größeres Problem.

Und das noch größere Problem könnte so beschrieben werden: Hoffnungen, die konzeptionell zu expliziten und evaluierbaren Erwartungen verdichtet werden, hören auf Hoffnungen zu sein. Das Wesen der Hoffnung ist offen, das Wesen der Erwartung geschlossen. Das berechtigte methodische Bedürfnis, gewisse Probleme über Konzepte in den Griff zu kriegen, hat einen Schatten, der manchmal von Supervisoren, Beratern oder Dienstleistern übersehen wird. Das konzeptionelle Denken, um es einfach zu sagen, ist immer ein Ergebnis des gestrigen Tages – es beruht einseitig auf etwas, was wir schon kennen, was also aus unseren Erfahrungen stammt.

Die Sachen und Dinge des Lebens die im Kommen sind, können prinzipiell nicht von Konzepten ergriffen werden. Sie sind immer neu. Und Neuigkeiten – man könnte an dieser Stelle auch von Ereignissen sprechen: etwas „ereignet“ sich – haben die wunderbare Wirkung, dass sie bestehende Konzepte sofort umkrempeln. Das Neue passt natürlich immer in das Alte, das ist keine Frage, aber nie in unsere Vorstellungen des Alten. Was wir DENKEN, was die Vergangenheit ausmacht, müsste sich nämlich ständig ändern, der Gegenwart entsprechend. Konzepte, vor allem wenn sie aus ideologischen Gründen nicht in Frage gestellt werden dürfen, sind hartnäckige Phänomene, die erstens die Laien verunsichern (sie blicken nicht durch) und zweitens den Profis einen bequemen Stuhl bieten.

Alle Menschen haben Probleme. Ohne Probleme hätte das Leben keinen Sinn. Nun scheint es mir so zu sein, dass in der direkten Nähe eines Menschen-mit-Problemen, wenn man also von Angesicht zu Angesicht steht, dieser Mensch immer als einzigartig und einmalig erscheint. Bernard Lievegoed – er war auch Arzt – hat es mir einmal gesagt: „Menschen mit Krebs gibt es nicht, es gibt höchstens Menschen, die sich auf ihrer Art und Weise mit der Krankheit namens Krebs auseinandersetzen“. Und noch radikaler über Aids: „Aidspatienten sind eine gesellschaftliche Erfindung. Eine neue soziale Entwicklung wird über eine sogenannte individuelle Krankheit hinweg definiert. Das Neue wird gar nicht gesehen, weil das alte Denken im Wege steht“.

Was das Neue in Bezug auf Aids beinhaltet, kann an dieser Stelle nicht ausgeführt werden. Mir geht es darum, zu betonen, dass die direkte Nähe zu einem Menschen-mit-Problemen immer dazu führt, dass die bekannten Kategorien sich auf einmal als weniger relevant erweisen. Jedes Lebensproblem ist im Grunde genommen mit dem Weg eines konkreten Menschen verbunden, mit einer (nun ja, sagen wir: biographischen?) Fragestellung, die wie ein Rätsel, oder vielleicht schöner: ein Mysterium im Raum der Nähe erscheint. (Ja, man könnte von einer biographischen Frage sprechen, müsste allerdings daraus kein neues „Fach“ machen: Lebensprobleme sind in diesem Sinne immer fachübergreifend.)

Ich kenne eigentlich nur einen Begriff, der zumindest halbwegs andeutet, wie die hier gemeinten „biographischen“ Vorgänge zu verstehen sind. Rudolf Steiner hat davon gesprochen, dass es einmal eine Zeit geben könnte, in der die „Initiation zum Zivilisationsprinzip wird“. Also: Initiation... In seinen hoffnungsvollen Vorstellungen – von Konzept kann man an dieser Stelle wirklich nicht sprechen – könnte es so sein, dass Kindergärten, Banken, Unternehmungen, Krankenhäuser und Bahnhöfe zu Orten der Initiation werden. Um dies zu erreichen, müssten allerdings Freiräume-der-Nähe geschaffen werden, Räume also, in denen sensibel auf Konzepte verzichtet wird. In diesen Räumen ginge es eher darum, auf die delikaten Dinge des Herzens zu schauen, und auf das zu lauschen, was im Kommen ist.

5 Kommentare:

Michael Heinen-Anders hat gesagt…

DAS WAS KOMMT

Eben noch
war ich verstrickt
in Gedanken
des Gestern.
Doch
mein Heute,
das ist noch
unbekannt.
Es kommt über
Nacht
oder auch am
Tage
wie ein
plötzlicher
Sturm -
wie ein
Blitz
aus heiterem Himmel -
und es ändert
entweder alles
oder nichts...
Aber immer
vertröstet es
mich auf
ein besseres
Morgen.

(Michael Heinen-Anders)

Anonym hat gesagt…

Lieber Jelle,

ich sitze gerade an meiner Arbeit über die Bildungsarbeit mit Jugendlichen und soll ein Konzept entwerfen oder übernehmen und dann niederschreiben, seit Tagen sträubt sich etwas in mir das zu machen. jetzt habe ich die Antwort darauf: wie kann etwas Neues entstehen, wenn wir alte Methoden zur Realisierung benutzen? Ich glaube Konzepte dienen nur dazu, die Kontrolle über das Vorhersehbare zu haben. Und wenn wirklich Neues ensteht, ist es weder vorhersehbar noch kontrollierbar ( das liegt nunmal in der Natur des Neuen ). Ich werde meine Arbeit ändern und den Nutzen der Konzepte in Frage stellen und Vertrauen gegenüber den Jugendlichen einfordern.

Einen schönen Gruß

Ralf G.

Anonym hat gesagt…

Lieber Jelle,
wie freue ich mich über Deine Worte!Immer wieder geschieht, dass du in Worte fasst, was ich in mir trage:
Schon seit geraumer Zeit steht an, dass ich für eine gewisse Sache "eigentlich" ein Konzept schreiben müßte, damit ich Gelder bewilligt bekäme.
Bisher tat ich es nicht, weil sich die ganze Zeit etwas in mir wehrt.
In der Weihnachtszeit stand die Frage des Lauschens an.
Ich bemerke wieder einmal meine nicht alltagsübliche "Zugriffsweise" auf Leben, auf Arbeit.
Und finde nicht die Worte das auszudrücken, geschweige denn die Menschen, die dennoch bereit sind diese Arbeit aus der Initiation heraus, wie Du sie nennst, als bezahlbare Arbeit anzusehen.
Was in gewisser Weise auch wiederum verständlich ist, da sie mein Lauschen nicht kennen, nicht "Hören", was ich wahrnehme.
Mir wiederum fehlt dann der Mut vom Lauschen zu erzählen, wenn ich dennnoch andeutete, erzählte, stieß ich auf Unverständnis.
Ich rätsel um die Worte über das Kommende, von denen ich vermute, dass andere sie verstehen könnten. Dann aber treffen diese nicht mehr das, was sie ursprünglich sagen wollen.
So arbeite ich nun vorerst weiter unter schon bestehender, ehemals von anderen konzeptierter Arbeit, deren Konzept, wenn man es genau nimmt, gar nicht mehr existiert, da ein jeder seinen eigenen Zugriff auf dieses genommen hat, - ohne jedoch das Lauschen als Grundlage zu nehmen,(soweit für mich ersichtlich).

Und trotzdem bin ich in mir gewiß, dass die von Dir angesprochene Hoffnung, das Kommen, das Lauschen seinen Weg finden wird.
Es steht sozusagen vor der Tür.
Mir liegt es auf der Zunge.
Bei Dir steht es im blog.

Mir geht seit einem Gespräch mit Dir nicht mehr aus Herz und Ohr:
".... sich wirklich zu entscheiden...."
Unabdingbar ist, mich wirklich und wahrhaftig für das Lauschen zu entscheiden.
Indem ich das tue, entscheide ich mich für die Wahrheit des Hörens und des Gehörtem.
Halbherzig geht das nicht.
Auch nicht mit halbem Ohr.
SST

Andrea hat gesagt…

Lieber Jelle,
.....ich bin voller Initiative....
Initiative im Vorfeld der Tat ist (für mich) Lauschen.
Danke für den Freiraum der Gedanken-Nähe, den du immer wieder erschaffen, eröffnet hast; vom ersten Artikel deines Blogs bis zu diesem jetztigen.
In den ersten drei Artikeln fand ich, wollte ich einen Konzeptansatz finden. Die Inhalte der ersten drei Artikel waren wie sortiert nach Denken, Fühlen, Wollen! Der vierte und alle folgenden Artikel lösten die vermeindliche Spur wieder auf. Gottseidank:)
Jedoch möchte ich aus der Fülle der Artikel vier grössere Rubriken, Anliegen, Themen oder gar Kapitel zusammenfassend nennen.
Die Geschichtenschreibstube" auf dem Tisch einer Kneipe" ist aufgetaucht und versunken. Ich habe mich mit einem winzigen Detail in die gross angelegte verschlungene Geschichte von Johann und Schmitz eingeschlichen aber bald war sie abgetaucht, verschwunden.
Deine Sammy- Samuel Geschichten sind einzigartig und berührend.
Deine Nähe-zu-den Menschen Geschichten oder Begegnungsgeschichten schätze ich auch sehr.
Deine Philosophie des gesamten Lebens, der Worte, des Herzens, die sich immer im hier und jetzt abspielt.
Danke viel mal!

Jelle van der Meulen hat gesagt…

Danke!