17.07.2010

Sammy heute zu Samuel. Über die neuen Sternenwege

Lieber Samuel, es geschah auf einmal. Entscheidend war die Erkenntnis: unsere Gefängnisse bauen wir selbst. Erwartungen, Enttäuschungen, Überzeugungen haben immer zwei Gesichter: sie bewegen uns oder sie fixieren uns. Ohne Erwartungen läuft nichts, ja wir sind nicht einmal unterwegs, gleichzeitig aber schränken sie die Fülle der Erscheinungen auf Eindeutiges ein. Ein guter Freund von dir hat es einmal so gesagt: Wenn man unbedingt meint, Santiago de Compostella erreichen zu müssen, findet man den Gral nicht; aber ohne ein erkennbares Ziel würde man auch sich nie auf den Weg begeben...

Samuel, dein Freund ist schon vor längerem gestorben. Er hat hier oben gerade eine große Arbeit angefangen, er versucht die irdischen Bedingungen der Sternenwege auszuweiten, das heißt: sie bis in die Herzen der Großstädte zu verlegen, dort, wo die Schicksale der Menschen vibrieren. Er sagt, dass die Wanderwege nicht mehr von Nord nach Süd und dann von Ost nach West gehen, sondern von unten nach oben. Er meint: Schaue auf die Sterne und bleibe wo du BIST.

Samuel, du sitzt mit deinem Laptop an deinem Gartentisch und schreibst. Du hörst wie die Züge vorbei fahren. Hier oben sind die Züge da unten nur ganz schwer wahrzunehmen, sie sehen wie ein Vakuum aus, in das Menschen hineingehen und verschwinden, um irgendwo anders wieder aufzutauchen. Ja, die Menschen selber können wir immer noch spüren, versunken in sich selbst, ohne wirklich bei sich zu sein. Sie scheinen unterwegs zu sein, ohne unterwegs zu sein.

Ich bewege mich auf dich zu. Auf einmal stellte ich fest bereits unterwegs zu sein. Ich bin natürlich noch immer der Junge, der im Wohnzimmer seiner Eltern stecken geblieben ist, damals, als mir die Welt nach meiner Krankheit leer und öde schien, als ich die Haut meines Vaters nicht ertragen konnte, weil sie so fremd und aufdringlich war... Es macht keinen Sinn, so zu tun, als ob man auf einmal ein anderer Mensch werden könne, eine Neugeburt-ohne-Vergangenheit. Wenn man das versucht, baut man ein neues Gefängnis, das aus neuen unerfüllbaren Erwartungen besteht.

Man kann aber die Zukunft in seiner Vergangenheit zulassen. Als ich auf einmal unterwegs zu dir war – es geschah einfach – verwandelte sich das Wohnzimmer meiner Eltern in einen Ort, in dem einmal etwas geschehen war, in ein Denkmal einer spezifischen Vergangenheit, die sich allerdings neu arrangieren wollte. So ist das mit Denkmalen: sie rechnen mit der Zukunft. Weißt du warum Züge nie zum Denkmal werden können? Weil sie nicht auf die Zukunft ausgerichtet sind. Du wirst vielleicht sagen, dass Züge immer unterwegs sind – ich sage dir: Züge kommen nie vom Fleck.

Dein Freund arbeitet hier oben daran, dass die irdischen Wanderwege wieder als Sternenwege erkannt werden können. Von Sternen gibt es, wie du weißt, eine ganze Menge. Sie sind nicht nur vielfältig, sondern sie machen die unendliche Vielfältigkeit aus. Die Sterne SIND die Vielfalt. Mit den Sternen ist es so: man kann von einzelnen Sternen reden, ihnen einen Namen oder eine Nummer geben, sie eben in einem Raum, der allerdings nicht existiert, lokalisieren. Und man kann die Sterne auch in Paaren und Konstellationen darstellen, in Bildern also, die auf große und unbegreifliche Zusammenhänge hinweisen, die man spüren, aber eigentlich nicht verstehen kann.

Was jedoch bleibt, ist die erschütternde Tatsache, dass die Vielfalt die Auswahl überragt. Die Vielfalt der Sterne ist nicht klein zu kriegen, nicht einzuordnen, nicht in eine Historie einzubetten, nicht einer Weltanschauung oder einer Ideologie zu unterwerfen. Alle menschlichen Ansprüche können deswegen nur Angebote sein, dass heißt: offene Vorschläge von unten nach oben. Und es ist deinem Freund klar geworden: nur das Herz des Menschen kennt sich mit der Vielfalt aus, ist deswegen im Stande, der Weite gerecht zu werden.

Die neuen Sternenwege machen aus kleinen Orten große Orte. Die neuen Orte entstehen allerdings nur dann, wenn sich Menschen von unten auf den Weg nach oben begeben, also bleiben wo sie SIND. Ja, natürlich, lieber Samuel, es bleibt erlaubt sich ein neues Fahrrad zu kaufen, mit dem Auto nach Santiago zu fahren (wie dein Freund das damals gemacht hat, als er noch lebte – er wollte nicht zu Fuß) oder mit dem Zug nach Tintagel. Die neuen Orte liegen allerdings auf einer unsichtbaren Ebene, die nicht mit physischen Vehikeln zu erreichen ist. Sie befinden sich dort, wohin die Nähe zur Welt uns führt.

Ich bin fast bei dir angekommen. Dein Garten, deine Wohnung und deine Stadt machen einen kleinen Ort aus, der groß genug ist, um das Wohnzimmer meiner Eltern zu umfassen. Und noch wichtiger: Bei dir werden meine Eltern zu deinen Eltern, und ich werde zu dir. Wollen wir der Vielfalt der Sterne diese winzig-kleine Konstellation als Angebot machen? Vielleicht sind eben die Sterne überrascht, weil sie damit nicht rechnen konnten. So ist es doch mit Sternen: sie rechnen mit allem und damit mit nichts?

11 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Ein kleiner Jungen, ungefähr 4 Jahre alt, schaut im Zug aus dem Fenster heraus auf den Gleisen und sagt zu seiner Mutter:
Mama, guck mal, die Eisenbahnschwellen fahren viel schneller als der Zug.
Die Mutter: Das scheint nur so zu sein. Der Zug fährt und die Eisenbahnschwellen liegen still.
Der kleine Junge: Das stimmt nicht.

Huub

Michael Heinen-Anders hat gesagt…

WUNDER

Fremder allerorten:
lass los.
Sei kein Gefangener mehr
Deines niederen Abbildes.
Schaue hinauf:
besiege die Wunschnatur.
Anders gelingt Dir die Reise
nicht;
nur offen und frei
kommst Du
in die Welt
der Wunder
hinein.

(Michael Heinen-Anders)

Anonym hat gesagt…

Schön... Von Jelle, Huub, Michael... Firma für Poesie?

Andrea hat gesagt…

Ja, meine ich. Eine Firma für Poetisch erzählte Wissenschaft ist noch eine Herausforderung dazu, fällt mir spontan ein, weil ich nehme heute an einer kleinen Morphologen- Tagung teil und habe die Erwartung nach einem Sternweg nach oben! Liebe Grüsse Andrea

Anonym hat gesagt…

Poesie ist peinlich
in dem sie sich nicht tausschen lässt,
während sie
die Plätze besetzt,
die anderen vielleicht
besser benützen würden.
Weinerlich rauschen ihre Fetzen
von alle Seiten
in feiner Heiterkeit weiter.
Sie gibt sich jede Brise,
überlebt auch .... welche Krise?
Sie nimmt die höchsten Hürden
und verletzt
auf sagenhafter Weise
die Firmen die sie lautlos leise gründet.
Es ist doch nur Sprache
aus der sie sich
mit seelischer Sinn und Sinnlichkeit
mündet.

Huub

Andrea hat gesagt…

Sehr interessant, Huub! meinst du das Poesie viele mögliche Bilder zu lässt?

Anonym hat gesagt…

Hallo Andrea,

3 Dinge.

Eins: Ein Weblog mit seiner Kommentare ist etwas wie eine virtuelle Begegnungsstätte, wo man Geschriebenes zusammenstellt, so wie man Kunstwerke in einer Kunstausstellung zusammenstellt.
Manchmal weil sie etwas Ähnliches haben, manchmal als Kontrast zu einander.
Manchmal erfahre ich meine eigene Beiträge als peinlich, weil ich mich frage ob sie nicht mehr über mich sagen als über der ursprünglichen Weblogeintrag.

Zwei:
Poesie entsteht in der intensieven Umgang mit der Sprache. Wenn es gut geht kommt da viel mehr heraus als das ich ursprünglich sagen wollte. Auf der Art ermöglicht sie viele Bilder.

Drei:
Ich glaube nicht dass sie sich einfirmen lässt. Und warum sollte man eine Firma für Poesie gründen wenn sie schon in der Form dieses Weblogs da is?

Herz und Huub

Michael Heinen-Anders hat gesagt…

@Andrea
@Huub

Eine Firma für Poesie, nun zunächst keine schlechte Idee. Aber was kann das für eine Firma sein, deren Ware zugleich unsterblich und (fast) unverkäuflich ist?

Mit Poesie macht man im Internetzeitalter keine Gewinne mehr.

Ja selbst den Verlagen ist die von ihnen gedruckte Poesie zuweilen "ein wenig peinlich".

Herzlich,

Michael Heinen-Anders

Anonym hat gesagt…

Sternenpoesie aus den Herzen der Menschen - mitten aus dem Alltag mit Pflichten, Verpflichtungen, Pflichtbewusstsein und der Poesie als Augenblick der Freiheit.

"Lyrik

das Nichtwort

ausgespannt
zwischen

Wort und Wort"

Hilde Domin

Michael Heinen-Anders hat gesagt…

Wie sagte doch Dylan Thomas: "Dichten ist für einen Dichter die lohnenste Arbeit auf Erden. Die Welt ist nie mehr, was sie war, wenn man sie einmal um ein gutes Gedicht vermehrt hat."

Insofern möge dies auch ein Votum für eine Firma "zur Rettung der Poesie" in Literatur und Alltag sein.

Herzlich,

Michael Heinen-Anders

Anonym hat gesagt…

Und ich wäre gerne die Direktorin. Nitta