Dankbar Fragmentarisches. Über eine Reformschule in Utrecht
Weil ich damals als Schüler als hoffnungsloser Fall eingestuft wurde, untersuchte mich ein Psychologe. Er öffnete mit zwei wunderbaren Vorschlägen auf einmal in meinem Leben einen unerwarteten Raum. Erstens meinte er, dass ich in eine Reformschule geschickt werden solle, weil eine „normale“ Schule mir offensichtlich zu langweilig sei. Zweitens meinte er, dass ich mich mit dem Gedanken anfreunden solle, Journalist zu werden. Journalisten, so meinte er, seien ja immer unterwegs, irgendwie ungebunden und irgendwie doch nützlich. „Das Einzige was ihr Sohn kann“, so sagte er meinem Vater, „ist schreiben. Alles andere liegt außerhalb seiner Möglichkeiten“.
Irgendwie ungebunden und irgendwie doch nützlich... Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass diese Worte mich bis zum heutigen Tag begleiten... Das Gefühl, in nichts Normales hinein zu passen und doch auf eine unbestimmte Art und Weise mitmachen zu können, ist einer der Grundempfindungen meines Lebens. Und gerade diese Grundstimmung herrschte in der „Openbare IVO-School“, einer Reformschule in Utrecht, die von dem ehemaligen Journalisten Tjeerd de Boorder geleitet wurde. In dieser Schule hatten sich etwa zweihundert Lehrer und Schüler zusammengefunden, die irgendwie komplett daneben und doch irgendwie komplett mittendrin waren. Die Schule war eine Werkstatt des Ungewöhnlichen.
Tjeerd de Boorder war ein Phänomen. Es konnte geschehen, nein: Es geschah tatsächlich immer wieder, dass er auf einmal alle Schüler und Lehrer in die Turnhalle rief, um unter Tränen ein Gedicht von Goethe oder Schiller vorzutragen, immer ein deutsches Gedicht... Er stand da ganz vorne, brauchte gar nicht um Stille zu bitten und fing gerührt und getragen an mit: „Wer reitet so spät durch Nacht und Wind“, und als er beim letzten Satz angekommen war: „Das Kind war tot“, hatte sich eine sentimentale Betroffenheit unter allen Zuhörern breit gemacht. Tjeerd de Boorder schaffte es, mit einem Gedicht ein Ereignis zu erzeugen.
Einmal, seine Frau hatte Geburtstag, schickte er zwei ältere Schüler mit seinem schwarzen Mercedes in die Stadt, um zweihundert kleine Torten - gefüllt mit Schlagsahne - zu kaufen, die er dann in der Turnhalle persönlich verteilte. Nach dem Genuss der Torte hielt er eine kleine Rede über seine Frau, die auch Lehrerin an der Schule war, allerdings eine nicht so ganz beliebte. Ich kann mich an seine genauen Worte leider nicht mehr erinnern, weiß aber noch, dass ich für eine Weile seine Frau wieder ein bisschen mochte. Es war Tjeerd de Boorder richtig ein Anliegen: wir hatten einander zu mögen und zu respektieren.
An dieser Schule bekamen nicht nur Gedichte einen besonderen Platz, sondern auch Musik, Malen, Geschichte, Politik und Demokratie. Die Lehrer waren fast alle heftig links, pazifistisch, anarchistisch... Sie waren keine pädagogischen „Funktionäre“, sondern engagierte Persönlichkeiten, die so richtig etwas mit den Schülern und überhaupt der ganzen Welt vorhatten. Neben Tjeerd de Boorder ist noch der Maler, Dichter und Buchautor Hugo Wormgoor zu erwähnen, ein kleiner Mann mit einem langen Bart, der (damals noch) rauchte wie ein Schornstein und sich während seines Unterrichts mit allem Möglichen und Unmöglichen beschäftigte: Mathematik, Mythologie, Spiritualität, Sprache, Sterne und Planeten. Egal was geschah, malen oder nicht malen, Hugo Wormgoor erzählte uns quasi nebenbei von Sachen, wovon wir nicht einmal wussten, dass es sie überhaupt gab.
Innerhalb von wenigen Wochen hatte ich auf einmal mehr als zwanzig „Freunde“ um mich herum. Ich war in einem Flechtwerk von auffälligen Zeitgenossen angekommen, die alle von sich aus ihr eigenes Ding machten: ehrgeizig Hockey spielen, Gedichte und Lieder schreiben, E-Gitarren bauen und spielen, Schlagzeug spielen, Skulpturen aus Kupfer gießen, große Wandbilder malen (zum Beispiel in den Jazz-Kellern in der Innenstadt) oder gerade kleine Miniaturen, Verstärker und sonstige soundmachines bauen, mit 16-Millimeter-Kameras Filme drehen (die nie zu Ende gedreht wurden), Trips nach Drenthe machen, um die Hünengräben zu fotografieren, Bücher lesen... In der Schule von Tjeerd de Boorder stellte ich für mich fest, dass das Leben dadurch Schwung kriegt, dass man aktiv ist und gemeinsam etwas unternimmt. Was bisher in meinem Leben eine strikt geheime Tätigkeit war, nämlich: von mir aus etwas „kreieren“, wurde auf einmal eine öffentliche und kollektive Angelegenheit.
Die Freunde und Freundinnen hatten Eigennamen, die ich vom ersten Tag an innerlich greifen konnte. Ihre Namen – Lodewijk, Rob, Theo, Annette, Ina, Max, Paulus – gehörten zu mir, genau wie mein eigener Name, der erst durch die Namen meiner Kameraden und Freunde wirklich ein Name wurde. In der Bekanntschaft mit den Mitschülern wachte ich auf eine neue Art und Weise zu mir auf, ich bemerkte, dass ich „Jelle“ bin, eine vielschichtige Person, die kaleidoskopisch in den Spiegeln der anderen in Erscheinung tritt. Ich war ein Eigenname, das heißt: Kern und Peripherie zu gleich – ich nannte mich selbst so und wurde von anderen um mich herum auch so genannt und gemeint. Ich war aus einer Isolierung befreit und bis in mein Innerstes berührt worden.
17 Kommentare:
Poesie des Alltags
Zur Zeit baue ich in einem Kindergarten eine Hochebene aus Holz, mit integrierten Puppenhaus, wo man drauf und drunter spielen kann. Ab und zu brauche ich da Machinen und die machen halt lärm. Diese Woche gab es noch immer eine Feriengruppe und die Kindergärtnerinnen hatten Edelsteine in dem Sandkasten versteckt, die von den Kleinen mit Hilfe von Sieben "gefunden" wurden.
In einem Moment wo ich ziemlich viel krach machte kam ein Mädchen an mir vorbei. Sie trug einen Edelstein wie eine Kostbarkeit auf ihre Hand. Etwas später kam sie ein zweites mal vorbei, den Edelstein noch immer auf der Hand. Sie guckte mich mit ihre große dunkle Augen an und sagte:
Huub, mach mal nicht so ein Lärm, weil so kommt mein Edelstein nicht zu Ruhe.
Herzlich
Huub
LIEBER JELLE VAN DER MEULEN: DANKE FÜR DEINE ERZÄHLUNGEN. SIE BERÜHREN MICH IMMER WIEDER. XXXX
Den eigenen Namen hören... sich selbst erfahren... im Netzwerk mit "den Anderen"... innen und außen, Kern und Peripherie... etwas machen, aktiv werden... Kreativität entdecken...
Sehr schön! Sehr, sehr schön! Möge jeder in seinem Leben so einen Moment erleben und zu sich selber finden, damit er bei den anderen sein kann.
Leider habe ich keine Reformschule besucht, galt jedoch in der 5. Klasse einer Hauptschule gleichfalls als hoffnungsloser Fall, bis mich ein Lehrer quasi rettete, indem er einen (kreativ und visuell angelegten) IQ-Test mit mir machte. Danach durfte ich dann wählen zwischen Realschule und Gymnasium.
Auf der Realschule die ich dann später besuchte, traf ich erstmals auf Menschen, d.h. auf Lehrer, die in mir das Interesse für Literatur, Geschichte und Politik weckten. In Mathematik und Englisch dagegen war ich denkbar schlecht. Jedenfalls verdanke ich das Interesse an Literatur, ja auch die Befähigung selbst zu schreiben, meinem damaligen Deutsch- und Erdkunde-Lehrer Herrn Tornow. Er war Kettenraucher sowie ein ehemaliger Boxer und sprach uns
Schüler (in einer reinen Jungenklasse) als "Männer" an. Das war es, was wir brauchten: ein Vorbild - und das war er in jeder Hinsicht....
Herzlich,
Michael Heinen-Anders
Marsch der Matrosen
Santa Lucia!
Großherzig leuchtet
das Focksegel
übers Meer.
Kleinmütige
Matrosen
erheben sich
gegen das
Meer
und marschieren
mühsam vereint
in den fahrlässigen
Sonnenuntergang.
(Michael Heinen-Anders)
Reformkindergarten....dort gibt es Kollegen ohne Konkurenzemfinden, ohne Macht und wer gestaltet den schönsten Jahreszeitentisch oder Elternabend...
Ein Kindergarten mit großem Garten, viel draußen sein und Besucher die etwas besonderes lieben: vielleicht ein Instrument das sie den Kindern auf ihre Art zeigen, oder einfach eine Geschichte, oder weil sie z.B. Schmetterlinge mögen oder gut Marmelade kochen ...Handwerker die Kinder mögen...
Eltern die ins Gespräch kommen dürfen und wo Wärme dabei entstehen kann.
Buden die man baut und mal stehen lassen kann, Praktikantinnen die außer spülen auch mal ein Spiel oder anderes versuchen dürfen und vielleicht auch wollen , die Mut entwickeln dürfen, ausprobieren. Ausflüge über mehere Tage, mit und ohne Eltern.. Stöcke sammeln, balgen dürfen,sich vertragen lernen, neu anfangen.Feuer machen, Wasserfälle und Staudämme bauen, im Matsch spielen dürfen, Eltern die dabeisein dürfen,malen auf großem Papier oder Holz oder Stoff, und das auf dem Boden.Oder sogar draußen, auch Eurythmie mal draußen machen. Schulkindarbeit abschaffen, dafür einfach schaffen dürfen, mit 3 oder 4 oder 5 oder 6 oder 7Jahren, mitmachen dürfen, helfen wollen, machen und wieder neu machen.Spielen oder tatnen, Möglich machen. Dann kommt das was Wärme, Vertrauen und all das ist was der Mensch so braucht um ein Mensch zu sein der auf dem Weg ist und die Freiheit und Würde sucht und findet.
Und die Liebe zu allem was um mir ist.
Also ein Reformkindergarten für Menschen und eine Zukunft für das Leben.Hm, so ein kulturschaffender Kindergarten, eine Naturkinderwerkstatt, ein autonomer Kindergarten, eine Oase, eine Sozialplastik mitten in Deutschland?
Schön ist das, gibt es sicher für wenige Augenblicke lang, wie ein Traum, kaum erfasbar,aber da und in echt, jedoch noch zart wie ein Schmetterling...doch in Entwicklung, im Gedanken schon laaang erwünscht und nach und nach realisierbar.
Keine ausgedachten Institutionen, sonder von Menschen aus sich Entwickelnde.Nach und nach ,aus den Bedürfnissen heraus, nicht aus der Politik, freie Kindergärten zum Wohle des Menschen, des Kindes.
Ja,so sonderbar ist das. Gruß,Birgit
Am Samstag traf ich die Putzfrau im Kindergarten. Wir kamen in Gepräch und irgendwann sagte sie zu mir:
"Ich bin zu jederzeit und in jedem Moment authentisch."
Nun gibt es wenig authentische Menschen und noch weniger die ich glaube wenn sie das von sich selber behaupten.
Aber ihr glaube ich.
Trotzdem bleibt da eine unruhe, wenn ich einen authentischen Menschen gegenübertrete. Ich kenne mich zu sehr, kenne meine Fehler und weiss drum dass meine Fehler, so wie auch mein nicht immer authentisch sein, zu meinem Wachstum beitragen. Ich bin auch eher jemand der sich ein bisschen daneben fühlt.
Heutemorgen kam mir ein Wort, wo ich den Umfang noch nicht erfassen kann, aber wo ich mich jetzt schon in finde:
Ich bin postauthentisch.
Huub
Gedicht als Ereignis... Man könnte auch sagen: Gedicht als Tat. Sind es nicht Taten, die Ereignissen hervorrufen? Und können nicht auch Gedanken zu Ereignissen führen? Freya.
Liebe Birgit, du hast es schön beschrieben... Ich kenne so einen Ort für Kinder: Amares im Kölner Stadtwald. Entwickelt sich aus den Menschen heraus... Herzlich, Jelle
Die Menschen und die Dinge, die man braucht, um seine Entwicklung voranzutreiben, trifft man früher oder später..bei Jelle gottseidank früher, denn diese Schule scheint ihn geprägt zu haben, andere brauchen etwas länger, weil sie auf der "normalen" Regelschule zu uniform gemacht wurden im Einklang mit den Eltern, weil sie es auch nicht besser wussten. Und irgendwann können sich diese, im normalen, dogmatischen Denken aller Intelektuellen und Proletarier manchmal ausgeschlossenen Freundschaften und Bekanntschaften, treffen und ihre Gedanken austauschen Wie bei " Ton, Steine, Scherben" : Ich bin nicht unter dir, ich bin nicht über dir, ich bin neben dir. Zweckentfremdetes Liebeslied, aber passend..
Jelle, eine wunderbare Beschreibung deiner Schule der Kindheit!
Liebe Grüsse
Ralf G.
Könnte ich Amares im Kölner Stadtwald besuchen?
Ja, Gedichte, Gedanken bewirken etwas,jede Menge, führen zur Tat. Ja. Auch:
Ich bin noch geschockt von den Nachrichten aus Duisburg.
Da ist etwas Wichtiges dabei was wir irgendwie übersehen...
Und die Verantwortung als Kindergärtner über größere Zeiträume als die ersten sieben Jahre.
Kulturschaffend..Autonom..
Berichte der Augenzeugen, Überlebensberichte, Berichte von Helfern,die unbekannt einfach geholfen haben. Tiefes Mitgefühl,auch in eigener höchster Not bewiesen haben.Und welche Menschlichkeiten kommt dabei zum Teil in diesen Berichten hevor erscheinen.
Ich mag das noch nicht ganz berühren,weil das Ganze so erschütternd ist.
Danke für die irgendwie Mut machenden Kommentare zum Thema des Menschwerdens.
Herzlich sagt jelle an dieser Stelle. Also: Herzlich, Birgit
Liebe Birgit, du könntest Amares schon besuchen, allerdings erst in September. Schreib mir bitte eine Email: jelle.vandermeulen@arcor.de Herzlich, JvdM
Liebe Birgit, du könntest Amares schon besuchen, allerdings erst in September. Schreib mir bitte eine Email: jelle.vandermeulen@arcor.de Herzlich, JvdM
Hier mal etwas anderes. Wer hat Kontakt zur Presse oder kann mir diesen vermitteln?
Es geht mir darum meinen aktuellen Lyrik- und Prosaband "Licht am Morgen - Gedichte und Prosa. 2. ergänzte Auflage", BOD, Norderstedt, Juli 2010 von einem Kulturjounalisten rezensieren zu lassen.
Für interessierte Journalisten gibt es auch ein kostenfreies Rezensionsexemplar, welches unter www.bod.de/rezensionsexemplar angefordert werden kann.
Falls also jemand jemanden kennt oder falls jemand sich selbst dazu
berufen fühlt, bitte ich um Kontaktaufnahme unter:
mha1213@freenet.de
Herzlichen Dank!
Michael Heinen-Anders
Lieber Huub, Dein Schluss-satz:
"Huub, mach mal nicht so ein Lärm, weil so kommt mein Edelstein nicht zu Ruhe." - Könnte ja glatt von Dir sein ;)
Wir Erwachsenen meinen ja, dass Lärmmachen bzw. Rücksichtnehmen nicht so wichtig seien. Kinder wissen jedoch meistens mehr als wir, weil sie in der Regel der geistig-seelischen Welt und dem Hier und Jetzt näher sind als wir (und somit u.a. auch der Stille).
Ach, wir Erwachsenen, die sich doch soviel Sorgen machen "müssen" um ihre Arbeit und um Selbsterhalt u.v.m. - wir können den Kindern sehr dankbar sein und meistens noch viel von ihnen lernen, wenn wir nur wollen..
Herzlichst
Steffen
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