28.03.2010

Ungreifbare Flüssigkeiten. Ein neues Lernen in einer Kultur des Herzens

Die Menschheit betritt Neuland. Und das Betreten von Neuland fragt um eine neue Art des Lernens und Erkennens. Auf hunderterlei Arten und Weisen ist das neue Lernen im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts von Philosophen, Wissenschaftlern und Künstlern beschrieben worden. Spontan zu erwähnen sind an dieser Stelle, das „dialogische Denken“ von Jürgen Habermas, das „dialogische Prinzip“ von Martin Buber, die „soziale Plastik“ von Joseph Beuys, das „Diskurs-Denken“ von Michel Foucault und die „Dekonstruktion“ von Jacques Derrida. Hinter all diesen abenteuerlichen Sprachschöpfungen stecken Ahnungen, Sehnsüchte und Vorsätze.

Die Ahnung besagt, dass die Wirklichkeit nur scheinbar mit gegenständlichen und funktionalen Begriffen zu greifen ist. Die physische „Greifbarkeit“ der Welt scheint nicht mehr eindeutig „vorhanden“ zu sein und eine neue Art des Begreifens, das eher auf einem aktiven Mitmachen beruht, wird erahnt. Extrem einseitig wird dieses Ahnen im Konstruktivismus umgesetzt: was wir Welt nennen, ist nicht gegeben, sondern wird von Menschen ständig neu konstruiert.

Die Sehnsucht bedeutet beinhaltet ein Verlangen nach Ausfahrt, Lichtung, Erweiterung, Vertiefung, Erhöhung, Befreiung – sie hat hundert Namen. An der Tatsache, dass Rudolf Steiner an dieser Stelle die merkwürdige Andeutung ätherische Welt“ benutzt, übrigens neben weiteren Umschreibungen, brauchen wir uns nicht zu stören. Er war ja am Anfang des zwanzigsten Jahrhundert in seinem Diskurs nun einmal auf theosophische Begriffe orientiert. Die Wirklichkeit, nach der wir uns sehnen, lässt sich sprachlich nicht fixieren.

Der Vorsatz bezieht sich auf eine humane Beteiligung. Egal was gedacht und gemacht wird, die Quellen liegen nicht länger in Ideologien, Systemen, Theorien, Konzepten und Weltanschauungen, sondern in den Menschen selber. Entscheidend ist, was sich in meiner frei-zu-werdenden Beziehung zu mir, in meiner frei-zu-werdenden Beziehung zu dir, in dem Ringen um freie Beziehungen-zwischen-uns als fruchtbar, notwendig und bedeutungsvoll erscheint. Der Vorsatz ist ein neues Lernen, dass sich unterwegs vollzieht und nicht vorprogrammiert ist. Die Inhalte des Lernens haben nie einen abstrakten Status, sind nie losgelöst von Raum und Zeit, treten in konkreten Umständen auf, werden wachgerufen und zelebriert im direkten Antlitz der Erscheinungen.

Eine Kultur des Herzens ist zu verstehen als ein unüberschaubares Flechtwerk von Menschen, die gemeinsam versuchen, diesen Weg zu gehen. Sie ist gleichzeitig Quelle, Bedingung und Ziel – Ursache und Wirkung. Die Substanz einer Kultur des Herzens liegt in der ungreifbaren Flüssigkeit zwischen mir und dir, zwischen uns, letztendlich ist sie als eine machtvolle Kraft zu verstehen. Wenn zwei Menschen in Freundschaft etwas mit einander gestalten wollen, im privaten oder im öffentlichen Bereich, öffnet sich ein Feld, wo Macht in Freiheit neu geordnet werden kann.

Ein guter Freund meinte, dass man über eine Kultur des Herzens nicht schreiben könne, gerade weil sie nicht überschaubar sei. Ich glaube nicht, dass das stimmt. Ich glaube, dass die Kultur des Herzens tausend Texte braucht, geschrieben von mir und von dir, von ihr und von ihm, um gerade die Vielfalt erlebbar zu machen. Wenn ich versuche, mein Verständnis der Sache auf die sprachliche Ebene zu bringen, wird sofort deutlich: es gibt noch viel mehr Fenster. Sachen nicht fixieren zu wollen, heißt nicht, dass man schweigen muss.

Mit Dank an Sophie Pannitschka

5 Kommentare

7 Kommentare:

Michael Heinen-Anders hat gesagt…

Lieber Jelle!

Es ist in der Tat schwer etwas über die 'Kultur des Herzens' zu schreiben - um so wichtiger ist es dennoch.
Die Kultur des Herzens ermöglicht viele kleine Initiativen und Gesprächsgruppen, die sich von unten nach oben - im Gegensatz zur althergebrachten Führungspyramide - entwickeln. Je stärker diese aufgezeigten Beziehungen von Machtambitionen einzelner überlagert werden, um so unwirksamer werden sie als 'Heilfaktoren im sozialen Organismus'. Das Gelingen der persönlichen Begegnung ist bei einer Kultur des Herzens wichtiger, als der persönliche Erfolg in bestimmten Angelegenheiten.
Solche Gruppen existieren gegenwärtig schon (angefangen beim Gesprächskreis und noch nicht endend bei Aktionsgruppen für den gesellschaftlichen Fortschritt), als Beispiel für viele Gruppierungen möchte ich hier die Grundeinkommensbewegung nennen, aber auch die vielfachen Bürgerinitiativen für plebiszitäre Elemente auch auf Bundes- und Europaebene sollen hier erwähnt sein.
Ein wichtiges Merkmal dieser Gruppen ist, das sie relativ selbstlos agieren. Der Erfolg ihrer (z.B. politischen) Bemühungen käme ihnen zwar auch, aber nicht in erster Linie zu gute. Es geht immer um die gute Idee und nicht um den großen 'Reibach'. Insofern ist das nennen von Gruppierungen wie Greenpeace als positives Beispiel hier schon grenzwertig. Auf jeden Fall dazu zählt für mich 'amnesty international'.

Herzlich,

Michael

Anonym hat gesagt…

Lieber Jelle,
In "de Volkskrant" stand dieses Wochenende ein Artikel über die Freiheit. Da wurde geschrieben das Freiheit anfängt mit Phantasie. Das neue Lernen in einer Kultur des Herzens hat meiner Ansicht nach da mit zu tun. Als Lehrer erfahre ich das auch in der Begegnung mit den Schülern. Geplante Arbeit hat die Gefahr von nicht lebendig sein. Wenn ich den Mut habe das zwischenmenschliche seriös zu nehmen, dann entsteht Lebendigkeit, Freude en eine offene Zukunft.
Herzlich,
Wim Maas

wim maas hat gesagt…

Lieber Jelle,
Dieses Wochenende las ich in "de Volkskrant" ein Artikel über die Freiheit. Der Schreiber behauptete das die Freiheit anfängt mit der Phantasie. Meiner Ansicht nach hat das auch zu tun mit dem neuen Lernen in einer Kultur des Herzens.
In meiner Arbeit als Lehrer erfahre ich das geplante Arbeit immer das Gefahr in sich hat von Trockenheit und Todeskräfte. Wenn ich mutig genug bin um zu suchen nach dem Zwischenmenschliche zwischen meinen Schülern und mir, dann entsteht fast immer etwas was Freude gibt, neu entsteht und mit der Zukunft verbunden ist.
Herzlich,
Wim Maas

Anonym hat gesagt…

Lieber Wim Maas, danke für die beiden Kommentaren! Irgendetwas ist schief gegangen! Und ja, Phantasie... Herzlich, Jelle van der Meulen

Anonym hat gesagt…

Warum das Herz? Wie wäre es mit einer Kultur der Hände? Nitta

Andrea hat gesagt…

Das hinein Hören in sich und in das Dazwischen.


Heute morgen bin ich vom Telefon geweckt worden, ich wusste, obwohl aus einem Tiefschlaf am Morgen kommend, es ist Christina! Es ist Sommerzeit,halb acht und ich muss aufstehen! Richtig wach wurde ich aber erst durch ein leises zartes Klicken, zu spüren in meinem Kopfbereich, als sie ihre Frage stellte, ob ich sie nun in Chur treffen will. Ich dachte, wieso fragt sie mich, wir hatten doch am Vortag abgemacht?
Gleichzeitig wusste ich, jetzt ist es an mir meine Zweifel und mein nicht festlegen können und wollen und alle Eventualitäten mit einbeziehen wollen weg zu schieben und eindeutig ja zu Sagen. Dieses " Ja" vom Vortag hiess "eigentlich Ja", wenn nichts dazwischen kommt, wenn es klappt. Das ist ein leiser Unterton oder besser gesagt ein Hineinhören in das was dazwischen alles passiert, mit hineinverwoben sein kann. Dass man unterwegs ist und noch tausend Dinge dazwischen erledigt werden, alltägliche, das möchte man auch noch mit einbeziehen. "ich komme dann, allmählich, in einer
Stunde bin ich bei dir, aber ich bin eigentlich schon da -in Gedanken, aber der Weg zwischen uns, liegt noch mit sooooo vielen Eindrücken zwischen uns."
Ein Handygespräch im Zug und Bus beinhaltet solche Sätze auch.

Unknown hat gesagt…

Liebe Nitta,

Deine 2 Sätze haben mir die letzte Tage immer mal wieder beschäftigt. Mal im Vordergrund, mal im Hintergrund.
Warum keine Kultur der Hände?
Die letzte Jahre habe ich mehr mit den Hände gelebt, weil ich fand das schon genug geredet wurde und das dadurch zuviel Arbeit liegen blieb. Viel von was geredet wird lässt sich auch besser während der praktische Arbeit lösen. Unsere Hände "wissen" oft viel besser was und wie etwas getan werden will.
Das ging auch lange gut bis sehr gut. Bis ich entdeckte, dass mein Herz nicht mehr mitkam. Und wenn das Herz nicht mehr in der Arbeit sein kann, entsteht eine Krise. Eine Krise die sich nicht mit den Hände lösen lässt. Die Hände selber finden schon irgendwo anders ihren Weg zu sinnvoller Arbeit. Die Krise will aber im Herzen gelöst werden. Meistens ensteht sie zwischen Menschen oder zwischen Mensch und Organisation
Wenn es eine Kultur der Herzen geben würde, würden die Hände frei arbeiten können, weil das Herz in der Arbeit dabei sein kann.
Darum für mich eher doch:
Eine Kultur des Herzens