01.03.2010

Alle großen Worte brauchen Respekt. Über das Wort „ Anthroposophie“

Wer aufhört sich die Frage zu stellen, wie bestimmte Gedanken & Gefühle & Intentionen & Ereignisse hier & jetzt sprachlich auszudrücken sind, steht im Abseits. Verbindungen zwischen Bedeutungen & Worten sind nicht fixiert. Immer wieder werden neue & frische & überraschende Sprachschöpfungen gebraucht & gemacht. Sie wirken wie Lichtungen ins Offene.

Sprache ist wie ein Kreuz, weil sie zwei Spannungsfelder in einem Punkt zusammenzieht. Ein stimmiges Wort, gesprochen oder geschrieben, erscheint im Nu wie eine Rose, in sich selber versunken, sich selber übersteigend. Die erste Spannung ist vertikal ausgerichtet: sie bezieht sich auf das Wechselspiel zwischen Lauten & Bedeutungen. Wenn der Satz „Sein Herz war ein Gefäß“ (Pablo Neruda) auf einmal klingt, lässt sich ein Gedanke oder eine Vorstellung über eine Sequenz von vertrauten Lauten intuitiv ergreifen.

Das zweite Wirkungsfeld ist horizontal. In diesem Feld bewegen sich die Worte zwischen den Menschen hin & her. Sprache ist immer auch eine Bewegung von mir zu dir, gleichzeitig von dir zu mir. Ich kann nicht mit dir reden, ohne mich in deine Sprache zu versetzen. Und erst wenn es gelingt den Punkt zu finden, an dem die Spannung zwischen oben & unten mit der zwischen mir & dir verschmilzt, findet eine Kommunion statt. Ob ein Wort richtig oder stimmig ist, hängt davon ab, ob die vier Perspektiven einen gemeinsamen Glühpunkt finden.

Kommunikation ist ein offenes Geschehen in Raum & Zeit. Richtige Aussagen erscheinen immer irgendwo & irgendwann. Behauptungen, die sich von Raum & Zeit gelöst haben, sind gleichzeitig leer und kraftlos & übermächtig und unantastbar geworden. Wenn Sigmar Gabriel in seinen Reden immer wieder „liebe Genossinnen & Genossen“ sagt, zeigt er, dass die Beziehung zwischen ihm als Vorsitzendem & den Mitgliedern seiner Partei durch die Geschichte fixiert ist. Auf der sozialen Ebene ist seine Aussage leer, auf der politischen gerade machtvoll.

Das Offene der Kommunikation hängt mit der Tatsache zusammen, dass Lebensvorgänge sich ständig verwandeln. Es wird eine Zeit geben, in der das Wort „cool“ auf einmal völlig daneben ist, weil sich die Perspektiven verändert haben. Und ist es nicht schon heute so, dass nicht alle Menschen sich dieses Wort bedienen können, einfach weil sie irgendwie & irgendwo im Lichte der heiligen Lässigkeit schon daneben sind?

Ein Wort, mit dem ich schon dreißig Jahre ringe, heißt „Anthroposophie“. Auch dieses Wort wird ständig hin & her manipuliert zwischen Nichts & Allem. Als kultureller Begriff hat das Wort jegliche Bedeutung verloren, weil es auf ein festgelegtes System von bestimmten Normen & Werten reduziert worden ist - geschätzt von einer kleinen Gruppe von Menschen. Für die Öffentlichkeit hat das Wort seine positive Wirkung verloren.

In anthroposophischen Kreisen & Einrichtungen kann das Wort allerdings eine sehr große Macht haben. Es bedeutet dort oft so viel wie: die unerreichbare geistige Wahrheit, die sich über Raum & Zeit befindet & nur von ganz wenigen Menschen verstanden werden kann. Man muss ein bestimmtes Alter haben, ganz viele Bücher gelesen (und bitte: geschrieben) haben & außerdem noch gut reden können. Wenn jemand an diesen Kriterien scheitert, ist er nicht im Stande, Anthroposophie zu vertreten.

Obwohl das Wort Anthroposophie sich in einer schwierigen Lage befindet, werde ich an dieser Stelle nicht vorschlagen, es einfach zu streichen. Wenn es um sprachliche Gepflogenheiten geht, funktionieren solche Entscheidungen nicht, weil Sprache ein Eigenleben führt. Sich bewusst auf bestimmte Ausdrücke festzulegen, gelingt nur im akademischen & rechtlichen Rahmen – was die Sprache dementsprechend trocken & abstrakt macht. Nein, wir müssen mit dem Wort Anthroposophie weiter leben.

Aber wie? Ich würde sagen: mit Liebe. Das bedeutet meines Erachtens, dass die zwei genannten polaren Bedeutungen, die zwischen Allem & Nichts, vermieden werden. Sie verletzen nicht nur die sozialen Beziehungen zwischen Menschen, sondern auch das Wort selbst. Ein Wort liebevoll zu benutzen, bedeutet etwa: auf den Anspruch zu verzichten, seine Bedeutung ganz zu durchschauen & festzulegen.

Alle „großen“ Begriffe & alle „großen“ Worte, die sich auf diese Begriffe beziehen, verdienen Respekt. Worte wie Wahrheit & Freiheit & Liebe sind in der Kommunion zwischen oben & unten und in der Kommunikation zwischen mir & dir nur dann fruchtbar wirksam, wenn sie als eine offene Bestimmung verstanden werden. Sobald man meint, die Bedeutung des Wortes ganz & komplett zu kennen, gerät man in eine Isolation.

Wer könnte schon definitiv in Worte fassen, was Liebe bedeutet? Die Anthroposophie ist vor allem eine Sache des Herzens. Wir brauchen zwar unsere Köpfe, entscheidend ist aber das, was Rudolf Steiner folgendermaßen versucht hat zu beschreiben: „Erleuchte/ unsere Häupter,/ Dass gut werde,/ was wir aus Herzen/ Gründen,/ was wir aus Häuptern/ Zielvoll führen wollen.“ Die Quelle liegt also im Herzen, und dessen Sprache nennt man Poesie.

21 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Ich bin überzeugt es gibt Worte die kann man anziehen, riechen, schmecken, in ihnen spazieren gehen, sie können duften und warm sein, Licht geben, Mut machen, Freude... kurz: das tat gut!
Wenn ich dir hiermit eine Blume hinübergeworfen habe, so soll sie auch dir wohltun.

Birgit(so ein Text will Zeit haben, dann...)

Michael Heinen-Anders hat gesagt…

Anthroposophie und Poesie in eins zu bringen, das ist ein Bemühen, das uns, lieber Jelle, durchaus eint.

Und ich muss sagen - trotz vieler Versuche - gibt es nur etwa eine Handvoll Gedichte, wo mir dies auch gelungen zu sein scheint, etwa hier:

ERZENGEL MICHAEL

Michaels Flammenschwert
Michaels Flammenharnisch
Michaels Flammendes Ich

halten stand
sind licht
bringen Licht

der Weltenfinsternis.

(Michael Heinen-Anders)

Anonym hat gesagt…

Lieber Jelle van der Meulen,

ich möchte mich dem Kommentar von Birgit anschließen und nicht viel hinzufügen, weitere Worte stören in diesem Falle fast.

Von mir dann ebenfalls eine Blume hinübergeworfen...(kann mir vorstellen, dass recht bald ein richtiger Strauss entsteht..).

Herzlichst
Steffen

Anonym hat gesagt…

Heinen-Anders, du bist einfach nur gaga. Aber sowas von.

Anonym2 hat gesagt…

Anthroposophie braucht überhaupt mehr Respekt.

...insofern hier bereits von 'gaga' die Rede ist.

Aber ist Gaga nicht zugleich verdammt "in", wie man etwa auch bei zahlreichen Bewunderern von Sebastian Gronbach feststellen zu können meint?

Von Sebastian Gronbach bis zum nächsten Swinger-Club ist es bekanntlich nicht weit.

Ebenso kurz dürfte dann die weitere Distanz zu 'Lady Gaga' sein...

http://www.lady-gaga.de/

Michael Heinen-Anders hat gesagt…

Der Sprachgenius zieht sich zurück von der Menschheit!

Aber was kann in dieser Situation getan werden?

Es ist das stete Bemühen um inspirative Erkenntnis, gerade auch im Bereich der Sprache, des Sprachgebrauchs, bis hin zu unseren erlesensten Perlen der Dichtung. Der Lyrik kommt dabei eine besondere Aufgabe zu, denn sprachmächtig ist – auch in der Gegenwart - vor allen anderen Literaturgattungen die Poesie.

Als Beispiel für ein solches erfolgreiches Ringen mag hier folgendes Gedicht gelten:

DAS ANMUTIGE IM ANTLITZ DES LÖWEN

Die brüllende Mähne verbirgt
zahlreiche kleine Lachfältchen.

Schweißperlen tropfen glitzernd von
seinen staubbeladenen Nüstern.

Seine Pfoten spielen, fliegenjagend,
mit dem Wind.

Bald Tanzbär,
manchmal Luftikusse.

Zum Gähnen reißt er das Maul auf,
als wollte er die Sterne verschlingen.

Sattschwelgend überlässt er seine Beute,
den Honigkuchenmond, liebend gerne
den Schakalen.

(Michael Heinen-Anders)

Jelle van der Meulen hat gesagt…

Von mir aus dürfen Äusserungen von Menschen in den Kommentaren kritisiert werden. Jemand einfach "gaga" nennen, halte ich allerdings für unwürdig. Jelle van der Meulen

Anonym hat gesagt…

Lieber Jelle, hierzu passt eines meiner Lieblingsgedichte von Rilke sehr schön.
Die Dinge sind alle nicht so fassbar und sagbar, als man uns meistens glauben machen möchte; die meisten Ereignisse sind unsagbar, vollziehen sich in einem Raum, den nie ein Wort betreten hat...
Die Anthroposophie bietet ein Werkzeug, mit dem es möglich ist, diesen Raum zu betreten. Aber es sind oft gerade nicht die Worte!
Viele liebe Grüße und alles Gute für Dich, Birgitt

Sophie Pannitschka hat gesagt…

Liebe Birgitt,

dein RilkeZitat ist aus einem Brief, den der große Dichter 1903 an einen jungen Dichter, nämlich Franz Xaver Kappus, geschrieben hat. Unter diesem Link findest du den ganzen Text - den auch ich sehr mag.

http://www.rilke.de/briefe/170203.htm

Herzlich, Sophie

Anonym hat gesagt…

Liebe Sophie,

vielen Dank und liebe Grüße!

Birgitt

nimmerklug hat gesagt…

Göttliches Licht,
Christus-Sonne,
Erwärme
Unsere Herzen;
Erleuchte
Unsere Häupter;

Dass gut werde,
Was wir aus Herzen
Gründen,
Aus Häuptern
Zielvoll führen
Wollen.

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~

"Das Herz ist der Schlüssel der Welt und des Lebens. Man lebt in diesem hilflosen Zustande, um zu lieben und Andern verpflichtet zu sein. Durch Unvollkommenheit wird man der Einwirkung Andrer fähig, und diese fremde Einwirkung ist der Zweck. In Krankheiten sollen und können uns nur Andre helfen. So ist Christus, von diesem Gesichtspunkt aus, allerdings der Schlüssel der Welt"

[F.von Hardenberg]

Sophie Pannitschka hat gesagt…

Lieber Jelle, habe mich durch deinen Text zu einer kleinen Replik inspirieren lassen. Zu finden unter: http://sophiepannitschka.blogspot.com/
Herzlich, sophie

Jelle van der Meulen hat gesagt…

Liebe Sophie, Worte und Begriffe sind nicht identisch. Mich überzeugt die Sichtweise von Owen Barfield, der in seinem „Poetic Diction“ schreibt, dass Wörter „keine Flaschen“ sind. In meiner Übersetzung: „Bedeutung kann nie von einem zu einem anderen Menschen transportiert werden; Wörter sind keine Flaschen; jeder Mensch muss die Bedeutung für sich selber intuitiv ergreifen, und die Funktion des Poetischen liegt darin, diese Intuition durch passende Suggestion zu vermitteln“. Mit Begriffe ist das genau so: sie sind geistige „Erscheinungen“, die nicht identisch mit der Sprache sind. Deswegen können Begriffe auf unterschiedlichen Arten und Weisen „passend suggeriert“ werden: über Wörter, Bilder, Farben, Bewegungen (Tanz). Mir fällt übrigens immer wieder auf, dass vor allen die Deutschen, auch wenn es um Sprache geht, erst auf die Begriffen schauen. Die Deutschen haben eine intime Beziehung zu den Begriffen. Das Wort Begriff würde man ins Englisch mit „concept“ übersetzen, was allerdings eine andere Bedeutung hat. Der Begriff concept heißt etwas anderes als der Begriff Begriff. Ich meine, dass die Engländer eher auf die Beziehung zwischen Sprache und Begriffen schauen. Sie erleben Begriffen weniger als „Architektur“, als feste „Bauwerken“ mit festen Namen und so weiter... Deswegen gerade Owen Barfield (ein Engländer aus Kent, also: ein Engländer pur sang): Wörter sind keine Flaschen... Herzlich, Jelle van der Meulen

Anonym hat gesagt…
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Anonym hat gesagt…

Groß und klein, alles braucht Respekt. Gruß aus Berlin. Nitta

Anonym hat gesagt…
Der Kommentar wurde von einem Blog-Administrator entfernt.
Wibke Reinstein hat gesagt…

Lieber Jelle,

nun möchte ich doch auch einmal die Gelegenheit nutzen, mich hier zu äußern.

Auch die Anthroposophie entwickelt sich weiter, auch Rudolf Steiner entwickelt sich weiter und er sagte doch, man müsse eigentlich immer neue Begriffe finden dafür.

Wenn er sich jetzt weiter entwickelt hat, wieder da wäre und mit einem neuen Begriff käme für das Ganze, würde das dann angenommen werden können?

Ich habe den Begriff 'Bund zur Förderung von Initiativkraft' (sogar als moderne Form der Anthrop. Gesellschaft) - bestehend aus Beratung, Praxis, Forschung - gewählt mit verschiedenen, in die Zukunft weiterführenden Qualitäten, aber auch all dem was er gebracht hat. Ich habe das noch gar nicht inhaltlich alles dabei, was hinein gehört, aber der Qualität nach.
Als wesentlicher inhaltlicher Beitrag habe ich in aller Tiefe das Geheimnis über Mann und Frau gelüftet, das er - wie in der Akasha-Chronik angedeutet - damals nicht hatte lüften können und doch ein großes Geheimnis für alle Menschenerkenntnis hat bis hin zu der Erkenntnis der Zukunft der Anthroposophischen Bewegung! Ohne dieses Geheimnis lässt sich die Zukunft der Anthrop. Bewegung gar nicht verstehen. In dieser Form fiel mir das erst beim Vorwort des für Anthroposophen überarbeiteten Buches 'Persönliche Lichtstrahlen' ein, an dem ich gerade schreibe: 'Nachfolger Rudolf Steiners'.

Eigentlich kann die Reinkarnation Rudolf Steiners gar nicht erkannt oder verstanden werden, wenn dieses Geheimnis nicht gelüftet ist, was er selber aber nicht lüften wollte, weil es nicht an der Zeit war... fast ein selbstgebautes Gefängnis.

In meinem Buch 'Persönliche Lichtstrahlen' habe ich es anfänglich angedeutet. Dieses Buch ist aber fast nur für im Herzen wirklich eigenständige Anthroposophen, andere ertragen es nicht, wie ich festgestellt habe. Wie gesagt: Für sie schreibe ich gerade ein neues, so wie ich es als Lesung gehalten habe.

Herzliche Grüße,
Wibke Reinstein

Wibke Reinstein, Weltwide@hotmail.de hat gesagt…

Habe jetzt auch Auszüge meines Buches als Lesung (70 Min) ins Netz gestellt: könnt ihr hier hören:

http://www.vimeo.com/10029631

Jelle van der Meulen hat gesagt…

Liebe Wibke Reinstein, danke sehr für die Erwähnung. Sei herzlich gegrüsst, Jelle van der Meulen

Michael Heinen-Anders hat gesagt…

Weiteres zu Anthroposophie und Lebenswelt:

http://www.anthroposophie.net//ftp/
anthroposophie/Michael_Heinen-Anders

Wibke Reinstein, Weltwide@hotmail.de hat gesagt…

Michael und Jelle,
würde mich sehr freuen, euch auf Facebook zu sehen!
LG Wibke Reinstein