20.12.2009

Die Kerze ist eine uralte Erfindung. Über das Immer-wieder-neu-geboren-Werden

Es ist ein Winternachmittag & es ist draußen dunkel. Ich sitze an meinem kleinen Küchentisch, entzünde eine Kerze & schaue darauf, was geschieht. Zunächst „geschehen“ meine Gedanken – sie kommen & gehen, ohne dazu eingeladen zu sein. Besonders erleuchtend sind sie aber nicht. Sie wiederholen zwanghaft das, was ich den ganzen Tag schon gedacht habe, nämlich, dass ich die Arbeit A noch zu erledigen habe, die Kollegin B unbedingt anrufen & endlich mal meinen Kühlschrank sauber machen sollte.

Ich verabschiede mich von meinen Gedanken. Sie scheinen heute Nachmittag nicht sehr aufdringlich zu sein, vielleicht sind sie müde & sehnen sich nach Ruhe. Ich denke noch: wo gehen die Gedanken eigentlich hin, wenn ich mich von ihnen verabschiede? Weil diese Frage eine Menge weitere Gedanken erzeugt, lasse ich auch sie los.

Und dann bin ich leer. Nun ja, leer ist vielleicht nicht das richtige Wort. Was übrig bleibt, wenn sich meine Gedanken zurück gezogen haben, ist eine leise Stimmung, ein farbiges Lispeln, ein stilles Vibrieren, das sich schwer beschreiben lässt. An dieser Stelle taucht wieder eine Frage auf, von der ich mich ebenfalls verabschieden will, die ich aber in diesem Text trotzdem in Worte fassen muss.

Die Frage lautet: was da nach meinen Gedanken erscheint, ist das mein Körper? Sind die Stimmungen & das Lispeln & das Vibrieren als Erscheinungen zu verstehen, die von meinem Körper ausgehen, abstrahlen und dann im Blickfeld meiner Aufmerksamkeit auftauchen? Oder müsste ich diesbezüglich eher sagen, dass ich es hier mit seelischen Erscheinungen zu tun habe, die nicht körperlicher Natur sind?

Über diese Frage habe ich schon öfters nachgedacht. Ich bin zu der Annahme gekommen, dass hier eine Mischung vorliegt, ein ineinander Spielen von organischen & rein seelischen Vorgängen, die aber aufeinander bezogen sind & gerade dadurch die Empfindung eines Innenraums erzeugen. Die Stimmung & das Lispeln & das Vibrieren vollzieht sich „in“ Etwas – und dieses Etwas ist noch am besten mit dem Begriff von Rainer Maria Rilke zu beschreiben: Innenraum.

Ich lasse diese Annahme also im Raum stehen – und ja: sie drängt sich nicht weiter auf, ich vermute, weil ich höflich bin – und schaue darauf, was weiter geschieht. Ich befinde mich also in einer Lage, die sich so beschreiben lässt: ich bin einerseits ein Beobachter & andererseits ein leerer Raum, der zwar eine Stimmung beinhaltet, trotzdem aber für das, was kommen will frei ist. Ich bin gleichzeitig ein Schauender & eine Schale.

Die Kerze brennt ruhig. Sie beleuchtet sanft die Wände meiner Küche, berührt die weißen Lilien am Fenster, hebt das braune Holz des Tisches hervor. Sie bringt Ruhe. Nach einer Weile aber merke ich, dass die kleine Flamme sich in mir fortsetzt, mich leise vereinnahmt & sich in meinem Innenraum versetzt und dort ausbreitet. Eigentlich kann ich nicht mehr sagen, dass sich die Kerze außerhalb von mir befindet – sie ist eine Erscheinung in mir geworden. Und sie beleuchtet innere Erscheinungen.

Was ist Feuer? Feuer ist eine physikalische Erscheinung geistiger Natur. Im Feuer zeigt sich der Geist auf eine fast unmittelbare Weise. Ich versuche nicht, mit meinem Finger die Flamme zu berühren – Kinder machen das gerne – weil mir klar ist, dass mein Körper den Geist nicht ertragen kann. Brennen bedeutet eine unmittelbare Berührung von Geist & Materie, ohne einen seelischen Puffer. Im Feuer verwandeln sich die Substanzen.

Die Kerze ist eine uralte & geheimnisvolle Erfindung. Das Wunderbare an einer Kerzenflamme ist, dass sie – solange sie nicht physisch berührt wird – genau dem Maß meiner Seele entspricht. Was mit einem Waldbrand oder eben einem Lagerfeuer normal gesprochen nicht geht, ist mit einer Kerze immer möglich, nämlich, dass ich mich seelisch gesprochen auf gleiche Augenhöhe mit dem Geist begeben kann. Ich kann das Licht & die Wärme einer Kerze verinnerlichen, ohne in eine Bedrängnis zu geraten.

In meinem Innenraum brennt also die Kerze. Ich schaue darauf was kommt & nach einer Weile stelle ich fest, dass sich ein lautloser & leiser Gesang in mir bemerkbar macht. Es ist, als ob es in mir, unsichtbar, wie verborgen in einem Keller, einen Chor gibt, der leichte & ernsthafte & heitere Töne und Klänge von sich gibt. Und wenn ich mich, was nur ein paar Minuten gelingt, frei & bedingungslos an den stillen Gesang übergebe, fühle ich mich getragen. Ich bin auf einmal nicht mehr ein Beobachter, sondern komme im Zustand des Schwebens zu mir selber.

In mir verschmelze ich mit mir. Und „in mir“ bedeutet auf einmal nicht nur „in mir“, sondern auch: „in der Welt“. Innenwelt & Außenwelt schieben sich ineinander. Und ich sage mir: dein Dasein beruht nicht auf gespürten Innerlichkeiten & gespürten Äußerlichkeiten - sie spiegeln dich nur - sondern auf einem direkten Gespür von dir in dir. Und ich weiß, dass ich unabhängig von meinem Körper & meiner Seele existiere. Ich fühle mich wie neu geboren.

11 Kommentare:

Michael Eggert hat gesagt…

Eine wunderbar dichte Darstellung in diesem ganz eigenen Sprachduktus.

Andrea hat gesagt…

Ja, danke viel mal.

Anonym hat gesagt…

Ja, schön und hilfreich. S. Zl.

Michael Heinen-Anders hat gesagt…

Gerade die weihnachtliche Stimmung hat eine besondere Affinität zum Kerzenmeer, aber auch - gleichzeitig - zum stille werden und zu sich selbst kommen:


WEIHNACHTEN

In der Einsamkeit der zwölf heiligen
Nächte erleben wir Abschied und
Neubeginn.
Inne halten, stille werden, angesichts
zagender Sehnsucht und zartem Heimweh,
endgültig auszubrechen
aus Kaufrausch und Schlaraffia,
der große Grund und Alles
liegt nur in dem einen Kinde,
das zu aller Erdenheile
uns aufs neue – jedes Jahr -
ins Herz hinein
geboren wird.

(Michael Heinen-Anders)

Jelle van der Meulen hat gesagt…

Was bedeutet euch die Flamme? Herzlich, Jelle

Michael Eggert hat gesagt…

Die Flamme verliert sich, um sich zu gewinnen. Nein, noch nicht einmal "um zu". Die Flamme gewinnt sich, sich verlierend.

Sophie Pannitschka hat gesagt…

Die Flamme einer Kerze ist ein Wunder. So klein, so fein. Ein Docht und Wachs und ein bisschen Luft…. mehr nicht! Die Flamme einer Kerze hat nichts Verzehrendes - wie ein Feuer - sondern etwas Schenkendes, wie ein Angebot. Eine brennende Kerzenflamme ist klein und ruhig - sie fordert nichts, sondern ruht in sich selber - und doch kann sie einen großen dunklen Raum erleuchten. Sie hat ein ungeheures Potenzial an Licht, Wärme, Ruhe und Frieden in sich.

Mir gibt die Flamme einer Kerze das Gefühl, dass die Welt und damit das Leben, irgendwie in Ordnung sind. Die Flamme leuchtet, wie sie ist, ich darf sein, wie ich bin und die Welt ist so, wie sie eben ist. Eine Kerzenflamme schenkt Geborgenheit – in der Unwirtlichkeit des Lebens.

Oft vergesse ich, wie gut es tut, eine Kerze anzuzünden, aber wenn ich dann in einem Raum mit brennenden Kerzen bin, dann komme ich zur Ruhe. Und zu mir. Und in die Welt.

So, wie du es beschrieben hast. Ich kenne das Gefühl gut. Denn die Flamme einer Kerze überträgt sich in mein Herz – wenn ich mich dafür öffne.

Auf frohe Weihnachten – mit vielen kleinen flammenden Kerzen! Herzlich, Sophie

Andrea hat gesagt…

Viel!! Eine Kerzenflamme und eine solche Beschreibung wie du, lieber Jelle sie hier veröffentlicht hast, lässt mich an das erste lange Gespräch mit Peer, meinem Mann, erinnern bei dem wir uns gegenüber sassen und eine Kerze vor uns auf dem Tisch stand. Nachdem wir die Dinge beredet hatten, was man halt so zu reden hat, wenn man gerade fertig mit dem Studium und auf der Suche nach Arbeit ist, schwiegen wir und schauten in die Kerzenflamme. Im heissen, flüssigen Wachs sahen wir durch winzige Russpartikel die schönen, wilden Strömungswirbel.
Die Flamme, die bei ruhiger Umgebung gerade nach oben gezogen, gesogen wird und beim leichtesten Atemhauch sich wankend am Docht hält und umherflackert nicht gern die Form verliert, immer wieder wenn`s ruhig ist nimmt sie sofort diese ihre Form ein.
Die Kerzenflamme ist sichtbare Wärme, unten durchsichtige Wärme, die zur Seite um den Docht herum fein blau umgrenzt ist
Dann mit einem weichen Bogen in helles Licht übergeht und nicht mehr durchsichtig ist.
Ja, anschauen und sich wundern was da zu sehen ist.
Kerzenerleuchtete Weihnachten Andrea

Anonym hat gesagt…

Wir zünden sowohl zu Geburtstagen, als auch bei Beerdigungen Kerzen an. Alle festlichen Anlässe werden - durch das ganze Leben hindurch - von Kerzenlicht begleitet.

Warum eigentlich?
Was macht die Kerze wirklich aus?

Ist sie das "Verbindungsglied" zwischen Erde, Mensch und Himmel,
zwischen Körper, Seele und Geist?

Herzlich, Sophie

Jelle van der Meulen hat gesagt…

Wunderbar! Jelle

Michael Heinen-Anders hat gesagt…

Nach Weihnachten haben wir noch ein Fest ins Haus stehen, bei dem die innerlichen Aspekte des Lichts stark ins äußere gewendet werden - und die einzelne Kerze der Weihnachtszeit gewissermaßen sinnbildlich -vorübergehend - verlischt:

SYLVESTER

Tosende Böllerbündel,
Flammenbäume
und Raketen
entladen sich
in den Nachthimmel.
Werden so böse Geister
erschreckt? Oder wird so
nicht vielmehr
die Geschäftemacherei
mit gefährlichen
Explosivstoffen
gedeckt?

(Michael Heinen-Anders)