Brief von Angelo Poliziano an Piero de Medici im Jahr 1493
An Piero, den Unglücklichen
Kleiner, ich legte meine Hand auf deine Haut und sah aus dem Braun deiner Augen den weißesten Blick nach oben schießen, weit an mir vorüber. Ich ahnte nicht, dass sich in einem Körper soviel verletztes Bewusstsein versteckt haben konnte, und soviel Sehnsucht. Kleiner, was ist ein Kind?
Heute ging ich wieder die schmalen Pfade meiner Jugend entlang, zwischen Montepulcianos Baumgärten, auf dem Weg nach Hause. Jeder Schritt verdunkelte meine Seele, denn im dunklen Haus meines Vaters, wie ich jetzt weiß, dass ich damals empfand, lebte schon der Schatten seines Mörders.
Der Tod war schon lange bevor mein Vater starb da. Er lebte in meines Vaters Angst vor der Einsamkeit, in der Angst auch vor der Liebe, die in ihm war. Ich wusste, wie es auch dieses Mal gehen würde: ich würde die große Türe langsam aufziehen und die Kühle des Marmors in der Halle spüren, und meine Mutter würde rufen, dass mein Vater auf mich wartete, schon ganz lange wartete, und jetzt weiß ich, dass ich die Frage spürte: auf wen wartete er eigentlich? Auf mich, Angelo? Auf sein Kind? Oder auf etwas, das es nicht wirklich gab und nur in seinen Erwartungen lebte?
Ja, Kleiner, was ist ein Kind? Ich glaube, du warst das erste Kind, das ich sah, als ich meine Hand auf deine Haut legte und diesen Blick hoch schießen sah, fast wie ein Fisch aus einem Dunkel, in dem ich kein Leben vermutete. Ich berührte dich, sonst nichts. Aber es ist wahr: ich berührte dich wirklich. Ich spürte deine Haut an der meinen, eine sich sehnende Haut, eine fiebernde Haut, eine unglückliche Haut…
Aber was ist Haut? Haut ist die Außenseite einer Innenseite, eine empfindliche Schale um eine noch empfindlichere Frucht. Haut ist Innenseite, die zur Außenseite geworden ist, ohne die Beziehung zur Innenseite verloren zu haben. Die Haut weiß noch, was sie einmal war: empfindsame Zusammenziehung. Du, Kleiner, mit deiner schaudernden Haut im Regen, mit deinen Augen, die immer wieder wanderten, um zu sehen, ob zufällig dein Vater, der Gelobte, in den Garten hinein käme um schließlich das Pferdchen zu bringen.
Wusste dein Vater aber, was ein Kind ist? Nein, er wusste es nicht. Und gerade dadurch, dass ich es jetzt verstehe, denn ich liebte deinen Vater wie sonst keinen, sehne ich mich nach dir mit einem Herzen, das im Zerbrechen ist. Ich sehne mich nach deiner Haut, nach deinem Blick, nach deinen Augen, und ich möchte, dass ich mit meiner Hand aufs Neue das Kind wachrufen könnte, das in dir versteckt lag.
Daran musste ich heute denken, als ich die schmalen Pfade meiner Jugend entlang lief, auf dem Wege zu dem Haus, das es nicht mehr gibt. Kleiner Unglücklicher, ich denke an dich und verstehe die Welt nicht mehr.
Dein Angelo
16 Kommentare:
Gefährlich schön... Haut und Nähe. Berührung und Fieber. Vater und Sohn. Der Vater von Piero müsste also Lorenzo de Medici sein? Nitta aus Berlin
Ein Kind ist
das vergessene Licht in uns
das, was manchmal aufblitzt in unseren Augen
unsere Sehnsucht nach uns selbst
Wo sind heute die Kinder
und wer läuft statt ihrer
durch die Welt
mit Augen
die ihnen geöffnet wurden
von uns
nicht von ihnen selbst
Es ist an der Zeit
dass wir
wieder
Kinder
in unser Leben treten lassen
damit unsere Erde
nicht stirbt
Nur sie bringen sich selber mit
ihr einziges Gepäck
welches durch alle
Sternenstraßen
gezogen ist
Was ist unser Gepäck schon dagegen
Werfen wir es ab
und lassen uns
bereichern
von den Kindern
Lassen wir sie
unsere
Lehrer
sein
und uns wieder dünnhäutiger werden
Liebe Nitta aus Berlin,
ist ja richtig: der Vater von Piero war Lorenzo "il Magnifico", also: den Prächtigen. Herzlich, Jelle van der Meulen
Liebe Susanne, schön! Danke... Jelle
1998. Mein Sohn Pelle war damals 7 und ich sprach mit ihm über der Zeit, dass seine ältere Schwester 5 Jahr alt war und er noch nicht geboren war.
Pelle: "Damals hatte ich erst mama in den Ohren geflüstert, dass ich geboren werden wollte. Und dann habe ich dir den Weg gewiesen.
Eigentlich kann das gar nicht, aber es ist wohl echter als echt."
SAMMELSURIUM
Empfindungsflut
Ganz erwartungsvoll
Mach kein Sorgengesicht
Sagst Du
Nichts ohne Musik
Meinst Du
Bereit in Ergebenheit
Ohne Bodenhaftung
Wird das nichts
Schau in den Spiegel
Rot oder
tot
(Michael Heinen-Anders)
Brief von Margaret an Kathrienchen im Jahr 2009
Kleines Goldlöckchen,
wenn ich auf das Gold Deiner Haare schaue, selbst nun schon leicht ergraut, geht mein Blick wehmütig ein in den Glanz und den damals schon anwesenden Tiefenschmerz, der, getragen vom Gold der Haare und des Lichtes, sich im Gedenken an dieses Kind Bahn brechen will, gleich dem Gefühl, welches entsteht im Wahrnehmen feinsten Geruchshauches: so schmeckt der Tod, so schmeckt die Liebe,
die Grenze dazwischen verwischt nur durch eine kleine Wendung in der Bewegung, des Lides, der Hand, der Neigung des Kopfes...
Mein Kind, mein Goldlöckchen, so nahmst Du Dich wahr, so nehme ich Dich wahr, ein Kind, heute ergraut, wenn auch nur leicht,
wo ist die Grenze,
war ich ein Kind, bin ich ein Kind?
Vater, spürtest Du sie auch, die Todesgefahr, während sich Deine Hand sanft den Rundungen des kleinen Hauptes Deines Goldfasanes anpaßte und ihn wie segnend berührte.
Erlöst wurde sie erst im Tode. Auf Umwegen erreichte der Mörder sein Ziel, die Liebe aber vermochte er nicht zu brechen.
Auch er, ein Kind.
S.St.
Lieber Jelle,
das ist ein wunderbar stark farbener Text, der enebso wunderbar zart klingt.
Danke
Katharina
FREUDE IM HERZEN
Im Mondschein still
schläft das Kind,
hat Freude im Herzen,
träumt Abenteuerwelten;
ist Pirat, Eroberer,
Prinz und Wesir.
Die Morgensonne
schließlich zaubert
ein Lächeln auf
das zarterwachende
Gesicht.
(Michael Heinen-Anders)
Martin Buber: "Ein Mann liebkost eine Frau, die sich liebkosen läßt. Nun geschehe ihm, daß er die Berührung doppelseitig verspürt: noch mit seiner Handfläche und schon auch mit der Haut der Frau. Die Zwiefältigkeit der Gebärde, als einer zwischen Person und Person sich ereignenden, zuckt durch die Geborgenheit seines genießenden Herzens und rührt es auf. Wenn er sein Herz nicht übertäubt, wird er nicht etwa dem Genuß absagen - er wird lieben müssen". Peter S.
Die Berührung von innen
Das ist es
worauf es ankommt
Alles andere
macht einsam
ICH UND DU
Aller wesentlicher Grund
Liegt im ICH
Alle Brücken zum
ICH liegen im
DU
Auf allen Brücken zum
ICH liegen Wege zum
DU entriegeln sich Tore zum
WIR
(Michael Heinen-Anders)
Entriegelung
Schleuse
die ihre Pforten öffnet
Damit es endlich fließen kann
und unsere Einsamkeit aufhört
eine zu sein
und das Zweisam-Einsam
für immer stirbt
dafür etwas Helleres in Erscheinung tritt
Das Wir
das wir alle sind
Nicht nur zwei
Nein
Alle
Wir
die das wollen
Es wird Zeit
Danke, Susanne für Dein schönes Gedicht.
Herzliche Grüße
Michael
Kleines Goldlöckchen,
Wenn die Liebe ungebrochen ist, hat der Mörder sich selber ermordet und der Todt hat seine Macht verloren.
Lieber Huub,
ja, so ist es wohl.
S.St.
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