01.04.2009

Turm von Babel steht noch da (2). Sehen was es zu sehen gibt

Der Turm von Babel ist nur noch ein Trümmerhaufen. Was irgendwann einmal ein wilder Sturz nach oben war, ist nunmehr ein Stumpf in der Geschichte, in mir, in dir, in uns geworden. Was einmal unvollendet aufgerichtet war und Gottes Zorn erweckte, ist heute nicht einmal mehr eine touristische Attraktion.

Nein, ich habe nicht vor, den Turm zu rekonstruieren. Ihn in seiner alten Form darstellen zu wollen, wäre eine dumme Art der Würdigung. Im Grunde genommen geht es mir um die Feststellung, dass der Turm zwar noch steht, aber zu einem Trümmerhaufen geworden ist. Erst dadurch, dass der Turm in seinem heutigen Zustand gesehen wird, kann seine gegenwärtige Bedeutung begriffen werden.

Der Turm von Babel ist ein Mythos, der Trümmerhaufen aber nicht. Klar, ohne den Mythos hätte es gar keinen Turm gegeben – also auch keinen Trümmerhaufen. So ist es aber eben mit den Göttern und Halbgöttern und Helden aus den alten Zeiten, die wir ja nur aus Erzählungen kennen, aus Mitteilungen und Überlieferungen und Texten und Bildern. Dass es je Marduk (auch Baal genannt) gegeben hat, wissen wir, weil die Sprache seinen Namen und die Kunst seine Gestalt überliefert haben.

Ich meine: der Mythos ist gerade kein Mythos mehr, weil er ein Trümmerhaufen geworden ist. Ich meine: ein Trümmerhaufen ist ein Ding-für-sich. Wir brauchen gar nicht auf einen Mythos zurückzugreifen, um diesen Stumpf in der Geschichte, in mir, in dir, in uns zu beschreiben. Ich meine eben, dass wir nicht einmal auf einen Mythos zurückgreifen können, auch nicht wenn wir dringend wollten, weil die alten Bedeutungen zu einem toten Rest geworden sind.

Wir müssen nur wissen, dass es einmal einen Mythos gab, der besagt: es gab einmal einen unvollendeten Turm... Weil uns aber nicht die Frage beschäftigt, warum der Turm unvollendet blieb, nicht einmal warum er zu einem Trümmerhaufen geworden ist, sondern was er in der Gegenwart uns als Trümmerhaufen zu sagen hat, brauchen wir nur mythologische Informationen, keine mythologischen Erklärungen.

Erst ohne den Blick Gottes erscheint ein Trümmerhaufen nicht als ein Haufen von etwas Gescheitertem. Um einen Trümmerhaufen als ein Ding-für-sich zu sehen, nämlich als einen Haufen von Sachen die in Vergessenheit geraten sind, soll das (göttliche) Urteil des Scheiterns demontiert werden. Gottes Urteil ist nicht hilfreich. (Das hat uns ja Friedrich Nietzsche gelehrt. Seine Arbeit ist alles andere als ein Scheiterhaufen – sie ist ein wunderbarer Trümmerhaufen von schmutzigen Schätzen.)

Ein Stumpf ist ein Stumpf. Punkt. Ja, Stümpfe brauchen unsere Hilfe, weil sie gerade die von Gott nicht bekommen. In Bezug auf Stümpfe steht Gott aber selber wie ein Stumpf da. Ja, Stümpfe brauchen unsere Aufmerksamkeit, unsere Hingabe – ohne unsere Hände und Augen und Nasen und Gedanken und Phantasien bleiben sie moralisch blockierte Erscheinungen in der Landschaft, so wie zum Beispiel die Stadt Köln auch eine verlogene Identität darstellt.

Ich meine, dass oft davon ausgegangen wird: die Stadt Köln ist leider nicht mehr da. Die Stadt wurde im Zweiten Weltkrieg von den Alliierten bombardiert, ausgelöscht, vernichtet. Und in den fünfziger und sechziger Jahren hat man die Stadt wieder aufgebaut, leider aber nur schnell und lieblos und ohne Seele... Was heute in der Stadt zu sehen ist, ist leider nicht mehr das, was es einmal war. Die Stadt Köln ist ein Stumpf seiner selbst geworden.

Ein Stumpf ist aber ein Stumpf. Köln ist nun eben ein voll bebauter Trümmerhaufen. Wenn man nur sieht, was es nicht mehr gibt, sieht man nicht, was es gibt. Was es gibt, wird zu dem, was es nicht gibt, nämlich zur armen und leeren und nicht geliebten Alternative. Was heute Köln ausmacht, ist aber keine Alternative, sondern eine verwundete und fragende und richtige Stadt. (Wer sich auf die Fragen von Köln einlässt, sieht eine Menge schmutzige Schätze. Schmutzig ist aber gar nicht schlimm. Und: was schmutzig ist, kann man reinigen.)

Der Turm von Babel steht noch immer da. Ich erkläre ihn heute und in meinen Worten zum Gegenstand meiner Aufmerksamkeit und Hingabe. Und ich hoffe, dass die Leser dieser Worte sich einmischen und sich mit mir ins Trümmerfeld begeben werden. Ich hoffe, dass sie beschreiben wollen, was sie dort antreffen.

Mit Dank an Sophie Pannitschka

9 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Ein Haus ist aus totem Stein gebaut, häßlich oder schön. Belebt wird es durch die Menschen, die in ihm wohnen. Menschen können auch ein häßliches Haus schmücken und lieb gewinnen. Viele Menschen leben und prägen durch ihre Mentalität eine Stadt - jedes Haus ist von Menschen gemacht, also ist eine Stadt Menschenwerk und ich denke, man sollte die tote Materie nicht mehr lieben als die Menschen - die verlorenen materiellen Schätze der Vergangenheit wie z.B. schöne alte Häuser darf man eine Weile betrauern, aber das Leben geht darüber hinweg und weiter, alles ist in Wandlung, selbst eine Stadt - wieviele Städtchen, Dörfer, Häuser und Klöster brannten im Mittelalter ab - . Als der alte Faust sagte: "Zum Augenblick dürft´ich sagen, verweile doch, du bist so schön!" starb er.
Viele Grüße, Barbara

Anonym hat gesagt…

Nachtrag:
Nach dem Krieg war die Wohnungsnot in den zerbombten Städten sehr groß. In den ersten Jahren gab es Zuzugsgenehmigungen nicht nur für die vielen Flüchtlinge, die untergebracht werden mussten, sondern auch für die Einheimischen, die irgendwohin aufs Land evakuiert worden waren. Die Menschen wohnten in Kellern von zerstörten Häusern oder auch in den berüchtigten Nissen-Hütten. Es musste daher sehr schnell und preiswert gebaut werden um den überaus großen Wohnungsbedarf zu decken. Es gab damals eine 60m2 große, sehr hellhörige 3-Zimmer Einheitswohnung in ganz Deutschland (heute wohnen meist Ausländer in diesen Häusern)So kam es, dass viele in den 50-er Jahren wieder aufgebaute Städte heute lieblos erscheinen, weil für eine längerfristige Stadtplanung damals einfach kein Geld da war. -
Meine Familie, Eltern und zwei Kinder, wohnten Anfang der 50er Jahre mit noch zwei Familien und drei Singles in einer zwangsbewirtschafteten Etagenwohnung mit nur einem Bad und 2 Toiletten für 15 Personen,man half sich mit Waschschüsseln und Eimern. Wir hatten 2 Zimmer mit je ca. 15 m2. Die Zimmer der anderen waren genauso groß.
Viele Grüße, Barbara

Anonym hat gesagt…

Ein Trümmerhaufen ist ein Trümmerhaufen. Und ein Trümmerhaufen ist etwas, was kaputt, zu Bruch gegangen ist. Da gab es etwas "anderes" und das ist zerbrochen. Bruchstücke eben. Trümmer. Fragmente. Schutt. Überreste. Brocken. Ein Wrack, ein Überbleibsel - eben Überreste.

Ich weiß nicht, ob Trümmerhaufen Sinn machen.

Vielleicht nur dann, wenn das, aus dem sie entstanden sind, keine Daseinsberechtigung mehr hatte.

Denn was soll ein Trümmerhaufen? Ein Haufen voller wertloser Steine in gleissendem Sonntagnachmittagslicht?

Wenn niemand eingreift, beginnen langsam kleine Grashalme zu spriessen. Oder ein Löwenzahn. Birken siedeln sich auch gerne an solchen Orten an.
Viel mehr wird nicht geschehen...

Und wenn es gut geht - wenn sich so ein Trümmerhaufen transformiert, dann kommen die Trümmerfrauen. Sie tragen den Schutt weg. "Räumen auf". Gestalten wieder. Lassen etwas Neues entstehen.

Je nachdem, wie viel Geld sie haben, wie viel Zeit sie haben, wie viele Helfer sie haben, wie viel Kraft sie haben....

...und, was sie machen wollen...

Mich interessiert der Trümmerhaufen in seiner zeitlichen Entwicklung. Woher kommt er, wohin geht er?
Trümmerhaufen an sich sind hart, kantig, spitz, kaputt und selten einladend...

Eben so, wie ein verlassener, heißer, trockener, staubiger Parkplatz an einem späten Sonntag Nachmittag, von dem niemand weiß, ob er je für Autos gebraucht wird...

Was ist der Turm von Babylon heute - ein Bild unserer Seele?

Herzlich!

Anonym hat gesagt…

Wenn Du so willst, baut sich jeder Mensch am Ende seines Lebens mit seiner Physis einen Trümmerhaufen, wenn alles komplett kaputt ist, ist der Leib unbewohnbar und der Mensch stirbt und wechselt die Sphäre: Panta rhei - aus dem Chaos der Trümmer entsteht neues Leben: der individuelle Mensch ist allgegenwärtig beim Zerstören wie beim Wiederaufbauen - und so baut er die realen Trümmer wieder in die neuen Häuser ein und schafft eine neue Stadt: auch aus den Trümmern des Turmes von Babylon bauen Menschen die Häuser des neuen Jerusalem.Trümmer werden nur bedrohlich, wenn du die Entelechie des "Ich-Bin" nicht sehen kannst, dann siehst du nur den Staub und den Löwenzahn. Die menschenleere Welt im bedrohlich gleißendem Licht des Sonntagnachmittag ist für mich eine erstarrte, irreale Science-fiction-Welt, denn nach dem Sonntag kommt der Montag, an dem der Parkplatz wieder benutzt und der Schutt beseitigt wird. Für mich ist die Welt ohne den Menschen nicht denkbar: ECCE HOMO
Viele Grüße Barbara

Anonym hat gesagt…

Lieber Jelle,
kennst Du: GA 254 "Die okkulte Berwegung im 19. Jahrhundert" , 25.10.1915 - die Tantalus-Sage
Viele Grüße Barbara

Michael Eggert hat gesagt…

Es gibt so viele heute teuer restaurierte Städte bzw Stadtteile, aus denen aber jede Atmosphäre verschwunden ist. Was bleibt, ist ein musealer Abklatsch seiner selbst, eine Touristenattrappe dieser Stadt. Auch das ist eine Art Trümmerhaufen: Perfekt und tot. Manche Städte kann ich etwas genauer und über längere Zeit beobachten, z.B. Grasse in Südfrankreich. Da wechselt der Trend ziemlich schnell, je nach der gerade aktuellen Spekulationsblase. Momentan zerfällt wieder manches, was gerade noch als teure Stadtwohnung im Trend war.

Anonym hat gesagt…

@ mick321
an Deinem Beispiel siehst Du, dass die Menschen, die konkret in den Objekten leben, die Atmossphäre schaffen und die Art der Häuser ist infolgedessen sekundär.
Viele Grüße, Barbara

Jelle van der Meulen hat gesagt…

Liebe Barbara, nein, ich kenne die Vorträge nicht. Werde mich erkündigen. Danke. Herzlich, Jelle van der Meulen

Ruthild Soltau hat gesagt…

Als kleines Kind fand ich den Anblick von Raupen ganz schrecklich, es war richtig gruselig für mich sie zu sehen. Ich habe natürlich auch Schmetterlinge gesehen und fand sie schön, aber ich hatte keine Ahnung davon, dass sie mit den Raupen etwas zu tun hatten. Jetzt weiß ich, mehr mit dem Herzen als mit dem Verstand (diese Prozesse wirklich zu verstehen ist ja richtig schwierig), dass aus den Raupen Schmetterlinge werden! Raupe und Schmetterling, sie sind ein Wahrbild für Verwandlungen in den verschiedensten Reichen oder Ebenen oder Sphären oder Levels.
Ich habe im Fernsehen die Trümmer von Gaza gesehen und gelesen über die seelischen Trümmer, die Traumata der verstümmelten Familien in Gaza. Was geschieht mit diesen Trümmern?
Herzliche Grüße von Ruthild