Erschütterung & Verschweigung. Über meinen zweiten Herzinfarkt
Anfang Februar hatte ich meinen zweiten Herzinfarkt. Ich schreibe „meinen“, weil Herzinfarkte individuell geprägt sind. Mit Herzinfarkten ist es wie mit dem Geboren werden und dem Sterben: jeder Mensch hat seine eigene Geburt & seinen eigenen Tod. Mein zweiter Herzinfarkt kam schnell, kräftig & direkt. Weil ich die Zeichen sofort erkannte & eine Kollegin mich binnen zehn Minuten ins Krankenhaus bringen konnte, habe ich die Krise überlebt.
Letzte Woche traf ich eine andere Kollegin. Sie kam auf mich zu, umarmte mich, schaute mich an & fragte spontan: „Was ist anders an dir geworden? Irgendwie hast du dich verändert!“ Weil wir in einem Raum mit vielen anderen Menschen waren, konnten wir nicht wirklich miteinander reden. Und ich sagte: „Nun ja, ich habe mich schon ein paar Wochen nicht mehr rasiert. Vielleicht liegt es daran?“ Es war mir aber klar, dass etwas anderes gemeint war.
In den letzten Monaten haben mich viele Bekannte & Kollegen & Freunde gefragt, wie es mir geht, was der Infarkt mit mir macht & wie ich daran arbeite, einem Nächsten vorzubeugen. Und ich habe versucht, so gut wie es eben geht, diese Fragen zu beantworten. Nein, leicht fiel mir das nicht, gerade weil es „meinen“ Herzinfarkt betraf. Dazu kam, dass eindeutige Antworten leider nicht vorhanden waren.
Ich hatte eher das Gefühl, mich innerlich in einer Spiegelgalerie von Bedeutungen zu befinden. Schaute ich nach links, sah ich mich von hinten gespiegelt, und dachte: siehst du, es geht dir beschissen; schaute ich nach rechts, sah ich mich von vorne, und dachte: ach, es geht dir doch ganz gut! Die Botschaften meines Körpers & meiner Seele waren richtig widersprüchlich & deswegen verwirrend.
Was machen Herzinfarkte? Bei mir führen sie erst einmal dazu, dass ich auf alles schaue, was ich in meinem Leben falsch gemacht habe. Und das ist ziemlich viel. Exzessiv rauchen, zu viel essen (fett), mich zu wenig bewegen (ich hasse sportliche Tätigkeiten), unregelmäßig und ohne Tagesrhythmus leben, und vor allem auch: immer wieder den Stress aufsuchen – so, als ob der Stress verrät, wo das richtige & prächtige & spannende Leben ist.
Herzinfarkte können uns auf eine Schiene bringen, die weit & tief ins Abseits führt. Dort im Abseits herrscht die klare Kenntnis, dass ich in meinem Leben völlig daneben war & immer noch bin. Im Abseits klingt die Frage: Was wäre Positives über dich zu sagen, wenn du nicht einmal im Stande bist, dein Leben verantwortungsvoll in die Hand zu nehmen? Ist dein Infarkt nicht ein Beweis dafür, dass du das Leben ganz & gar nicht verstanden hast?
Ich bin in den letzten Monaten auf diese Schiene geraten. Ein Abgrund hatte sich geöffnet & die Finsternis drohte mich zu verschlingen. Ich sah nur noch EINE Leiter nach oben. Die Stufen dieser Leiter bestanden aus einer Liste von harten Aufgaben: aufhören mit dem Rauchen, gesünder essen, mich sportlich bewegen, rhythmisch leben, innerlich Frieden finden... Und ich muss zugeben: manchmal hat die Liste mich komplett überfordert.
„Was ist anders an dir geworden?“ Diese Frage meiner Kollegin holte mich aus dem Abseits – sie wirkte so, als ob ich auf einmal frei & neu auf mich schauen konnte. Die Frage wendete meinen Blick nach innen. Und was ich sah, war eine Person, die ins Zentrum ihres biographischen Knotenwerks geraten war. Man könnte auch sagen: ich sah mich nach innen „implodiert“, und bis in die inneren Gefüge meines Schicksals gedrängt.
Ich schaue den ganzen Tag nach innen. Ich sitze da irgendwo unten in einem Raum bei mir, nur bei mir – und in dem dürftigen Licht erscheinen Bilder aus meinem Leben. Obwohl der Raum ganz klein ist, wimmelt es dort von Erinnerungen. Und von Fragen. Zum Beispiel: als ich mich damals als Siebenundzwanzigjähriger dazu entschloss, für die Anthroposophie zu leben und zu arbeiten, was waren eigentlich meine Hoffnungen dabei? Und was habe ich dadurch meiner Familie zugemutet? Und meinen Freunden & Kollegen? Was habe ich mir zugemutet?
Da ganz unten geht es nicht um Wahrheiten & Schönheiten, sondern um Intentionen. Was wollte ich eigentlich erreichen? Wenn ich auf meine damaligen Erwartungen & Hoffnungen schaue & verfolge wie sie sich in meinem Leben weiter entfaltet, oder gerade nicht entfaltet haben, wird mir klar: in meinem Leben brennt ein richtiges Feuer.
Was mich da ganz unten aber auch beschäftigt, ist eine Erschütterung. Viele Hoffnungen & Erwartungen sind nicht eingetreten. In dem spärlichen Licht in meinem „Unterschlupf aus dunkelstem Verlangen“ (Rainer Maria Rilke: Die Sonette an Orpheus) sieht mein Leben wie eine unfertige Baustelle aus. Ja, viele Ansätze, viele Versuche, viele Aussichten sind vorhanden... Ein strahlendes Gesamtkunstwerk ist nicht zu entdecken.
Ich glaube, dass ich noch eine Weile da unten bleibe. Das Sitzen-in-mir im dürftigen Licht macht keinen Spaß, bringt aber vielleicht gerade das, was ich dringend brauche: Verwurzelung & Verschweigung & Verwandlung.
Mit Dank an Sophie Pannitschka
12 Kommentare:
Das Wort "Verschweigung" habe ich bei Rainer Maria Rilke gefunden. In Die Sonette an Orpheus schreibt er: "Doch selbst in der Verschweigung/ ging neuer Anfang, Wink und Wandlung vor". Vielleicht passt auch: "Verschwiegenheit". Jelle van der Meulen
Lieve Jelle,
Wat een schrik om over je tweede hartinfart te lezen en hoe dat zoveel van je vraagt, wat je niet als passend bij jouzelf ervaart.
Wat me verbaast, is dat je zo sterk de nadruk legt op alles wat je nagelaten hebt en wat "fout" is gegaan, terwijl er niet staat,dat je zoveel mensen voor langere of kortere tijd in hun leven begeleidt hebt. Hoeveel tranen heb je niet gedroogd en hoeveel mensen heb je niet geholpen bij henzelf te komen? Ik ben er in elk geval één van. En daar ben ik je nog steeds dankbaar voor.
Met warme groet,
Ettje
An das, was Ettje schreibt, möchte ich mich gerne anschließen, lieber Jelle.
Was gäbe es nicht alles aufzuzählen, was du getan hast, was "geklappt" hat - und mehr noch, was durch dich erblüht ist?
Vielleicht lässt sich dein Blick auch darauf richten.
Ich hoffe sehr, dass die Finsternis dich nicht verschlingt, sondern dich bald wieder in die warme Frühlingsluft mit all den Blüten und Düften entlässt, die unser Land zur Zeit durchweht.
Sehr herzlich und mit guten Gedanken, Sophie
Lieber Jelle,
dein Bericht hat in mir einen Raum erreicht, wo es keine Worte gibt für das, was ich fühle. Aber was ich aus diesem Raum heraus erkenne, ist ein Schatz in Dir, den Du vielleicht nicht sehen kannst. Aber ich kann ihn sehen und andere Menschen auch.
Danke, dass Du uns an Deiner Erschütterung teilhaben lässt.
Alles Liebe, birgitt
Ettje, hat ja so recht!!
Und ich, ich sitze im Moment nur da und- und weine über all das was ich nicht in Worte fassen konnte und all die angefangenen Sachen, die zerbrochenen, zerfetzten Gedankensplitter in meinem Kopf. und denke die letzten Tage oft Werk des Gesichts ist getan, tue nun Herzwerk an den Bildern in dir.Und es ist mir die Frage wie das geht?
Für dich lieber Jelle,hoffe auf den neuen Anfang auf den Wink und die Wandlung. liebe Grüsse Andrea
Lieber Jelle!
Hier sende ich Dir zur Erkraftung
die Erinnerung
an den Duft zerriebenen Rosmarins mit eiem Blättchen
Liebstöckel gemischt; weisst Du dieses was entfernt ein bißchen nach Maggi riecht und
ich bin schon auch traurig ob Deines dämmrigen Herzens.
(maribe)MariaB.
Jelle, vielleicht bist Du >da unten< nicht ganz alleine!
Die Menschen schauen immer
von Gott fort.
Sie suchen ihn im Licht, das immer kälter und schärfer wird, oben –
Und Gott wartet anderswo – wartet –
ganz am Grund von Allem. Tief.
Wo die Wurzeln sind.
Wo es warm ist und dunkel.
(Rilke)
jedes mal, wenn ich einen deiner texte gelesen habe, bewegen sie sich mehr als lang in mir.und wirken d.h. nicht für mich sondern in den begegnungen mit anderen großen und kleinen menschen.das ist mehr als ein werk, eine leistung oder was sonst, denn das hat bedeutung, tiefe, läst sich bewegen, entwickeln..mir fehlen dazu die worte.weist du, jelle, deine geschriebenen worte, die sind es.
das gesproche sicher auch, nur das kenne ich nicht. sprache worte die wie räume sind, da kann man hinein gehen und atmen.
so, lieben dank und dir alles gute. Birgit mit einem t.
Ja, man hätte gerne einen Maßstab für sein Leben, wenn man so zurückschaut. Meist aus ähnlichen Anlässen die der Deine, Jelle. Aber den Maßstab gibt es nicht. Er ist nur ein Gespenst des Furors der frühen Jugend, als man in Träumen dem Wunsch nach "Gewaltigem" und "Bedeutsamen" nachhing. Das Gesamtkunstwerk ist ja da, das sind wir selbst, das bist Du, Jelle. Dieses komplexe, widersprüchliche, produktive, auch an sich selbst zweifelnde Gesamtkonzept bist Du.Es ist von Innen und von Außen zugleich bearbeitet, es hat seine Linien, es hat einen Geruch. Es ist vollkommen einzigartig. Man muss eigentlich nichts besonderes produzieren, in die Welt setzen, entwickeln, verbreiten. Es reicht vollkommen, einfach diese/r zu sein.
Herzlich
Michael
Lieber Jelle,
es ist vielleicht leichter gesagt, als getan: aber 'laß den Streß los!' - sonst befördert er Dich noch frühzeitig dahin, wohin Du zu kommen 'eigentlich' noch Jahrzehnte hättest.
Vielleicht nutzen aber alle Tipps - woher auch immer - gar nichts, denn zuallererst mußt Du, Jelle, auf Deine WAHREN Bedürfnisse sehen...
In diesem Sinne: Laß es Dir gut gehen...
Herzlichen Gruß
Michael Heinen-Anders
Lieber Jelle, herzlichst Alexa
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