15.02.2009

Basiskonflikte in der Biographie. Sieben Thesen

These eins: Im Leben eines jeden Menschen wirkt ein Basiskonflikt. Alle biographischen Spannungen & Fragen & Anstrengungen & Tätigkeiten & Aufgaben sind Variationen von diesem Konflikt. Die Natur des Basiskonflikts ist nicht psychologischer oder soziologischer, sondern eher anthropologischer Art. Am treffendsten aber ist der Basiskonflikt als ein „geistiger“ zu beschreiben. Denn dieser Konflikt ist das Ergebnis von Werten & Wahrheiten & Intentionen & Tugenden, die offensichtlich vorhanden sind und spontan nicht unbedingt miteinander harmonieren.

These zwei: Die Auseinandersetzung mit diesem Konflikt gestaltet die Biographie. In den wichtigen Ereignissen einer Biographie drückt sich dieser Basiskonflikt aus. In den Bildern der Jugend zum Beispiel – interessant sind diesbezüglich die frühesten Erinnerungen – zeigen sich die „geistigen“ Voraussetzungen auf mannigfaltige Art und Weise. Die Lebensumstände, die Wahl des Berufes, die Beziehungen zu den Menschen, die Krankheiten & Missgeschicke sind mit dem jeweiligen Basiskonflikt verwoben.

These drei: Die biographische Auswirkung dieses Konflikts kann drei Phasen durchlaufen. In der ersten Phase wirkt der Konflikt völlig unbewusst. Manchmal – aber nicht immer – hört diese erste Phase zwischen dem 28. und 35. Lebensjahr auf. Der Betreffende merkt auf einer träumerischen Ebene, dass „etwas“ an ihm haftet, wovon sie oder er vorher keine Ahnung hatte. Der Konflikt taucht auf mannigfaltige Art und Weise vor dem Bewusstsein auf. Die dritte Phase wird manchmal – aber nicht immer – zwischen dem 49. und 56. Lebensjahr erreicht. Dann ist der Konflikt voll ins Bewusstsein gedrungen und wird als eine persönlich-überpersönliche Angelegenheit verstanden.

These vier: Die erste Phase stimmt mit dem überein, was Wolfram von Eschenbach in seinem „Parzival“ die Phase der „Dumpfheit“ nennt. Die Entscheidungen des Lebens werden aus dem Bauch getroffen und sind immer richtig-verkehrt oder verkehrt-richtig, man könnte auch sagen: immer richtig-richtig. Obwohl diese Phase „dumpf“ ist, steckt eine gestaltende Weisheit dahinter. (Alles was man Erziehung nennt, muss mit dieser dumpf wirkenden Weisheit rechnen.)

These fünf: Die zweite Phase stimmt mit dem überein, was Wolfram von Eschenbach die Phase des Zweifels nennt. In den Worten von Walter Johannes Stein: „Wenn des Menschen Herz aus der Dumpfheit zum Zweifel erwacht, dann zieht sich des Menschen Seele in sich selbst zusammen. Da empfindet sich das tapfer mannhafte Gemüt zugleich in Schmach und Zier, wie der verzauberte Vogel, die Elster, die halb Taube, halb Rabe zu sein scheint“. 1

These sechs: Die dritte Phase heißt bei Wolfram von Eschenbach die Phase der Seelensicherheit („Sælde“). Sie ist erreicht, wenn der Betreffende in der Erkenntnis des eigenen Basiskonflikts eine Gewissheit gefunden hat, die dazu führt, dass die Fragen & Spannungen & Anstrengungen aus der persönlich-psychologischen Sphäre gehoben werden und eine „objektive“ Bedeutung bekommen. Der Betreffende ist mit sich selbst und mit der Welt in Frieden. (Was aber nicht heißt, dass ein Stillstand eingetreten ist.)

These sieben: Wir sprechen von einem sehr gelungenen Leben, wenn aus den Spannungen des Konflikts ein bewusster Sprung gemacht und ein neues Bedeutungsfeld eröffnet wird. Oder anders gesagt: der Konflikt wird dadurch gelöst, dass er als Sprungbrett für umfassendere Fragestellungen genutzt wird. Das Eröffnen eines neuen Feldes kann mit dem klassisch esoterischen Begriff Einweihung beschrieben werden.


1. Walter Johannes Stein, Weltgeschichte im Lichte des heiligen Gral, 1966, Stuttgart, Seite 125.

Mit Dank an Sophie Pannitschka

14 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Lieber Jelle, danke. Dieser Beitrag kommt gerade zur rechten Zeit. Ein Konflikt, wie ich ihn gerade erlebe, erschüttert und verletzt mich bis ins Mark, so dass ich etwas unternehmen muss - den bewussten Sprung! - heraus aus dieser Not. Ich hoffe, dass meine Entscheidung auch nach dem Sprung noch richtig und gut ist.
Und (Zufall?): ich bin gerade 48 Jahre alt geworden.
Herzliche Grüße, B.

Anonym hat gesagt…

Hallo Jelle,

das sind sehr interessante Thesen, wobei ich es sehr schwierig finde, diese Thesen in so kurzen Sätzen zusammengefasst zu sehen. Daraus könnten auch schnell 50 Seiten werden ( die kaum jemand lesen würde, mal so auf die Schnelle). Interessanterweise scheint mir, das eine These mit der anderen verwoben ist. Ob man allerdings die Thesen anhand des Alters festmachen kann, wie es in den letzten beschrieben wird, das kann aber muss meines Erachtens nicht stimmen. Mir scheint nur wichtig, das jeder Mensch es möglichst schafft, seinen eigenen Weg zu suchen, in Einklang mit seiner Biographie, aber nicht als Gefangener seiner ( vor allem frühen )Biographie. Auch wenn das nicht so leicht ist..

Liebe Grüsse

Ralf

Anonym hat gesagt…

Hallo Ralf,
meinen Weg will ich nicht suchen müssen, sondern ihn finden. Ihn dann auch zu gehen ist der weitere (manchmal schwierige) Schritt. Aber ob ich diesen Weg dann in Einklang mit meiner Biografie gehe oder als Gefangener meiner Biografie, kann ich erst viel später erfahren. Ich muss ihn also erst mal gehen. Meine Biografie gehört zu mir. Vermutlich gehört es auch dazu, eine Zeitlang ein Gefangener meiner Biografie zu sein, um dann zu erkennen: So nicht!
Viele Grüße, B.

Anonym hat gesagt…

...dazu noch dieser schöne Text von Pablo Picasso:

Ich suche nicht - ich finde

Suchen - das ist Ausgehen von alten Beständen und ein Finden-Wollen von bereits Bekanntem im Neuen.
Finden - das ist das völlig Neue!
Das Neue auch in der Bewegung.
Alle Wege sind offen und was gefunden wird, ist unbekannt.
Es ist ein Wagnis, ein heiliges Abenteuer!
Die Ungewissheit solcher Wagnisse
können eigentlich nur jene auf sich nehmen, die sich im Ungeborgenen geborgen wissen,
die in die Ungewissheit,
in die Führerlosigkeit geführt werden, die sich im Dunkeln einem unsichtbaren Stern überlassen,
die sich vom Ziele ziehen lassen und nicht - menschlich beschränkt und eingeengt - das Ziel bestimmen.
Dieses Offensein für jede neue Erkenntnis im Außen und Innen:
Das ist das Wesenhafte des modernen Menschen, der in aller Angst des Loslassens doch die Gnade des Gehaltenseins im Offenwerden neuer Möglichkeiten erfährt.

Anonym hat gesagt…

Lieber Jelle,

vielen Dank!!! Ich bin begeistert! Sie haben das in eine brillante Kürze
dargestellt und gerade das ist m. E. sehr hilfreich, bei der Beschäftigung
mit eigener Biographie.

Herzliche Grüße

Belinda

Jelle van der Meulen hat gesagt…

Lieber Ralf, ja, das mit dem Alter ist noch eine Frage... Herzlich, Jelle

Anonym hat gesagt…

Jelle, kannst du mir das bitte näher beschreiben?
Was ist eine persönlich-überpersönliche Angelegenheit? Wie geht das: Den Konflikt lösen, indem ich ihn als Sprungbrett für umfassendere Fragestellungen nutze?
Vielen Dank!

Jelle van der Meulen hat gesagt…

Liebe(r) Anonym, danke für die Fragen! Ich werde versuchen nächste Woche etwas dazu zu sagen. Herzlich, Jelle

Anonym hat gesagt…

Ja, das was du als „Basiskonflikt“ bezeichnest könnte man auch karmische Konstitution nennen. Jeder von uns trägt einen Rucksack – einen individuellen Rucksack der, um in deinem Bild zu bleiben, mit Aufgaben, Schwächen und Unzulänglichkeiten vollgepackt ist. (Und natürlich haben wir auch noch ein gegenteiliges Gepäckstück bei uns, was wir andere Menschen gerne sehen lassen…)
Da der Rucksack auf unserem Rücken hängt, sehen wir ihn nicht immer… Und wir gewöhnen uns auch an sein Gewicht… er gehört irgendwie zu uns, verschränkt sich mit uns. Aufmerksam werden wir auf ihn durch unsere Mitmenschen, die uns davon erzählen. Es ist wie im Spiegelkabinett. Was wir auch tun, wo wir auch sind, wie alt wir auch werden, mit wem wir auch zu tun haben… immer wieder kommt uns das entgegen, was wir nicht sehen, womit wir ringen, was wir zu tun haben, was wir gerade nicht können…
Auch Parzival hat natürlich seinen „Basiskonflikt“. Ihn begleitet die Sehnsucht. Die Verwirrung. Sein „Wollen“ ohne zu wissen. Und natürlich macht seine Umgebung mit. Mal herausfordernd, mal konfrontierend, mal heilend, mal spiegelnd…. Und was ihn grundlegend begleitet ist natürlich der Zweifel. Davon ist ja die ganze Parzival-Erzählung geprägt. Der bedingungslose Zweifel, der Parzival Jahre hindurch begleitet. Manchmal ist er der einzige, der bei ihm ist…
Aber er führt zu etwas – und das ist das Schöne an dieser Geschichte. Der Zweifel führt zu ihm selber. Zu dem, was wir heute „Identität“ nennen. Parzival wächst über sich hinaus und beginnt seine Mitmenschen zu erleben. Diese Entwicklung kulminiert ja in der so bedeutsamen Frage: „Oheim, was wirret dir?“ Das dialogische Prinzip hat mit Parzival begonnen. Ohne unsere Mitmenschen geht es nicht. Schwäche und Stärke, Liebe und Hass, Vertrautheit und Fremdheit – alle diese Dinge machen keinen Sinn, wenn wir nicht die Verflechtung der Beziehungen ernst nehmen. Wenn wir das, was in unserem Rucksack drückt in die Schale unserer Mitmenschen legen können, wickelt sich das Knäul des „Basiskonflikts“ ein Stück weiter auf und wir kommen über uns hinaus.
Herzlich, Ch.

Anonym hat gesagt…

Gibt es einen Graubereich zwischen dem, wie es gut wäre, wenn...; und dem, wie es praktisch ist?
Vielleicht so:
Kann es nicht auch sein, dass mich ein bestimmter Mensch so sehr an meine Grenzen führt, so dass kein Vorwärtskommen oder über mich Hinauswachsen möglich ist, weil ich nur verwirrt und verletzt und gelähmt bin? Und jede Begegnung dies noch verschlimmert? Und dass es auch möglich ist, dass diese Begegnung nicht zu einem Wachsen sondern zu einem Stillstand führt? Und ich das aktzeptieren kann und mit meiner Entwicklung bis zum nächsten Menschen warte, weil, der kommt bestimmt!
Wahrscheinlich klingt das komisch, aber tatsächlich stehe ich jetzt genau u. ganz praktisch an diesen Fragen.

Anonym hat gesagt…

...so vieles „kann“ sein...
Der Graubereich der noch offenen Möglichkeiten
Das SOWOHL als AUCH
(Es gibt im Graubereich übrigens viele, viele Tingierungen- ein neutrales Grau ist sehr selten zu beobachten. Die meisten „Graus“ sind bei aufmerksamem Hinschauen von einer deutlichen FARBE berührt.)
Die Kunst verlangt jedoch in der sich immerwährenden –
weiterentwickelnden Komposition der Biographie
an bestimmten Stellen des Lebens eine klare Positionierung.
(Entscheidungen zu treffen)
Nach welchen Kriterien lausche ich hin zu meinem inneren roten Faden?
Aus einer gesuchten Distanz heraus betrachtet, in der erst einmal Stille ist,
geht es oft viel besser- eines Morgens dann beispielsweise aufzuwachen und ohne wenn und aber- zu wissen, was zu tun ist.
Solch ein Impuls ist dann ein (errungenes) Geschenk.
Suche in Stille und Rückzug Deine Quellen!
Klarheit, Liebe und Licht wünsche ich Dir

Anonym hat gesagt…

Ein ganz herzliches Dankeschön!
Deine Zeilen tun mir gut.

Anonym hat gesagt…

Wie geht es weiter?
So viele Gedanken, Hoffnungen und Fragen...

Ein Sprung ist ohne Einbettung in ein soziales Netz ganz schön gewagt.
Auch klar ist aber, dass es ohne diesen Sprung nicht geht - dass es nicht weiter-geht.
Vom Privaten also ins Allgemeinmenschliche?

Woran können wir uns festhalten? Gibt es da etwas?

Herzlich!

Anonym hat gesagt…

Lieber Anonym,


***Woran können wir uns festhalten? Gibt es da etwas?***

der Mensch der Zukunft soll „eine freie, auf sich selbst gegründete Persönlichkeit werden“ (R. Steiner), die eigenständig denkt und selbstverantwortlich handelt…
Dazu fällt mir auch noch ein schöner Spruch:

Wer sich an andere hält, dem wankt die Welt.
Wer IN SICH selber ruht, steht gut.

Herzliche Grüße
Belinda