23.01.2009

Nähe und Distanz. Über Trennung als Voraussetzung

Ein Gespür für Nähe kann sich auf alles Mögliche beziehen: auf lebende oder verstorbene Menschen, Gegenstände (auch ein Gedicht von Paul Celan und eine Etüde von Chopin sind einzelne Gegenstände), Lebewesen, Orte & Landschaften, Räumlichkeiten, zeitliche Einheiten, Ereignisse, „göttlich-geistige“ Gestalten (Jesus Christus, Allah, Buddha, Engel, Naturwesen), Begriffe & Ideale & Vorsätze...

Und auf mich selbst. Auch zu mir selber kann ich ein Gespür der Nähe erleben, zum Beispiel wenn ich auf mich schaue, oder besser gesagt: wenn ich in mich gehe, bei mir bin & mit mir rede. Gerade diese Tatsache zeigt, wie paradox das Phänomen der Nähe ist. Um den Begriff Nähe zu beschreiben, brauche ich zwei Instanzen: „Ich“ und eine Erscheinung außerhalb von mir, einen Menschen, einen Baum, ein Lied.

In einem Gespür der Nähe verschmelzen diese beiden Instanzen miteinander – gerade die Distanz zwischen ihnen wird aufgehoben. Wenn „ich“ eine Nähe zu „mir“ erlebe (was ja ein zweifaches Ich bedeutet), findet offensichtlich eine Spaltung statt, die aber direkt wieder aufgehoben wird.

Um Nähe zu erleben, ist Distanz eine Vor-Bedingung Wenn es keine Distanz gibt, kann auch keine Nähe entstehen. Wenn man versucht das Erscheinen des Phänomens der Nähe in seiner Biographie aufzudecken, spielt das Phänomen der Distanz eine große Rolle. Ganz kleine Kinder erleben meistens – nein, nicht immer – noch gar keine Distanz zu Menschen & Dingen um sich herum. Was hier mit Nähe gemeint ist, kennen kleine Kinder nicht.

Das mag erstaunlich klingen. Ist die Vorstellung einer Mutter mit ihrem Kind an der Brust nicht der Inbegriff von Nähe & Innigkeit & Intimität? Vom Kind aus gesehen ist es aber eher so, dass es noch ganz in der mütterlichen Aura geborgen ist, so wie ein Fisch vom Wasser umschlungen wird. Das Kind ist noch nicht im Stande einen Abstand zwischen sich selbst und seiner Mutter zu erleben – ein Gespür für Nähe kann es also in diesem Sinne noch nicht geben.

Ich spreche hier von Nähe als einem Gespür, dass heißt, von der halb bewussten oder ganz bewussten Erfahrung von Nähe. Erst wenn Nähe ein Gespür ist und das Gegenüber auch wirklich als ein Gegenüber empfunden wird und deswegen verinnerlicht werden kann, findet eine Verschmelzung statt. Der erste Akt der Nähe ist die Trennung, der zweite die Vereinigung.

Das Gespür für Nähe ist ein religiöses Geschehen. Das Wort „Religion“ kommt vom lateinischen re-ligare, was bekanntlich soviel wie „zurückbinden“ bedeutet. Theologisch gesehen geht es dabei um eine Zurückführung zu Gott: die lebendige Beziehung zu den Göttern oder dem Göttlichen ist verloren gegangen, wird aber über Rituale & Übungen wieder hergestellt.

Ein Gespür der Nähe zwischen mir und mir & zwischen mir und dir & zwischen mir und euch & zwischen mir und den Gegenständen & zwischen mir und den Begriffen und Idealen & zwischen mir und der Welt kann sich erst nach einer Trennung vollziehen, aus einer erlebten Distanz heraus vollzogen werden. Der religiöse Aspekt liegt nicht darin, dass es unbedingt um eine rein geistig-göttliche Erscheinung im theologischen Sinne gehen muss.

Das Religiöse liegt in dem Wort „wieder“ beschlossen.

8 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Ja genau, Trennung ist eine Voraussetzung für Nähe. Ich erfahre es manchmal so, dass ich mich innerlich öffnen muss um wirkliche Nähe(von Verstorbenen) zu erfahren. Ich erinnere mich dass ich im Alter von 25 bis 33 öfters die Nähe erfahren habe von "etwas" was mich warnen wollte, aber ganz freilassend. Ich bin nun fast sechszig und jene Nähe ist mir immer nah geblieben.

Sei herzlich gegrüsst.
Wim Maas

Anonym hat gesagt…

ich glaube nicht das distanz die voraus-setzung für nähe ist. es ist das verstehen (erkennen) beider zusammenhängender begriffe die erst eine bestimmung zulässt.
grüsse aus saarbrücken
volker

Anonym hat gesagt…

... In einem Gespür der Nähe verschmelzen diese beiden Instanzen miteinander – gerade die Distanz zwischen ihnen wird aufgehoben. Wenn „ich“ eine Nähe zu „mir“ erlebe (was ja ein zweifaches Ich bedeutet), findet offensichtlich eine Spaltung statt, die aber direkt wieder aufgehoben wird ...

Nähe wie Distanz sind immer noch Trennung. In der Erkenntnis findet "Verschmelzen" statt. Ich werde eins mit dem anderen. "Ich bin" (dann) im Zustand der Erkenntnis. Ein Licht ist "mir" aufgegangen. "ICH BIN" Licht. Alle Zellen meines Körpers werden von Licht durchflutet. Als Erinnerung bleiben sie "gespeichert". Die Distanz wird zu "Ganz". Die Beoabchterin in mir kann erkennen. Da sie beobachtet ist sie ebenfalls noch Teil des Ganzen. "ICH BIN" Licht braucht keine Erkenntnis mehr. Um Erkennen zu können braucht es "Schatten" oder das von "mir" Getrennte. Vereint BIN ICH ganz. Getrennt ist Ich geteilt: in Individualität und Persönlichkeit. Persona: die Maske, Individualität: das Ungeteilte. Larve: die Maske/das Gespenst.

Im Urbeginne war das Wort.
Es hat sich vervielfältigt. Darum schreibe ICH+ich hier viele Wörter für das EINE Wort.

Herzlich
Monika
PS. Mein eines Teil ist grad nach Hause gekommen (mein Sohn) und hat jetzt Anspruch auf dieses Teil, das ich ihm hiermit übergebe. : )

Anonym hat gesagt…

Vielleicht noch eine Hinzufügung als Bild: Nähe ist für mich wie Zusammenziehen, aber nicht heiraten.

Nähe ist immer noch Angst vor dem wirklichen Verschmelzen. Was verliere ich, wenn ich verschmelze?

Meine Erfahrung ist NICHTS. Vom Standpunkt der Persönlichkeit aus gesehen: ALLES.

Und wenn ich die «Erkenntnis» aus beiden ziehe, so ist sie für mich unbegrenzte Liebe und Freiheit zugleich.

Und die möchte ich nicht mehr missen. : )

Herzlich
Monika

Anonym hat gesagt…

hallo monika,
nähe ist für mich ein prozess, ständig in bewegung, distanz ist der "gegenwärtige standpunkt" dieses prozesses, und verschmelzung nur eine der vielen möglichkeiten gegenwätig nähe zu erleben.
grüsse aus saarbrücken
volker

Jelle van der Meulen hat gesagt…

Mir scheint es so zu sein: erst wenn es beide gibt, Distanz & Nähe, sind beide vollständig. Totale Verschmelzung hebt nicht nur die Distanz auf, sondern auch die Nähe. Herzlich, Jelle van der Meulen

Anonym hat gesagt…

ja, da fällt mir peter hanke ein:

http://tinyurl.com/aos6xx

grüsse aus saarbrücken

Anonym hat gesagt…

gerade zu-fällig gelesen:

Die Freundschaft ist die Kunst der Distanz so wie die Liebe die Kunst der Nähe ist.
~ George Herbert ~

grüsse aus saarbrücken
volker