20.09.2008

Die Legalisierung von Schätzen & die Befreiung von Drachen

Ja, sie hat lange damit gewartet, vielleicht zu lang, um die Worte auszusprechen. Weil sie sich über die richtigen Worte nicht sicher war. Weil sie nicht verletzen wollte. Weil sie überhaupt Angst hatte, einem Menschen von Angesicht zu Angesicht negative Bewertungen auszusprechen. Jetzt hat sie aber den Mut gefasst. Und die Worte die sie endlich aussprach, waren klar & kräftig & souverän.

Ihre Kollegin hat zugehört. Schweigend. Und schluckend. Die klaren & kräftigen & souveränen Worte waren richtig angekommen, ja sie haben eingeschlagen. Sie saß am Tisch, Haupt und Rücken aufrecht, die Augen feucht und der schmale Mund geschlossen. Jetzt – ein paar Tage später – meine ich mich zu erinnern, dass ihre Hände zitterten. Aber vielleicht bilde ich mir das im Nachhinein auch nur ein. Sicher ist aber, dass sie innerlich zitterte.

Nach einer Weile der Stille sprach sie. Es war ihr anzusehen, dass sie verzweifelt war. Sie sprach und sprach, und ihre Worte waren wie aufgeschreckte Rebhühner in einem Jagdrevier. Alle Bedeutungen flatterten. Und dann, auf einmal gefasst, schaute sie die Kollegin an und sagte: „Was du an mir schwierig & unerträglich & unmöglich findest, halte ich gerade für meinen Schatz. Ja, du sprichst von meinem Schatz“.

Ich durfte dabei sein. War ein Zeuge. Ich durfte das mächtige & verwirrende & intime Ringen dieser zwei Kolleginnen mit einander wahrnehmen. Ich durfte in den Abgrund schauen, der sich zwischen den beiden öffnete. Und noch jemand war dabei, auch eine Kollegin, befreundet mit den beiden. Sie sagte: „Ich bin froh, dass die Worte jetzt ausgesprochen sind“.

Der Schatz. Was ist damit gemeint? Mir scheint es so zu sein, dass jeder Mensch in sich einen Schatz erlebt. In der Sprache der Märchen: in jedem von uns gibt es eine Höhle, eine „Aussparung“, in der es mehr oder wenig dunkel ist und in der ein goldener Schatz schimmert. Wir alle schauen in uns auf diesen Schatz, halten ihn für kostbar & delikat & geheimnisvoll. Und ich behaupte, dass kein Mensch ein positives Selbstbild haben kann, ohne sich auf irgendeine Art und Weise auf diesen Schatz zu orientieren.

Der Schatz beinhaltet Fähigkeiten, Intentionen, Vorsätze, Weisheiten vielleicht, die ein doppeltes Gesicht haben. Sie sind vorhanden und doch nicht vorhanden. Sie sind beleuchtet und doch nicht beleuchtet. Sie wenden sich zur Welt und wenden sich von der Welt ab. Sie sind glänzend verletzbar, unzerstörbar fragil, und vor allem: sichtbar ohne fassbar zu sein. In der Sprache der Philosophen: der Schatz ist „das Selbst“, dass „bislang noch keine Gelegenheit hatte, sich [...] zu manifestieren“ (Michel Foucault).

Wir haben gute Gründe diesen Schatz zu beschützen. (Oder meinen zumindest sie zu haben.) Und deswegen gibt es – um wieder die Sprache der Märchen zu benutzen – keinen Schatz ohne einen Drachen. Vor jedem Schatz liegt ein Drache, der meistens schlummert, aber sofort hell wach wird und sich vehement wehrt, wenn eine Gefahr droht. Wenn nötig, speit er Feuer. Schatz und Drache gehören zu einander, sind einander verpflichtet und bilden eine perfekte Symbiose. Beides ist wahr: wo es einen Schatz gibt, gibt es einen Drachen; und wo es einen Drachen gibt, gibt es einen Schatz.

Oft muss man ein richtiger Held sein, um an den Schatz in einem Kollegen oder einem Bekannten oder einem Freund zu gelangen. 

Mir scheint es als Zeuge meine Aufgabe zu sein, den Schatz der Kollegin zu beschreiben, zu offenbaren und damit zu „legalisieren“. Die Kollegin selber kann das nicht. (Ein „Selbst“ kann sich nicht selber „verteidigen“, weil es ein „Selbst“ ist und nicht ein „Subjekt“ - siehe dazu meine Blogbeiträge über „Selbst und Subjekt“). Mit der Legalisierung der Schätze ist hier genau gemeint, was damals im Wilden Westen gemacht wurde, wenn eine Goldgrube entdeckt wurde: der Ort wurde beschrieben und der Inhaber anerkannt. (Man könnte an dieser Stelle auch von der Sozialisierung der Schätze sprechen.)

Durch Beschreibung und Anerkennung werden Schätze geschützt und Drachen befreit. Die Frage ist natürlich, was hier mit Beschreibung gemeint ist. Oder anders gesagt: wie kann man ein „Selbst“ beschreiben, ohne es auf einen Punkt festlegen zu wollen (das heißt: es zu „subjektivieren“)? Ich meine, dass das nur in Bildern geht – in imaginativen Vorstellungen, die wachsen & schweben & sich verwandeln & sich ausweiten & wieder verschwinden können. Die Aufgabe von Künstlern & Dichtern & Journalisten & Rappern & Photographen & Cineasten in einer Kultur des Herzen ist es, solche Vorstellungen zu machen. 

(Jeder Mensch ist ein Künstler & Dichter & Journalist & Rapper & Photograph & Cineast.)

Und was geschieht mit dem Drachen? Jeder Drache hat eine erstaunliche Intelligenz und eine enorme Kraft entwickelt. Wenn er in der Höhle-in-uns nicht mehr gebraucht wird, weil der Schatz anerkannt und legalisiert ist, darf er raus. Er darf in die weite Welt ausfliegen und sich dort mit den Sachen des Lebens, die ihm wichtig sind, beschäftigen. Den Kontakt zu seinem Schatz wird er aber nie verlieren. Die Haupttugend von Drachen ist nämlich Treue.

Mit Dank an Sophie Pannitschka

9 Kommentare:

Michel Gastkemper hat gesagt…

Lieber Jelle,
Sehr schöner Beitrag!
(Wüsste du übrigens das es dem 19. September exakt 77 Jahre war, dass die offizielle Eröffnung von dem Zonnehuis Zeist, das Pionierinstitut von Bernard Lievegoed, damals in Bosch en Duin, stattgefunden hat?)
Herzlich,
Michel

Jelle van der Meulen hat gesagt…

Lieber Michel, nein, war mir nicht bekannt. Bernard Lievegoed steht bei mir die letzte Zeit kräftig auf die innere "Tagesordnung". Bin also sehr mit ihm beschäftigt. Seine Anregungen sind vor allem eine Hilfe in Bezug auf die schwierige Situation in viele Waldorfkindergärten. Ik verheug me steeds iets van je te horen. Groeten aan Rotterdam. Hartelijk, Jelle

Anonym hat gesagt…

Ein wunderbares Erlebnis - und sehr schön beschrieben! Ja, wie oft erleben wir nur den Drachen eines Menschen, der den Schatz bewacht. Ein schlafender Drache, oder ein wütender Drache... aber wie wird der Schatz sichtbar, wie lassen sich Drachen zähmen? Wie gelangt ein Mensch selbst zu sich, zu seinem Schatz und kann ihn dann noch für seine Umgebung so zeigen, dass er bewundert, nicht aber gestohlen oder verachtet wird? Denn manchmal sehen wir selber ja nur den Drachen in uns....
Es ist gut sich bewußt zu machen, dass sich hinter jedem feuerspeienden Drachen ein goldener Schatz verbirgt!
Danke!
Charlotte.

Michel Gastkemper hat gesagt…

Lieber Jelle,
Ich habe eben am Donnerstag noch über dir geschrieben: http://antroposofieindepers.blogspot.com/2008/09/geen-armoe.html.
Und jezt werde ich mich wieder weiter mit Köln beschäftigen müssen, weil Mathilde Scholl vor einem Jahrhundert von da aus wirksam war, für die im November zu erscheinenden neuen Band der Rudolf Steiner Vertalingen: ‘Esoterische scholing’. Die Verknüpfungen sind vielfach!
Herzlich,
Michel

Anonym hat gesagt…

wieder so ein schöner Text! und hoffentlich kommt von Michel Gastkempers Beitrag für Rudolf Steiner Vertalingen auch was in sein blog, damit wirs lesen können

Anonym hat gesagt…

Lieber Jelle, danke für den Text. Es kommt mir vor als ob du den jetzt für mich veröffentlicht hast Weil ich dir am Donnerstag meinen Verzweiflungszustand beschrieben habe. Ist das richtig?
Mein Drache gibt mir jetzt hoffentlich mehr Kraft an dem Schatz zu arbeiten, denn er ist noch nicht zum Heben fertig. "Ohne deine Wunde wo bliebe deine Kraft." Versuche ich zu denken.Liebe Grüsse Andrea

Anonym hat gesagt…

Abgesehen von den vielen Konnotationen, die das Drachenbild bietet, finde ich die verbale Sichtbarmachung des "inneren Schatzes" sehr schön... und das Wissen, dass das, was man selbst als wertvoll erachtet, oftmals für andere gar keinen Wert hat oder sogar als "negativ" empfunden wird.

Danke für diesen Reichtum an Gedanken!

Sid

Jelle van der Meulen hat gesagt…

Liebe Andrea, ich kann mir vorstellen, dass du meinst, ich hätte mit diesem Blog auf deine Email reagiert. War aber nicht so. Es war wie beschrieben: ich war Zeuge eines Gespräches.

Liebe(r) Sid, ja, über den Drache wäre noch mehr zu sagen.

Lieber Michel, bin gespannt, was du über Mathilde Scholl schreibst. Jelle van der Meulen

Anak hat gesagt…

lieber jelle, das michaelsfest, texte in unserer wochenzeitung der bernard lievegoed school und dein beitrag hat mich wiederum zu eigenen ueberlegungen gefuehrt. Ich danke dir fuer diesen schoenen beitrag.
liebe gruesse
anka