23.05.2008

Das kleine Kind. Über das Selbst und Schicksalsflechtwerken

Wie können Tagesstätten-für-Kinder-unter-drei zu Orten einer Kultur des Herzens werden? In meinem letzen Blogbeitrag über das kleine Kind habe ich versucht, etwas über die physischen Räumlichkeiten einer Kindertagesstätte zu sagen (siehe 9.5.2008). Heute möchte ich versuchen, den sozialen Raum zu beleuchten.

Das kleine Kind ist eingebettet in eine soziale und familiäre Umgebung. Es gibt eine Mutter, einen Vater (oder nicht), Geschwister, die Großeltern, Onkel, Tanten und Cousinen – die Blutsverwandten also; und es gibt Paten, Bekannte, Freunde und Nachbarn – die sozialen Verwandten.

Oft wird eine Kindertagesstätte als Ersatz für die Familie gehalten. Mit dieser Vorstellung wird das Kind „abgegeben“, was impliziert, dass das Kind eigentlich zu Hause bleiben sollte; weil die Mutter aber arbeiten möchte, werden professionelle Tagesmütter und Erzieherinnen gesucht und bezahlt um das Kind zu betreuen. Diese Art und Weise über Kindertagesstätten zu denken, bleibt meistens unbewusst. Sie kreiert aber spontan eine Kluft zwischen der unmittelbaren Lebensumgebung des Kindes und dem Ort wo es „betreut“ wird.

Und weil der Staat sich in Bezug auf die Einrichtung von Kindertagesstätten stark einbringt und einmischt, entstehen im Sinne von Michel Foucault gesellschaftliche Institutionen, die nicht nur auf die Bedürfnisse der Kinder schauen, sondern auch die Ordnung der Gesellschaft bewahren. Kindertagesstätten stehen damit zwangsläufig in der massiven europäischen Tradition von Schulen, Kliniken und Gefängnissen. Das hierarchische Überwachungssystem dieser Tradition wird unbewusst übernommen.

Die Erziehung & Begleitung & Betreuung von Kindern ist aber prinzipiell eine private Angelegenheit. Die Eltern und nur die Eltern haben an dieser Stelle das Sagen. Ich meine, das dieses Sagen durch alle Beteiligten – Staat, Eltern, Verwandte, Bekannte – nicht ernst ergriffen wird. Gerade die Debatte über das kleine Kind macht deutlich, das etwas grundsätzlich aus dem Ruder gelaufen ist. Sobald die Eltern meinen, dass ihr Kind tagsüber nicht mehr zu Hause bleiben soll, tritt der Staat kräftig in Erscheinung, so wie das vorher schon mit Schulen und Kindergärten der Fall war. Das professionelle und institutionelle System wird automatisch nach vorne geschoben, bis an die Schwelle der Geburt.

Die Schwelle der Geburt ist aber eine richtige Bewusstseinswand. Je näher man rückwärts an die Geburt heran kommt, umso schwieriger es wird, das System der Steuerung & Rationalisierung aufrecht zu erhalten. In dem kleinen Kind wirkt das reine, noch nicht subjektivierte Selbst – das heißt, dass kleine Kind ist un(an)greifbar. In unserer Gesellschaft fällt der Unterschied zwischen Subjekt und Selbst haargenau mit dem Unterschied zwischen öffentlich und privat zusammen. Für die öffentliche Gesellschaft gibt es kein Selbst, weil so etwas rechtlich nicht zu definieren ist; wenn es um das Selbst geht, ist der Staat per definitionem ungeschickt.

Wenn man sich der Schwelle der Geburt annähert – und ich meine, dass gerade das zur Zeit in der Gesellschaft geschieht – hört man entweder auf zu denken, oder man steigert sein Denken ins Spirituelle. Die Frage, die an der Schwelle der Geburt gilt, lautet: wie wird man dem Selbst des Kindes gerecht? Oder in der Sprache des Alltags: wie kann man das kleine Kind in seiner Offenheit & Unvorsehbarkeit & absolutistischen Lernfähigkeit einerseits schützen, und anderseits aber Freiräume entstehen lassen?

Mir scheint ein wichtiger Schritt in dieser Richtung zu sein, dass die Kindertagesstätten gerade nicht als Ersatz verstanden werden. Die Kindertagesstätten für Kinder unter drei könnten als Dynamisierung & Erweiterung der menschlichen Nähe aufgefasst werden. Ich meine, dass mit dieser Sichtweise zwei Aspekte verbunden sind.

Erstens: Das Schicksalsflechtwerk um das kleine Kind herum wird aktiviert & dynamisiert. Das heißt, dass die Eltern & Nachbarn & Freunde & Großeltern & Onkel & Tanten sich kräftig ehrenamtlich einbringen. Der kranke Onkel zum Beispiel, der gerne im Garten arbeitet, kommt zweimal in der Woche und legt Pflanzenbeete an. Und die arbeitslose Tante kocht Nudeln, macht einen Spaziergang mit den Kindern oder malt in der Ecke ein Bild.

Zweitens: Neben der (so genannten) pädagogischen Arbeit haben die professionellen Mitarbeiter (Erzieher, Pädagogen, Tagesmütter) eine soziale Aufgabe. Sie schauen auf das ganze Schicksalsflechtwerk der Kinder, laden beteiligte Menschen ein aktiv zu werden, organisieren und koordinieren Aktivitäten, planen und leiten Treffen, pflegen Beziehungen, und so weiter. Die Profis küssen die Prinzen und Prinzessinnen wach.

Es wäre eine Illusion zu denken, dass diese Vorgehensweise leichter (und billiger) wäre als die übliche systemorientierte. Das ist klar nicht der Fall. Die Eltern die sich auf diese Art und Weise als freie „Bürger“ zusammen tun und mit Hilfe der Profis einen Weg gehen wollen, kriegen mit intensiven Fragen zu tun. Weil gerade das Geheimnis des Selbst im Mittelpunkt steht, funktionieren Rezepte nicht. Die Tatsachen des Lebens müssen jeden Tag neu entdeckt & die Beziehungen zwischen den Beteiligten jedes Mal neu erlebt und verstanden werden.

So aber wächst ein Selbst nach dem anderen in die Welt hinein.

(Mit dank an Sophie Pannitschka)

8 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Wer hält denn eine "Kindertagesstätte als Ersatz für eine Familie", doch nur Sie in Ihrem Artikel und welche Mutter gibt ihr Kind einfach so ab, ohne sich zu kümmern, wohin sie es gibt? Sie wollen mit ihren dummen Aussagen, die sie auch noch ins "Unbewusste" der Mütter legen. doch nur ein Machohaftes Rollenverständnis fördern und den Frauen, die arbeiten müssen,auch noch ein schlechtes Gewissen machen. In unserem föderalistischen Bildungswesen Foucault zu zitieren und eine "zwangsläufige massive europäische Tradition von Schulen, Kliniken und Gefängnissen" in einem Atemzug zu postulieren ist schlichtweg eine Unverschämtheit, ebenso der Satz "Das hierarschiche Überwachungssystem dieser Tradition wird unbewusst übernommen." Sie sollten sich mal mit dem deutschen Grundgesetz auseinandersetzen, was sie wohl als niederländischer Staatsbürger bisher nicht zur Kenntnis genommen haben. Dort heisst es im Artikel 6, Absatzb 1: "Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Bettätigung wacht die staatliche Gemeinschaft." (Wie oft letzteres nicht in genügendem Masse wahrgenommen wurde, zeigen die vielen Fälle der jüngst misshandelten und getöteten Kinder.) Und warum nur sollte eine Kindertagesstätte, in der Menschen, die sich meist mit Idealismus dafür entschieden haben, diesen Erzieher-Beruf auszuüben, nicht auch zum Schicksalsgeflecht eines Kindes gehören? Meinen Sie, nur Waldorfs könnten dies? Die normale Gesellschaft hat sich auch weiterentwickelt - vielleicht können Sie das nur nicht sehen, weil sie in Ihrer Ideologie verhaftet sind?

Jelle van der Meulen hat gesagt…

Ich will den Frauen, die arbeiten müssen, gerade kein slechtes Gewissen machen. Mir scheint es berechtigt zu sein, dass sie arbeiten wollen. Über das Grundgesetz in Deutschland: da haben sie völlig recht! Ich meine nur, dass der Praxis oft anders aussieht. Und nein, es sind bestimmt nicht nur die Waldorfs, die guten Gedanken über Kindertagesstätte haben. Ganz im Gegenteil, ich meine eher, dass die Waldorfbewegung in dieser Hinsicht ein bisschen zurückbleibt. Und ja, die Kindertagesstätte gehören auch zum Schicksalsflechtwerk. Ich hätte das deutlicher schreiben können. Jelle van der Meulen

Anonym hat gesagt…

Seit 15 Jahren besuche ich als ehrenamtlicher Betreuer Behindertenheime. Ich weis natürlich, daß sich die Heimlandschaft auch verändert hat, früher waren 30 Betten Schlafräume üblich. Aber auch hier hat sich die Welt gewandelt. Auch wenn es immer wieder Schwierigkeiten gibt, ich erleben mehrheitlich das Heimpersonal als nicht nur fachlich fundiert, sondern auch liebevoll bemüht.

Aufgrund dieser Erfahrung hat auch mich der Vergleich mit Gefängnissen geschockt.

Ich lese daraus auch eine völlige Ablehnung dieses Staates. Auch wenn er verbesserungswürdig ist, ich kenee nicht viele gleichwertige, wenn ich die Welt so im Geiste durchstreife.

Aber diese radikale Ablehnung arbeitet wieder mal den Radikalen entgegen, sowohl den neuen braunen, wie den neuen roten.

Genau so haben vor dem 2. WK die bürgerlichen Parteien durch ihre Ablehnung von Demokratie Adolf in die Tasche gearbeitet, auch wenn sie selber nicht braun waren.

Wenn dies allg. Meinung innerhalb der Waldorfbewegung ist, sollte diese ehrlicherweise auf jedwede staatliche Unterstützung verzichten und nur noch von freiwillgen Spenden leben.

Anonym2

Jelle van der Meulen hat gesagt…

Ich bin nicht gegen den Staat. Ganz und gar nicht. Ich meine aber, dass der Staat seinen Grenzen zu respektieren hat. Und: was ich geschrieben habe, ist nur meine persönliche Meinung. Jelle van der Meulen

Jelle van der Meulen hat gesagt…

Ich bin nicht gegen den Staat. Ganz und gar nicht. Ich meine aber, dass der Staat seinen Grenzen zu respektieren hat. Und: was ich geschrieben habe, ist nur meine persönliche Meinung. Jelle van der Meulen

Anonym hat gesagt…

Ich verstehe diesen Bericht - und im Zusammenhang mit Jelles vorherigen Berichten - so, dass hier nicht DIE Tagesstätte als Ort, sondern die Einrichtung oder Institution als Sammelbegriff gemeint ist. Denn ein kleines Kind unter drei Jahren braucht grundsätzlich keine Institution zum Leben. Es braucht aber grundsätzlich eine gesunde Umgebung und liebevolle Menschen, die dem Kind die Möglichkeiten schaffen, die es braucht zum Wachsen.

Anonym hat gesagt…

Lieber Jelle,
mir kommen deine Gedanken über Tagesstätten-für -kinder-unter-drei als Orte einer Kultur des Herzens als sehr realistisch und anregend entgegen.Die bisherigen Kommentare dazu empfinde ich einfach als zu überzogen.Denn schließlich geht es hier ja um einen Bereich der neu zu betreten ist, indem noch alle Möglichkeiten einer Gestaltung frei sind. Und sich darüber Gedanken zu machen,die dem kleinem Kind und den Eltern, Familien ,Freunden einen Raum geben könnten, um eine Kultur und zwar eine Kultur des Herzens zu gründen ,das ist eine ausschließlich gute Tat.Mir als Erzieherin geben diese Worte Gedankenanstöße, werden zu Gespächen in rein demokratischer Weise mit den Kollegen führen und ich wette: wir werden damit in einen interessanten Prozeß treten. Mit lieben Grüßen, Birgit

Jasna Caluk hat gesagt…

Sehr verehrter Herr van der Meulen,
ich nehmen Ihren Bericht ersteinmal als eine Beobachtung wahr von Ursache und Wirkung, so wie ich die meisten Texte in Bezug auf die Erziehung von Kindern wahrnehme, insbesondere diejenigen der Waldorfpädagogik. Wenn das Kind also diese oder jene Voraussetzungen in der Erziehung der Bindung zu den Eltern, der Familie erhält, ist das liebevolle Fundament geschaffen für die weitere Entwicklung des Kindes. Hierzu gibt es eben immer wieder andere und neue Ansichten. Ich denke, dass ein schlechtes Gewissen dar schlechteste Berater ist, um eine Lösung zu finden. Ich denke, dass Eltern und Familie einfach versuchen sollten, ausgehend von dem faktischen Wissen darüber, was das bestmögliche wäre, sich diesem Bestmöglichen anzunähren. Das ist das, was zunächst einmal jeder Einzelne (also Eltern und Familienmitglieder) tun kann.

Ich lebe in Wien und meine Kinder (3 und 4 Jahre) gehen beide in einen Waldorfkindergarten und Möglichkeiten und Angebote für gemeinsame Unternehmungen gibt es immer. Jede Mutter, jeder Vater kann ein familiäres Bewusstsein in den Kindergarten integrieren. In dem Moment, wo ich meine Kinder in die Obhut der Kindergärtnerinnen gebe, sind diese meine Familie und genauso nehme ich sie wahr und wenn ich sie so wahrnehme, nehmen sie auch meine Kinder so wahr. Das ist meine erlebte Erfahrung.

Es gibt nichts Schöneres, als am Wochenende im Kindergarten mit Eltern und Betreuern gemeinsam Gartentage zu veranstalten. Bei uns gibt es dann auch immer ein Lagerfeuer. Die familiäre Bindung zu entfernteren Familienmitgliedern ist vielleicht heute nicht mehr in dem Maße gegeben, wie es früher mal der Fall war. Aber dennoch gibt es für jeden Einzelnen immer Möglichkeiten solch ein familiäres Bewusstsein zu erschaffen, immer und zwar ganz ohne schlechtes Gewissen. Eben so viel wie geht.

Danke für Ihren Bericht und
alles Liebe
Jasna Caluk