31.10.2007

Der Tod und die Betroffenheit

Herzwerk und Tod hängen eng zusammen. Die Betroffenheit, die mit dem Tod einhergeht, weckt die Fähigkeit, die Botschaften des Lebens auf eine nicht-triviale Art und Weise zu lesen und zu verstehen. Die immer einzigartigen Ereignisse, die mit einem Sterben zusammenhängen, haben eine Intensität, die auf der Ebene des Herzens wirkt. So ist das mit dem Tod-im-Leben: Er steigert die Fähigkeit zum Leben.

In den letzten Wochen wurde in meinem Leben viel gestorben. Anfang Oktober starb Uwe Gronbach, der Vater meines Freundes Sebastian. Ich bin am 12. Oktober nach Bad Godesberg gefahren um in der Kirche der Christengemeinschaft an der Trauerfeier teilzunehmen. Es war ein wunderschöner Herbsttag mit einem warmen Licht, das sich sanft über uns ausbreitete. Nach der Trauerfeier sagte Sebastian über seinen Vater: „Seine Liebe zur Tat... Seine große, große Liebe zu den Menschen... Zu jedem einzelnen und zu allen... Das wird in diesen Stunden frei und es steht Ihnen und uns zur Verfügung. Bitte bedienen Sie sich. Es ist reichlich vorhanden.“

Genau sieben Tage später war ich in Kosiče in der Slowakei, um Marianka Novak zu kremieren. Ich hatte im August auf meiner Blogsite schon über sie geschrieben (siehe: „Hidasnemeti. Oder: die Puszta und ich“.) Auch in Kosiče konnte man spüren, dass etwas frei wurde. Mit ihrem Tod hat Marianka uns den Mut zum Verzeihen zur Verfügung gestellt, das heißt, die Bereitschaft, auch dann die Menschen aktiv zu lieben, wenn sie uns schwer verletzt haben. Als ich mich am Flughafen von ihren beiden Söhnen Boris und Brano verabschiedete, war uns klar: Der Tod Mariankas hat nochmals bestätigt, dass wir uns gegenseitig als „Stützpunkte“ in unseren Biographien verstehen.

Eine Stunde nach meiner Ankunft spät abends in Deutschland kam die Nachricht, dass mein Vater Harm van der Meulen gestorben war. Als ich am nächsten Morgen in Utrecht ankam, waren meine Geschwister schon dabei, die Beerdigung zu regeln. Wir saßen in seinem Zimmer, rauchten seine letzten Zigaretten und sprachen über sein Leben und sein Sterben. Zwei Aspekte standen immer wieder im Zentrum unserer Aufmerksamkeit: seine tiefe – und in den letzten Jahren auch milde – Liebe für unsere Mutter (die im August 2006 gestorben war) und die entschiedene Art und Weise, wie er sich als Gewerkschafter und Politiker verstanden hat.

Mein Vater meinte, dass Gott der Gestalter seiner Biographie war. Ich glaube das nicht. Ich glaube, dass er selbst sein Leben gestaltet hat, und zwar entschieden und ohne wenn und aber. Gerade mit Kunst hatte mein Vater nichts am Hut – Künstler waren in seinen Augen irgendwie halbwegs schon „subversiv“. Kunst war „flauwekul“. Und die einzige Kunst die er liebte, nämlich die Poesie der Bibel, fasste er nicht als Kunst auf, sondern als Gesetz. Als Lebenskünstler war er aber wie ein Bildhauer, der aus hartem Granit sein Leben gestaltete. Diese Fähigkeit kam frei als er starb: das Leben zu verstehen als eine Skulptur – und vor allem auch die Fähigkeit, am Ende seines Lebens die Skulptur zu verfeinern, glatt und lieb, ja, berührbar zu machen.

Einen Tag nach der Beerdigung meines Vaters in Utrecht kam Aachen. Für den Abend war dort in der Waldorfschule ein Vortrag geplant: „Die Freundschaft als Baustein einer Kultur des Herzens“. Am Vormittag kam dann die unfassbare Nachricht, dass ein Vater seine Frau und seine zwei Kinder mit einem Beil getötet hatte. Der Vater, die Mutter und die zwei Kinder gehörten zum Umkreis der Waldorfschule. Einige meiner Freunde in Aachen kannten die Familie sehr gut. Eine Freundin der getöteten Frau schrieb mir: „Ich kann es immer noch gar nicht begreifen und bin fast nicht in der Lage, es auch nur auszuhalten.“

Am Abend kamen etwa sechzig Leute in der Waldorfschule zusammen um meinen Vortrag zu hören. Ich glaube nicht, dass ich jemals zuvor dem Wesen der Betroffenheit so stark und unausweichlich begegnete, wie an diesem Abend. Was in den letzten Wochen in meinem Leben schon fast physisch handgreiflich geworden war, die geistige Substanz der Betroffenheit, vertiefte sich ins Unermessliche. Spürbar war, dass das schreckliche Ereignis eine Bedeutung für die ganze Gemeinschaft hatte. Die Betroffenheit wurde zu einem gemeinsamen Boden. Was aber das schreckliche Ereignis in Aachen freigesetzt hat, ist nicht zu sagen. Mir scheint es an meiner Stelle respektlos zu sein, mir darüber Gedanken zu machen.

Die Betroffenheit ist ein Geschenk. Die Betroffenheit öffnet Türen in das große Da-oben, Da-hinten, Da-unten, Da-drinnen. Die Betroffenheit führt in den weiten Innenraum der Ahnungen. Die Betroffenheit ermöglicht Beziehung. Das Leben lehrt aber, dass es bei diesem Geschenk nicht bleiben kann und nicht bleiben muss. Erst wenn wir aus der Betroffenheit heraus entschieden Entscheidungen treffen, wird sie nachhaltig wirksam. Das Leben als Herzwerk setzt sich über die Betroffenheit hinaus fort in die Bereitschaft, die eigene Biographie und die Gemeinschaft bewusst und tatkräftig zu gestalten. Bleibt das aus, wird der Tod im Nachhinein doch wieder sinnlos.

23.10.2007

Harm van der Meulen

Zaterdag 20 oktober, op de avond voor zijn verjaardag, is mijn vader Harm van der Meulen gestorven. Zondag was ik erbij toen hij werd opgebaard. Zijn gelaatsuitdrukking was afgewend en ingekeerd. Hij had zijn ogen en zijn mond nadrukkelijk gesloten. Ik heb mijn vader altijd begrepen als iemand die zijn leven opvatte als een strijd in opdracht van God. Zijn werk in de vakbond en in de politiek was een strijd die fair maar vastbesloten moest worden gestreden. Maar hij was niet alleen een soldaat van God. Hij was ook een geliefde. Achter zijn gesloten ogen en zijn voor altijd zwijgende mond betreedt hij nu vastbesloten een binnenruimte, waar hij zich kan verenigen met de vrouw, mijn moeder, die hij innig liefhad.

Am Samstag, 20. Oktober, dem Abend vor seinem Geburtstag, ist mein Vater Harm van der Meulen gestorben. Am Sonntag war ich dabei, als er aufgebahrt wurde. Sein Gesichtsausdruck war abgewendet und eingekehrt. Er hatte seine Augen und seinen Mund entschieden geschlossen. Ich habe meinen Vater immer verstanden als ein Mensch, der das Leben genommen hat als ein Kampf im Auftrag Gottes. Seine Arbeit in der Gewerkschaft und in der Politik war ein Kampf, der fair aber entschieden geführt werden sollte. Er war aber nicht nur ein Soldat Gottes. Er war auch ein Geliebter. Hinter seinen geschlossenen Augen und seinem für immer schweigenden Mund betritt er jetzt entschieden einen Innenraum, wo er sich mit der Frau, meiner Mutter, die er innig liebte, vereinigen kann.

17.10.2007

Die Freundschaft als Baustein einer Kultur des Herzens (3)

In meinem Austausch mit meinem alten Freund Rob Rijksen geht es unter anderem um die Frage, warum wir damals vor dreißig Jahren auseinander gegangen sind. Mit seiner Erlaubnis zitiere ich hier ein paar Sätze, die er mir geschrieben hat. Er schreibt: „Was bedeutete es damals konkret für uns beide, dass du mich einerseits zu dir heran gezogen hast und mich andererseits nicht in deinem Leben zugelassen hast, wenn ich dir zu nahe kam? Du konntest dann ziemlich wütend werden“. Und: „Nimm zum Beispiel die vielen Demonstrationen, (woran ich damals als Organisator beteiligt war, JvdM), von denen du mir nicht alles erzähltest“. Und: „Du bist damals von dem Einen zu dem Anderen geflogen, und ich musste immer irgendwie hinterherlaufen.“

Was mich an diesen Sätzen vor allem berührt, ist die Tatsache, dass ich offensichtlich „wütend“ wurde, als Rob mir zu nahe kam. Diesen „wütenden“ Jelle gibt es in meinen Erinnerungen überhaupt nicht; ich erinnere mich an keine einzige Situation, wo ich Rob gegenüber verärgert oder wütend war. Trotzdem glaube ich, dass Rob recht hat. Ich habe nämlich in meinem späteren Leben feststellen müssen, dass es diesen wütenden Jelle wohl gab und gibt. Ich habe ihn aber nicht selber wahrgenommen, auch nicht in den Momenten, in denen er offensichtlich da war. Ich habe immer gehandelt, als wenn es ihn nicht gab.

Ich war schon etwa vierzig Jahre alt, als ich sehen und annehmen konnte, dass es diesen „wütenden“ Jelle gab. Noch immer aber ist es so, dass ich nicht gerne von dieser Gestalt höre, vor allem nicht, wenn meine Kinder davon erzählen. Erst vor ein paar Wochen hat einer meiner Kinder mir davon erzählt, wie ich als Vater damals in Konflikten zwischen meinen Kindern oftmals mit Wut eingegriffen habe. „Deine Wut hat dazu geführt, dass wir unsere Konflikte oft nicht ausleben und klären konnten“. Als mein Sohn mir das so sagte, hatte ich das unwiderstehliche Bedürfnis, mich zu verteidigen.

In seinem Essay „Über die Freundschaft[1] spricht Jacques Derrida von „der Bruder, der mich begleitet“. Dieser Bruder „erweist sich als mein Feind“. Derrida: „In nächster Nähe muß er auf mich gewartet haben, in der Vertrautheit meiner eigenen Familie, bei mir zu Hause, im Herzen der Ähnlichkeit und der Affinität, unter meinen Angehörigen, im Innern der verwandtschaftlichen Zugehörigkeit, der oikeiotes, die doch einzig den Freund willkommen heißen und ihm Unterkunft gewähren sollte“.

Aus nächster Nähe kommen also die schlechten-Nachrichten-über-uns, die wir als eine Bedrohung, eine lieblose Zurechtweisung, eine unbegreifliche und schreckliche „Wahrheit“ erleben. Gerade unsere Kinder, Geliebten und Freunde können uns am tiefsten mit „Wahrheiten“ verletzen, weil wir diese „Wahrheiten“ nicht sehen wollen und können (an dieser Stelle scheinen nicht-Wollen und nicht-Können fast identisch zu sein) und nichtsdestotrotz sehen müssen, weil mein Kind, meine Geliebte und meine Freunde mich lieben und ich sie liebe. Nicht hören wollen & können, heißt doch die Liebe nicht leben wollen & können.

Wie verstehe ich diesen „wütenden“ Jelle? Laut Rob Rijksen taucht er auf, wenn er mir „zu nahe“ kommt. Wohin genau kam er zu nahe? Oder anders gesagt: Was in mir wollte da nicht gesehen, angesprochen, berührt werden? Im Nachhinein – ja, leider erst im Nachhinein, das heißt, so viele Jahre später – kann ich diese Frage beantworten. Ich hatte damals eine vage und unreife Vorstellung davon, was Freiheit heißt und habe diese Vorstellung ängstlich geliebt und gelebt. Freiheit bedeutete damals für mich, dass ich tun konnte, was ich tun wollte – und gerade das durfte nicht in Frage gestellt werden. Dass meine Vorstellung von Freiheit unzulänglich war, konnte ich nicht denken und fühlen und wollen.

Heute fühlt es sich fast so an, als ob der Jelle von damals kaum etwas zu tun hat mit dem Jelle von heute. Wie damals der wütende Jelle von mir – ich würde sagen: von meinem Selbst – gespalten war und wie eine eigenständige „Gestalt“ unbemerkt von mir auftrat, erscheint heute der „damalige“ Jelle als getrennt von dem aktuellen Jelle. Etwas in mir sagt relativierend: damals war ich (leider) so, heute bin ich (aber) so – damals war ich jung und unreif, heute bin ich älter und erfahrener. Eine verdoppelte Trennung ist also im Spiel: eine damalige und eine aktuelle.

Die aktuelle und relativierende Trennung führt dazu, dass die Betroffenheit über die Worte meines Freundes (Derrida: „In nächster Nähe muss er auf mich gewartet haben.“) ihre volle verwandelnde Wirkung nicht hat. Die Betroffenheit droht abgelenkt zu werden durch ein relativierendes quasi-Verstehen, ein Verstehen-ohne-Fühlen-und-Wollen, das im Grunde genommen genau so unzulänglich ist. Eine Frage bleibt in der Domäne des relativierenden Verstehens zugedeckt, nämlich diese: Was hat der damalige Jelle mit dem aktuellen Jelle zu tun?

Ich glaube, sagen zu können, dass meine aktuelle Betroffenheit mit drei Tatsachen zu tun hat. Die erste ist, dass ich mich überhaupt nicht an den wütenden Jelle erinnere. Die zweite ist, dass auch nach dreißig Jahren die Freundschaft noch lebt. Die dritte ist, dass ich damals Rob verletzt habe. (Fast hätte ich relativierend geschrieben: dass ich damals Rob verletzt habe, ohne es zu wissen – als ob das weniger schlimm wäre.) Die Betroffenheit erzeugt in mir zwei Bedürfnisse: den damaligen und den heutigen Jelle zusammenzubringen und Rob um Verzeihung zu bitten.

[1] Jacques Derrida, Michel de Montaigne, Über die Freunschaft, Suhrkamp Verlag, 2000

12.10.2007

Wovon spricht die menschliche Gestalt?

Bochum, den 6.10.2007. Wir sitzen mit etwa zehn Leuten in einem Halbkreis und schauen auf eine Frau, die vor einer Wand steht. Hinter der Frau gibt es ein langes Regal mit vielen Büchern. Ich erlaube mir, der Frau für heute einen anderen Namen zu geben. Ich nenne sie Myriam. Wir dürfen auf Myriam schauen, und zwar unverschämt – wir dürfen es, weil sie sich freiwillig gemeldet hat. Sie hat den Mut, sich als „Wahrnehmungs-Objekt“ für unsere Augen vor uns hinzustellen. Heute wollen wir nämlich eine Antwort finden auf die Frage: Wovon spricht die menschliche Gestalt?

Wir schauen und schauen und schauen auf ihre Gestalt und versuchen in Worte zu fassen, was wir sehen. Und wir merken, wie viel wir eigentlich sehen, gleichzeitig aber auch, wie ungeübt wir sind, dafür die richtigen Worte zu finden. Wir merken, dass wir unsere Gedanken sofort in Sprache umsetzen können, unsere Wahrnehmungen aber scheinen über die Worte hinaus wegschweben zu wollen. Um Wahrnehmungen zu beschreiben, muss man richtig tätig werden und aktiv zugreifen. (Genau, man muss ein bisschen wie Marcel Proust oder Ernest Hemingway oder Saul Bellow oder Walter Benjamin werden.)

Aber bevor wir mit dem Schauen begonnen haben, habe ich von Walter Benjamin und seiner “mimetischen Theorie der Sprache“ erzählt. Benjamin meinte, dass die Wahrheit „ihr Haus in der Sprache hat“. Ohne Sprache keine Wahrheit. Dass ein Jude wie Walter Benjamin die Domäne der Wahrheit in der Sprache sucht, darf nicht verwunderlich sein. Laut Genesis hat ja überhaupt alles mit der Sprache angefangen: „Gott sprach: und es wurde Licht“. In seiner Theorie unterscheidet Benjamin vier Sprach-Arten: die göttliche, die adamitische, die urteilende und zuletzt die stumme Sprache. Die erste Art ist schöpferisch, die zweite gibt den Dingen einen ihrem Wesen entsprechenden Namen, die dritte ist unsere Alltags-Sprache (wir urteilen ja leider ständig!) und die vierte Sprache besagt, dass ja alles und alles und alles „sich mitteilt“ – Pflanzen, Landschaften, Tiere, Kunstwerke und auch menschliche Gestalten.

Wovon spricht aber die stumme menschliche Gestalt? Wir sitzen also auf unseren Stühlen in Bochum und schauen und schauen und schauen. Gott-sei-Dank gibt es Alexander Schaumann (er heißt nicht umsonnst Schauman), der ganz rechts auf seinem Stuhl sitzt, und ständig unsere Aufmerksamkeit auf das eine oder das andere lenkt. Er ist unser Virgil. So fragt er beispielsweise: „Wenn wir auf die Aufrichte-Kraft schauen, wo genau ist sie zu sehen?“

Und wir schauen und merken, dass die Aufrichte-Kraft in dieser Frau zumindest zwei unverkennbare Quellen hat: in den Füßen, aber vor allem irgendwo zwischen Brustbereich und Kopfbereich. Es ist, als ob in ihrer Gestalt gerade dort ein Sprung sichtbar wird, andauernd eine aufrichtende nicht-physische Bewegung vollzogen wird, die dazu führt, dass ihr Antlitz frei im Raum erstrahlt. Und wenn wir noch genauer schauen, sehen wir, dass diese andauernde Bewegung – es ist erst ein Zurücknehmen und dann ein nach oben und vorne wieder Freigeben – den Eindruck erzeugt, als ob es hinter ihrem Kopf eine unsichtbare leuchtende Muschel gibt, die sich leise nach vorne beugt und unsere „Anwesenheit“ zurückstrahlt. In dieser unsichtbaren Muschel fühlen wir uns wahrgenommen und bestätigt.

(Ja, ich räume ein, dass diese Sätze schon ein bisschen komisch klingen. Eben, Proust würde seinen Kopf schütteln.)

Und wir denken: ist das bei allen Menschen so? Und wir stellen sofort fest, dass es nicht bei allen Menschen so ist, es ist nur bei dieser Person so. Bei allen Menschen ist es so, dass es eine Aufrichte-Kraft gibt, die uns nicht nur auf die Beine stellt, sondern auch eine wache Perspektive in der Welt verleiht. (Nun ja, gibt es Mensch und Welt? Oder gehen die auseinander hervor?) Höchst individuell scheint aber die Art und Weise zu sein, wie sie in unserer Gestalt wirkt.

Dann schlägt Alexander Schaumann (er ist Maler) vor, dass wir gemeinsam ein Bild malen. Er meint, dass wir unsere Wahrnehmungen dialogisch auf dem Papier zusammentragen können, um zu schauen, ob da etwas Gemeinsames entsteht. Alexander Schaumann breitet ein Stück Papier von drei mal anderthalb Meter auf dem Boden aus und gibt uns lange Pinsel, Wasser und die drei Farben rot, gelb und blau.

„Bitte“, sagt er dann.

Über dasjenige, was in den nächsten anderthalb Stunden geschieht, wäre ein Roman zu schreiben. Wir alle sind an dem Malen beteiligt. Auf dem Papier entsteht eine „Aura“. Die Füße, Beine, Bauch, Arme und Hände, Brustbereich, Schultern und Kopf sind zwar noch klar zu erkennen, aber eingebettet in ein bewegliches und dynamisches Spiel von Farben. Ein Kunstwerk ist es nicht gerade, oder gerade doch? Uns beschäftigt sehr intensiv was da entsteht, wir sind sozusagen jede Minute richtig „dabei“. Wir „untersuchen“ unsere Wahrnehmungen, versuchen zu verstehen, wenn jemand beispielsweise sagt: „Da im Bauchbereich müsste mehr rot hinzugemalt werden, wegen der Wärme die es dort gibt“.

Was hat das so entstandene Bild mit Myriam zu tun? Auch im Nachhinein fasziniert mich unsere „Entdeckung“ der Muschel – obwohl da rein physisch nichts zu sehen ist, meine ich wirklich eine Muschel „gesehen“ zu haben. Vor allem kann ich mein Empfinden, dass ich mich in dieser Muschel wie zurückgestrahlt und bestätigt erlebe, nicht zur Seite schieben. Und weil ich Myriam schon vorher kannte, kommt noch ein Empfinden dazu: Ich habe das Gefühl, dass ich ihre „Muschel“ schon vorher gespürt hatte. Die Übung scheint also etwas ins Bewusstsein zu heben, was vorher schon unbewusst vorhanden war und erlebt wurde.

(Am 27. Oktober geht es weiter. Wir werden dann nicht malen, sondern „dichten“. Alle sind herzlich willkommen. Jede Veranstaltung steht für sich. Info: www.firmafueranthroposophie.de)
Mit dank an Birgitt Kähler

04.10.2007

Die Freundschaft als Baustein einer Kultur des Herzens (2)

„Rob und ich sind damals ´aus einander hervorgegangen`. Er hat mich mitgestaltet, und ich glaube auch umgekehrt, dass ich ihn mitgestaltet habe. Oder anders gesagt: Wir haben in einander entdeckt, was im Leben zu tun ist. Oder noch anders: Wir haben einander gegenseitig bestimmt.“ Diese Sätze habe ich letzte Woche in meinem Blog über meinen alten Freund Rob Rijksen geschrieben.

Es ging mir dabei um die Formulierung „aus einander hervorgehen“. Ich lebe schon eine Weile mit dieser treffenden Formulierung, die ich in einem Buch von Professorin Ursula Stenger (Kunstakademie Düsseldorf) gefunden habe. Sie schreibt in ihrem Buch über schöpferische Prozesse: „Mensch und Welt gibt es nicht, sie gehen jeweils als ein Prozessgeschehen auseinander hervor. In einem wechselseitig sich steigernden Prozess entsteht neues; es entsteht mehr und anderes als in den Ausgangsbedingungen ersichtlich sein konnte“.[1] Für das Thema Freundschaft scheinen mir diese Sätze brennend relevant zu sein.

Aber bevor ich zu dieser wunderbaren Formulierung etwas sage, erst etwas anderes. Mein Freund Rob Rijksen und ich sind mittlerweile in einen Austausch geraten über die Frage, warum wir damals vor dreißig Jahren auseinander gegangen sind. Vielleicht berichte ich in einem nächsten Blog davon. Für heute genügt es zu sagen, dass offensichtlich die freundschaftliche Beziehung noch immer existiert, und in gewissem Sinne all die dreißig Jahre existiert hat. Auch in der radikalen Zweiheit-bis-zum-Vergessen bleibt die Verbindung bestehen.

Was kann Ursula Stenger mit ihrer Formulierung meinen? Sie schreibt: „Mensch und Welt gibt es nicht“, und dann direkt anschließend: „Sie gehen jeweils als ein Prozessgeschehen auseinander hervor“. Mir scheinen diese Sätze die Drehscheibe ihres Buches zu bilden, oder anders gesagt, das „Urphänomen“ ihres Buches zu beschreiben. Sie greift dabei in ihrem Buch auf Nietzsche zurück und zitiert ihn: „(...) endlich erscheint uns der Horizont wieder frei (...), endlich dürfen unsre Schiffe wieder auslaufen, auf jeder Gefahr hin auslaufen, das Meer, unser Meer liegt wieder offen da, (...)“[2]. Es sind also nicht die Götter, die Mensch und Welt bestimmen, es sind Mensch und Welt die einander – das heißt: auch die Götter – bestimmen. Mit Nietzsche wird die „Bestimmtheit“ der Vergangenheit abgehakt.

Erst einmal müssen wir feststellen, dass die beiden Sätze von Ursula Stenger ein paar richtig „große“ Worte/Begriffe beinhalten, nämlich Mensch, Welt und Prozess. Zwischen diesen drei Begriffen „spielt“ der vierte – und neue – Begriff „aus-einander-hervorgehen“. Der neue Begriff bewegt sich in ihren Sätzen auf einem Flussbett (Prozessgeschehen) zwischen zwei Felsen (Mensch und Welt – Stenger meint „Ich“ und Welt). Der Begriff Prozess ist zu verstehen als „etwas“ zwischen Mensch und Welt; dieses „Etwas“ steigert sich dann in der Formulierung: „aus-einander-hervorgehen“.

Erst die „Felsen“ Mensch und Welt. Laut Stenger gibt es die nicht. Allein das Paradox in dem Gefüge der Begriffe (es gibt die Felsen nicht, gehen trotzdem „aus-einander-hervor“) macht deutlich, dass Stenger hier versucht, das offensichtlich Unsagbare sagbar zu machen. Sie meint nicht, dass es nichts gibt. Sie meint auch nicht, dass es den Menschen nicht gibt; und auch nicht, dass es die Welt nicht gibt. Sie meint offensichtlich: wenn es um die Konstitution von Mensch und Welt geht, soll man nicht einseitig von dem Menschen und auch nicht einseitig von der Welt ausgehen. Sie versucht also die klassische Kluft zwischen „Subjekt“ und „Objekt“ zu überwinden.

Und das gelingt Stenger nur dadurch, indem sie in ihrer Formulierung ein Paradox zulässt. Das Paradox lässt sich mit einer Frage verdeutlichen: Wie können zwei Sachen, die es nicht gibt, aus einander hervorgehen? Rein gedanklich ist das nicht möglich. Es muss in Stengers Denken also etwas geben, was begrifflich über Mensch und Welt hinausgeht, aber nicht in Worte gefasst wird. (Mit Martin Heidegger hätte Ursula Stenger an dieser Stelle vielleicht von „Eigentlichkeit“ sprechen können. Sie macht das aber nicht, weil sie mit dem Philosoph Heinrich Rombach meint, dass die „Eigentlichkeit“ im Sinne von Heidegger nur ein Horizont von vielen ist).

Um an dieser Stelle weiter zu denken, muss ein Sprung gemacht werden. Anders gesagt: Man muss auf eine „andere“ Ebene zugehen und ein Bedeutungsfeld oder Horizont erörtern, was in dem Paradox eingeschlossen bleibt. Klassisch gibt es unterschiedliche Namen für dieses Bedeutungsfeld: die Metaphysik, die Spiritualität oder eben die Esoterik. Auf dieser anderen Ebene macht man sich zum Beispiel über Mensch und Welt Gedanken, die nicht an physische oder auch phänomenologische – so wie Stenger offensichtlich die Phänomenologie versteht – Erscheinungen festgemacht werden können. Diesen Sprung will Ursula Stenger aber nicht machen, weil sie mit Nietzsche die „Götter“ abgehakt hat.

Und so beinhaltet ihr wunderbarer Satz noch ein zweites Paradox. Ihr (wissenschaftliches) Denken führt zu einer Stelle, die um einen Sprung fragt, der aber aus bestimmten (wissenschaftlichen?) Gründen nicht gemacht werden darf. Ihr Satz wirkt also wie eine geschlossene Tür, die aber gleichzeitig klar macht, dass es dahinter einen Raum gibt. So ist es ja eben mit Türen: sie machen uns aufmerksam auf geschlossene Räumlichkeiten. Es würde mich interessieren, von Ursula Stenger zu erfahren, ob sie sich für sich selber über diesen geschlossenen Raum Gedanken macht. Und welche Gedanken sind es dann? Oder meint sie, dass es den Raum hinter der Tür nicht gibt? Wenn das der Fall wäre, müsste sie erklären, was eigentlich ein Paradox ausmacht.

In Freundschaften gehen die Freunde aus einander hervor. Trotzdem gibt es Rob und trotzdem gibt es Jelle. Allein schon die einfache Tatsache, dass Robs Körper und mein Körper von Anfang an getrennte Sachen waren und auch immer immer bleiben, besagt, dass Rob im Sinne von Emmanuel Lévinas für mich ein „Du“ ist, ein „Gegenüber“, ein „Anderer“. An dieser Stelle ist der Unterschied zwischen Subjekt und Ich (oder Selbst) hilfreich – seht dazu meine Blogs vom 15.08 und 20.8. Mir scheint es so zu sein: Von Subjekten kann man sagen, dass es sie anfänglich nicht gab, von Ichen, dass es sie gibt. Ohne Iche gibt es keine Subjekte.
(Mit dank an Birgitt Kähler)

[1] Ursula Stenger, Schöpferische Prozesse. Phänomenologisch-anthropologische Analyse zur Konstitution von Ich und Welt, Juventa Verlag, 2002. Seite 19
[2] ebd., Seite 57