03.12.2007

Der Beamte und Maler Janssen aus 1850

Frau Janssen führt uns über die breiten Treppen in ihr vornehmes Haus in Aachen. Unsere Stimmen klingen ein wenig hohl. Weil wir mit einer ganzen Truppe aus dem Kinderhaus „Kahlgrachtmühle“ zu ihr gefahren sind, schaffen wir es aber ohne Mühe das große Treppenhaus mit diskontinuierlichem Leben zu füllen. Frau Janssen bleibt ruhig. Das Haus bleibt auch ruhig. Die Statuen, die Möbel und die Teppiche ruhen in einer Zeit, die schon längst vorbei ist. Und wenn Björn und Marina aus Neugier verbotene Türen ausprobieren wollen, greift Frau Janssen ruhig ein. In diesem Haus herrscht noch feine Aristokratie.

Das Ziel unseres Besuches steht improvisorisch aufgestellt auf einem uralten Sofa, das wahrscheinlich sonst nie benutzt wird. Es betrifft ein Gemälde nach holländischer Art, hundertfünfzig Jahre alt. Frau Janssen heißt ja Janssen, weil ihre Familie aus der holländischen „Zelfkant“ stammt. Frau Janssen ist die Urenkelin eines Aachener Beamten, eines Herrn Janssen, der damals „nicht viel zu tun hatte und deswegen Zeit übrig hatte um zu malen“. Etwa 1850 ist der Maler auch mal an der Kahlgrachtmühle vorbei gekommen, hat sich dort hingestellt und sich über die Landschaft gefreut, die sich über die Dächer der Mühle in der Richtung nach Aachen offen und frei entfaltet.

Das Gemälde ist entzückend. Der Maler Janssen muss ein frischer, fantasievoller und liebender Beamte gewesen sein. Einerseits öffnet das Bild einen weiten Raum. Es übermittelt das Gefühl, dass die ganze Welt bereitwillig zu deinen Füßen liegt. Die Landschaft ist da, um herzlich betreten zu werden; die Welt ist da, um die Freiheit zu genießen. Andererseits zeigt das Bild wunderbare Details, die man leicht übersieht (wenn man sich, anders als die Janssens, die Zeit und die Ruhe nicht nimmt). Es gibt meditierende Störche, einen Mann, der gehetzt einen Esel forttreibt, Bauern, die entspannt Äpfel pflücken, eine Frau, die mit einem Kind unterwegs ist, die Spiegelung der Häuser in einem Teich, Rauch, der kerzengerade aus einem Schornstein steigt... Der Maler Janssen hat die Weite der Freiheit und die einzigartigen Einzelheiten des Lebens geliebt. Vor allem trifft mich aber, dass die Zeit in der Landschaft wie ausgeschaltet scheint – genau so, wie in dem vornehmen Treppenhaus und wie in der gehaltenen Gebärde der Urenkelin. Die Ruhe im Gemälde ist die gleiche Ruhe wie im Haus. Frau Janssen bewahrt noch immer die Ruhe, die ihr Urgroßvater innehatte.

Der Beamte und Maler Janssen aus dem neunzehnten Jahrhundert öffnet meine Augen für unsere Gegenwart. Mit seinen Augen schaue ich bei der Kahlgrachtmühle-von-heute herum und stelle fest: es gibt vieles, dass es damals noch nicht gab, und es gab vieles, dass es heute nicht mehr gibt. Nein, Störche gibt es nicht mehr. Nein, den Mühlenteich gibt es nicht mehr. Nein, die wunderbare Öffnung in der Landschaft nach Aachen gibt es nicht mehr.

Gibt es die Freiheit noch? Klar ist, dass die heutige Autobahn die weite und entzückende und zur Freiheit verführende Sicht auf die Landschaft weggenommen hat. Anders als damals liegt die Mühle heute in einer Ecke, fast verborgen in einer Achse zwischen Autobahn und künstlichen Hügeln von Schutt aus dem Krieg. Seit hundertfünfzig Jahren ist ja unheimlich viel passiert – und man merkt es! Mir scheint es, als ob das Leben dichter und dringender geworden ist.

Als wir aber versuchen die genaue Stelle zu finden, wo der Maler Janssen damals gestanden und auf die Mühle geschaut hat, sagt Martin Soltau: „Die Apfelbäume stehen noch genau so am Abhang wie damals“. Und so ist es. Ich schaue und sehe, dass die Obstbäume eine Art Sprung machen, als ob sie sich mit einem Ruck halb drehen, in den freien Himmel hoch „springen“ und sich dort an Licht und Luft freigeben. Gerade dieses Springen und sich in den freien Himmel Preisgeben, hat der Maler vor hundertfünfzig Jahren gesehen. Er hat es aber nicht nur gesehen, sondern auch in sich selber nachvollzogen, so dass er es malen konnte.

Auf einmal meine ich das Springen und das sich nach oben in Luft und Licht Freigeben-wollen, überall in der Landschaft zu sehen. Die Obstbäume präsentieren irgendwie ein Urbild für die Landschaft um die Kahlgrachtmühle herum. (Eben der kerzengerade Rauch aus dem Schornstein scheint mir auf einmal auch an dem freigebenden Springen beteiligt zu sein.) Und hundertfünfzig Jahre später kann ich es bestätigen Dieses sprunghaft sich Freigeben nach oben, in Luft und Licht hinein, ist gerade, was ständig mit uns in die Mühle passiert. Der Unterschied zu der damaligen Zeit ist nur, das die Voraussetzungen ein wenig bedrängter geworden sind. Die Sprünge sind aber dementsprechend schöner geworden.
(Mit dank an Ruthild Soltau)

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Ga jij vandaag nog aandacht besteden aan de tiende sterfdag van Owen Barfield? Leek me wel iets voor jou (zie ook: http://uribi.blogspot.com/).
Michel Gastkemper