Aufbruch mit Scham. Im Zug nach Gummersbach
Mal wieder aufbrechen? Nach
fünfundvierzig Jahren? Mich mal wieder in den Fluss der Zeit
stürzen? Mich von Melodien leiten lassen? Mal wieder über eine
Schwelle gehen? Ohne Scham?
Diesmal nicht ohne Scham.
Der Mann ist noch jung. Er ist
unterwegs, im Zug, von Köln nach Gummersbach, lehnt sich bequem
zurück, liest ein Buch das ich kenne, das ich durch und durch kenne:
„Unterwegs“ von Jack Kerouac, „On the road“ heißt es bei
mir, ich habe es vor einer Ewigkeit gelesen, weil, ja, damals war ich
unterwegs, ich dachte: gegen den Strom, heute ist mit klar: es war
mit dem Strom.
Heimlich beobachte ich den jungen
Mann. Er liest über eine Vergangenheit, die nicht seine ist, warum
sollte er sonst Kerouac lesen? Mit dem heutigen Tag hat Kerouac nur
wenig zu tun, nicht gar nichts, weil eine Vergangenheit nur dann eine
Vergangenheit ist, wenn sie die Gegenwart berührt; nur im Nu, im
Jetzt gibt es so etwas Irriges wie Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft – ich meine: im Hier und Jetzt steigert sich die Gegenwart.
Behaupten, dass Kerouac brennend aktuell wäre, käme jedoch der
Aussage gleich, dass sich im Zug nach Gummersbach etwas bewegt.
Er liest weiter, ein Drittel des
Buches hat er hinter sich. Wie war es auch wieder mit Kerouac? Er war
ein Beat. Er wollte mit dem Herzschlag des Lebens leben, das heißt:
immer im Bus, nach Frisco, nach Denver, nach NYC. Die Details sind
mir nicht mehr so präsent, ich meine jedoch, er brauchte aus Mexiko
Papiere, um sich von seiner Frau zu trennen, so etwas... Die Ehe war
nicht in Ordnung, zu wenig Beat... Auch Allen Ginsberg kam in dem
Buch vor, hieß aber anders, weiß nicht mehr wie; er redete
allerdings über das Leben wie Karl Marx über das Kapital schrieb:
ziemlich überzeugend.
Aufbruch also, weg vom Hier und Jetzt
zu einem anderen Hier und Jetzt. Den Gesundheitsterror gab es damals
noch nicht; den Gedanken, dass das Höchste im Leben die Abwesenheit
von Krankheiten sei kursierte damals nicht, schlief noch wie ein
Jagdhund im Korb. Überall wurde immer geraucht, getrunken,
gekifft... Und gefickt... Die Poesie der Beats war irgendwie hart,
irgendwie zart, irgendwie dringend, irgendwie grenzenlos... Sie
sprach von Aufbruch ohne Scham...
Hit the road, Jack... Der Bummelzug
nach Gummersbach kommt an Dierenhausen vorbei, hält ein paar
Minuten, niemand steigt aus, niemand steigt ein, der junge Mann liest
weiter, verschiebt seinen Po manchmal ein bisschen, die Sitze sind ja
auch steif und unbequem. Aber er braucht sich nicht wirklich zu
bewegen, Kerouac hat es bereits getan.
Ich schließe meine Augen und bewege
mich. Und irgendwo spüre ich eine Sehnsucht nach Aufbruch, dieses
Mal jedoch nach einem anderen, nicht einem in Bussen oder Zügen (die
sind übrigens längst rauchfrei), nicht von dringenden Texten
begleitet (die sind längst veröffentlicht; was gibt es noch zu
schreiben?), nicht um Scheidungspapiere aufzutreiben (die Trennung
hat längst stattgefunden). Und vor allem: nicht ohne Scham.
Ohne Scham komme ich nicht zu mir.
1 Kommentar:
.....was gibt es noch zu schreiben?) Ja genau solche Geschichten sind längst nicht alle geschrieben.
Bin froh wieder mal so eine gelsen zu haben: Danke Herzlichst Andrea
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