Lebensbuchführung. Über die Schönheit von Texten
Texte sind sonderbare Erscheinungen. Es
ist noch nicht so lange her, dass sie erfunden wurden, die ältesten
Texte sind etwa sechstausend Jahre alt. Die Sumerer haben damals in
Uruk damit begonnen, die bereits mündlich existierenden
Bezeichnungen (die „Namen“) von Gegenständen und Wesen mit
grafischen Symbolen zu verbinden, und so wurde es möglich, eine Art
Buchführung des Lebens zu handhaben. Dieser Akt des Verbindens wurde
in den Tempeln gelehrt – was wir heute „schreiben“ nennen, war
damals eine heilige Angelegenheit.
Die Heiligkeit des Schreibens beruht
auf der Tatsache, dass Texte gerade unheilig sind. In Texten wird die
göttliche oder geistige oder seelische Ordnung der Dinge auf eine
Ebene gebracht, wo sie als göttliche oder geistige oder seelische
Wirkung nicht überleben kann. Texte verzerren per definitionem, um
in einem Text etwas Spezifisches hervorzuheben, muss ganz viel
missachtet, die Fülle des Lebens verstellt werden.
Große Dichter und Schriftsteller –
die Meister der Texte – wussten das auch. Beispielsweise Rainer
Maria Rilke, Virginia Woolf und Dylan Thomas waren sich bewusst, dass
ihre Texte prinzipiell daneben waren. Mit dem Akt des Schreibens geht
– auch wenn man es nicht fühlen will – eine Scham einher. Die
Schulung in den alten Tempeln war deswegen eine moralische, und das
Ziel: lernen sich der Scham zu stellen. In modernen Zeiten haben
sensitive Intellektualität (Rilke, Woolf) oder Alkohol (Thomas) oder
einfach Ignoranz diese Aufgabe übernommen.
Texte sind paradoxe Erscheinungen. Der
amerikanische Schriftsteller und Nobelpreisträger Saul Bellow
erzählte mir vor Jahren, dass er nach der Veröffentlichung eines
neuen Romans immer in eine Krise gelangte. Das frisch gedruckte Buch
spiegelte ihm gerade das, was er nicht geschafft hatte. Was
literarisch geleistet wird, so meinte er, tut im Nachhinein immer
weh, und gerade darin liegt die Wirkung der Schönheit.
Um etwas zu sagen, muss man schweigen,
was nicht heißt, dass man schweigen sollte – ohne Aussagen gibt es
kein Schweigen. Texte die alles sagen wollen, sind keine Texte, sie
sagen nichts. Worte bedeuten immer mehr, man könnte auch sagen:
immer weniger, als in einer konkreten Aussage bemerkbar ist. Wenn ich
„ja“ sage, evoziere ich gewollt oder ungewollt die Möglichkeit
„nein“ zu sagen.
6 Kommentare:
Jelle,schöne Betrachtung
dazu, in meinem Reich,
vor mich hin gemurmelt:
Texte sind Erscheinungen
des Paradoxen
jede Aussage setzt ihr Gegenteil
heiß setzt kalt, hell setzt dunkel,
wild setzt sanft ...
wenn wir für heilig "ewig" setzen und "zugleich endlich"
können wir statt heilig
"paradox" setzen und physis "und zugleich" psyche
Mundanomaniac im poetischen
Überblick über die Wörterseen
Lieber Jelle,
"die „Namen“) von Gegenständen und Wesen mit grafischen Symbolen zu verbinden, und so wurde es möglich, eine Art Buchführung des Lebens zu handhaben. Dieser Akt des Verbindens wurde in den Tempeln gelehrt – was wir heute „schreiben“ nennen, war damals eine heilige Angelegenheit."
Jelle,
Du kennst ja, vielleicht ein bisschen, meinen Blog...
Motto:
Und Gott sprach: es werden Lichter an der Feste des Himmels, die da scheiden Tag und Nacht und geben Zeichen, Zeiten, Tage und Jahre. 1. Gen. 14
http://mundanestagebuch.blogspot.de/2012/07/2.html
Irgend eine Woche, wie ich sie zu beschreiben versuche - als Sortierhilfe der himmlischen für die Irdischen für die Ewigkeit
in den irdischen Angelegenheiten -
so, wie ich es versuche, wöchentlich,
gehört das für Dich zu diesem heiligen Schreiben? Oder als was siehst Du das?
fragt der nicht allzu heilige Mundanomaniac
"Die Schulung in den alten Tempeln war deswegen eine moralische, und das Ziel: lernen sich der Scham zu stellen."
Danke dafür! Ja - manchmal beschämt es mich - das zu "berichten", was ich so wahrnehme. Und ich halte mich, noch, allzu oft zurück - aus angelernter Scham.
Zwei fundamentale Geisseln - Scham und Schuld.
Zweimal kompletter Unsinn.
Dennoch - braucht es Zeit, sich weiter davon frei zu machen. Braucht es?
Sati
Liebe Mundanomaniac, ich melde mich noch... Herzlich, Jelle
Wenn wir einen Text lesen, schauen wir vielleicht zu wenig auf den, der ihn schreibt, auf die formulierende Instanz, die Bilder in Texte wandelt. Ein jeder Text müsste zurückverwandelt werden so, dass man ihn wieder sehen kann in seinem Urzustand. Denn in der Wirklichkeit gibt es ja gar keine Texte!
Lieber Jelle van der Meulen,
ich lese manchmal auf ihren Blog und trinke aus Ihrem frischen, heilsamen Text-Quellen. Jetzt wollte ich Sie nur darauf aufmerksam machen, dass ich für einen Text auf meinem Blog, die Inspiration bei Ihnen fand. Zuerst schrieb ich ihn in meiner Muttersprache Norwegisch, aber er wird auch ins Deutsche und Englische bald gebracht. Ich hoffe, dass ich einige urbildliche Sätze von Ihnen so übersetzen und zitieren darf:
http://gamamila.blogspot.de/2012/10/pa-vei-mot-ukjent-graffiti.html
Herzlich
Jostein Sæther
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