13.08.2011

Samuel ist unterwegs (7). Ein naiver Schmetterling

Die Liebesfähigkeiten des Gottes meines Vaters waren beschränkt. Er war ein kleiner Gott, der auf der trockenen Ecke seines Universums ins Exil geraten war und deswegen meinte, sich ständig rechtfertigen zu müssen. Seine großen Taten lagen in der Vergangenheit: Die Schöpfung (hatte Er in sechs Tagen hingekriegt), die sprachliche Nachschöpfung namens Bibel (dafür hatte Er allerdings Generationen von Menschen gebraucht, die nicht verstanden, was Er geschrieben haben wollte), letztendlich der Tod am Kreuz, die Höllenfahrt und die Auferstehung im Grab (geschah in drei Tagen).

Der Gott meines Vaters war immer damit beschäftigt, den Menschen seine Vergangenheit zu erklären. Als Kind bin ich Ihm nie begegnet, ich vermutete damals, dass er einfach zu viel Zeit benötigte, um seine Archive ständig anzupassen. Und als ich meinen Vater fragte, warum unser Gott so viele Namen hätte – Gott, Herr, Messias, Jesus, Christus – meinte er: „Um solche Fragen zu beantworten, muss man Pfarrer werden. Möchtest du das?“

Ich mochte das nicht. (Es ist wohl wahr, hätte ich diesen Wunsch gehabt und wäre ihm nachgegangen: mein Leben wäre glänzend verlaufen. Ich hätte jegliche mögliche und unmögliche Unterstützung seitens meines Vaters gekriegt, er wäre mit mir gestorben, in die Hölle gefahren, strahlend auferstanden. Als deutlich wurde, ich war heftig dreizehn, dass ich mit meinem Leben eigentlich gar nichts anfangen wollte, höchstens Gedichte schreiben und Jazzgitarre spielen, wendete mein Vater sich von mir ab. „Gott kann dich nicht gebrauchen“, sagte er. Und Jahre später meinte er: „Du bist leider ein Künstler.)

Die Welt meines Vaters war bis in die kleinsten Details bekannt, überschaubar, bestimmt... Seine Geliebte, die meine Mutter war, flatterte wie ein naiver Schmetterling über alle Zäune hinweg, sie meinte nicht einmal, dass es die Beschränkungen nicht gäbe, sondern sie flatterte einfach ohne irgendetwas zu bemerken umher. Sie wurde jedoch hundert Mal, tausend Mal, zehntausend Mal eingefangen, und am Ende waren ihre dünnhäutigen Flügel kaputt. Sie saß in ihrem Wintergarten, neben ihrem blühenden Oleander, trank Tee und fragte: „Sammy, warum bin ich so müde?“ Und ich sagte: „Weil Du neun Kinder zur Welt gebracht hast“.

Meine Mutter... Ja, meine Mutter... In Arnhem war sie noch ein Schmetterling, ein duftig-farbig-unschuldiger Du-willst-mich-haben-kannst-mich-nicht-haben. Wenn ich abends stundenlang auf der Treppe saß und auf sie wartete – ich sehnte mich immer wieder nach Versöhnung – kam sie meistens nicht, und ich wusste: „Sie ist längst nicht mehr bei uns, sie hat sich in einen Nachtschmetterling verwandelt, ist in Mondlandschaften unterwegs, die ich nicht kennen darf, die mir verschlossen sind.“

Meine Mutter... Wir waren in Dieren, einer Kleinstadt bei Arnhem, und warteten am Bahnhof auf den Bus. Sie war wohl wieder schwanger. Sie stand neben mir, sagte: „Sammy, ich bin wieder so müde“, und sank zur Boden, ihre Flügel konnten sie nicht mehr tragen. Dort lag sie ausgestreckt, bewegungslos, wie tot – ich meinte tatsächlich, sie wäre tot – und mit meinem Adlerblick schaute ich auf ihren Körper weit da unten und stellte fest: „Irgendwie gehört sie nicht zu mir, weil sie immer wieder auf einmal verschwindet“.

Es war nicht schwierig meine fremde Mutter zu lieben. Es war auch gar nicht schwierig, ihr zu verzeihen. Irgendwie war sie bereits von Anfang an meine Tochter, ich meine: Die Verantwortung lag bei mir, nicht weil sie das von mir verlangte, sondern weil ich es so wollte. Sie konnte nichts dafür, dass sie ohne je gefragt worden zu sein, in einer Verschwörung eingebunden war, die eher meine Verschwörung war. Schmetterlinge und Verschwörungen gehören nicht zusammen. (Schmetterlinge wollen keine Geschichte schreiben.)

Vor fünf Jahren ist sie gestorben. Genau am Tag ihrer Beerdigung (in Utrecht) fing mein Herz an, sich zu wehren. Es konnte, wollte, durfte nicht mehr. Die medizinische Sprache sagt es so: Ein Herzinfarkt bahnte sich an, der Dichter in mir meint: Ich trauerte dem Schmetterling nach, trauerte allem nach, was nicht anders geht, als sich vergeblich wie ein Schmetterling zu verhalten.

1 Kommentar:

Michael Heinen-Anders hat gesagt…

Lieber Jelle,

ein Herzinfarkt aus Erschütterung über den Tod einer nahen Angehörigen dürfte gar nicht mal so selten sein.
Wärst Du damals Pfarrer geworden, so hättest Du Rudolf Steiner wohl niemals schätzen gelernt, denn eine breite, hohe Mauer aus Dogmatik und Vorurteilen schützt die meisten Theologen vor derartigen Vorlieben.
Sei froh, dass Du ein Künstler geworden bist. Zwar kein weltbekannter Joseph Beuys, an dessen Mantra "Jeder Mensch ein Künstler", sich heute noch Kunstprofessoren und Publizisten nahezu aller Couleur sich - fast ergebnislos - abarbeiten, aber immerhin ein hinreichend bekannter Schriftsteller mit zwei Heimatorten, einer Wahlheimat und einer ein wenig entfernten, aber durchaus "nahe liegenden" Geburtsstätte.

Herzlich,

Michael Heinen-Anders