27.10.2008

Zwei Zerrbilder. Über Rudolf Steiner als Esoteriker (1)

Als Philosoph & Künstler & Aktivist & Lehrer & Pädagoge wird Rudolf Steiner in der heutigen Zeit kaum noch wahrgenommen. Der Grund dafür liegt in der Tatsache, dass er auch Esoteriker war. Seine esoterischen Betrachtungen haben dazu geführt, dass zwei Bilder von seiner Person entstanden sind, die eine freie Sicht auf seine Bedeutung verzerren. Die beiden Zerrbilder sind außerordentlich kräftig wirksam und machen den Diskurs über Rudolf Steiner zu einem Schützengrabenkrieg.  

Das erste Zerrbild macht aus Rudolf Steiner einen innig geliebten Lehrer, der dummerweise von normalen Menschen nicht verstanden wird. Dieser Rudolf Steiner wird in kleinen Kreisen ein „Menschheitslehrer“, ein „Eingeweihter“, ja der „größte Eingeweihte des Abendlandes“ genannt. Die Weisheit & der Tiefsinn & der Weitblick dieser Gestalt ragt über alles hinaus – eigentlich braucht man nur seine Bücher und Vorträge zu lesen, um am Feuer-der-Wahrheit sitzen zu dürfen.

Die Beziehung zu dieser Gestalt ist immer intim. Dieser Rudolf Steiner kennt sich in allen Details meines Lebens aus, hält alle biographischen Einzelheiten meines Werdegangs für wichtig und wünscht – auch wenn er schon 1925 gestorben ist – in Bezug auf das was mir widerfährt, auf dem Laufenden zu sein. Auch wenn die Verehrung & die Furcht ihm gegenüber maßlos groß sind, wird die Beziehung zu ihm durch Nähe bestimmt. Nein, ein Freund ist er nicht – eher ein Vater.

Dieser Rudolf Steiner ist makellos. Natürlich hat er ein paar irdische Fehler gemacht. Denn auch er hat eine Entwicklung durchgemacht – und weil er selber gesagt hat, dass Fehler machen auch zur Entwicklung gehört, darf er seine gemacht haben. Seine Fehler sind aber nicht relevant, sagen eigentlich gar nichts über ihn aus, weil er sie glänzend überwunden zu haben scheint. Die Frage ob er Fehler gemacht hat, die uns vielleicht dringend beschäftigen müssten, stellt sich nicht.

Dieser Rudolf Steiner hat sich irgendwann in seinem Lebensgang von der Geschichte befreit. Er ist „Ereignis-für-alle-Zeitalter“ geworden. An ihm haften keine durch seine Zeit bestimmten Gewohnheiten & Urteile & Intentionen. Er ist so geworden, wie die Kirchen oft gerne Jesus Christus vorstellen: eine Gestalt, die im Alleingang wie ein göttliches Brecheisen der ganzen Geschichte der Menschheit die entscheidende Richtung gab. Die Kategorien Zeit & Raum haben auf einmal keine Relevanz mehr.

Und sehr kurios: dieser Rudolf Steiner hatte eigentlich keine Freunde & Geliebten. Er hatte nur „Schüler“, das heißt „Anhänger“, die ihn entweder „verstanden“ haben - oder eben gerade nicht. Interessant an dieser Stelle ist die Tatsache, dass nicht wenige Anthroposophen sich auch heute noch über die damaligen „Schüler“ definieren. So gibt es Anthroposophen, die meinen, dass nur Ita Wegman, oder nur Marie Steiner, oder nur Albert Steffen, oder nur Walter Johannes Stein den Meister „richtig verstanden“ haben. (Für die „Anhänger“ von Ita Wegman zum Beispiel ist Albert Steffen völlig verkehrt und daneben, er hat gar nichts verstanden…)

Weil Rudolf Steiner Esoteriker war, wird mit seinen Erkenntnissen & Vorschlägen & Aktionen im Nachhinein oft so umgegangen, dass sie als unangreifbar dargestellt werden. Wenn etwas nicht geklappt hat (und, einiges in Rudolf Steiners Leben hat nicht geklappt!), wird zum Beispiel gesagt: die Menschen haben es nicht verstanden, oder: die Zeit war noch nicht reif. Mir scheint es aber eher so zu sein, dass der Wunsch, seine Erkenntnisse & Vorschläge & Aktionen bis zur heutigen Zeit in der Schwebe zu halten, auf einer Verlegenheit basiert.

Und die Verlegenheit ist diese: Wenn Rudolf Steiner von den „höheren“ Erkenntnisfähigkeiten spricht, von Imagination, Inspiration und Intuition, ist er Esoteriker. Aus seiner Sicht ist ein Esoteriker ein Geistesforscher, der methodisch mit diesen Fähigkeiten arbeitet. Zu dem Zerrbild gehört aber auch die Vorstellung, dass Rudolf Steiner an dieser Stelle nicht zu toppen ist. Niemand kann das, was er konnte. Und deswegen akzeptieren die Inhaber dieses Zerrbildes keine Einwände, keine alternativen Vorschläge, keine neuen Sichtweisen, ja, keinen Diskurs.

Das erste Zerrbild beinhaltet einen Widerspruch. Einerseits gibt es die Liebe für den Meister. Diese Liebe erzeugt eine Nähe, die als sehr persönlich empfunden wird. Weil ich im Grunde genommen derjenige bin, der den-Meister-als-Meister anerkennt, verstehe ich mich als „ebenbürtig“; die Aussage, das Rudolf Steiner „ein großer Eingeweihter“ ist, kommt ja von mir. Als Liebeserklärung kann ich diese Aussage natürlich vertreten, so wie Marie mit Recht zu ihrem Hans sagt: du bist der schönste Mann der Welt.

Als Geistesforscher kann ich es andererseits aber nicht, weil mir die esoterischen Erkenntnisfähigkeiten dazu fehlen. Ich bin ja – so sagt das Zerrbild – gar nicht im Stande zu beurteilen, ob Rudolf Steiner der größte Eingeweihte des Abendlandes ist. Ich vermische Liebe also mit „Wahrheit“. 

Die Verlegenheit liegt darin, dass dieser Widerspruch zu einer gewissen Zurückhaltung meiner Äußerungen führt. Nur dadurch, dass ich Steiners Wirken in der Schwebe halte, bleibt der Widerspruch zugedeckt. Das Zerrbild erzeugt eine „sektiererische“ Haltung: ich verleihe meiner Liebe die (wackelige) Gestalt der Wahrheit. Anders gesagt: ich beharre auf Wahrheiten, die ich mir eigentlich nicht zutraue.

(Nächstes Mal über ein zweites Zerrbild.)

Mit Dank an Sophie Pannitschka für die Korrektur 

3 Kommentare:

Sebastian Gronbach hat gesagt…

"...ich beharre auf Wahrheiten, die ich mir eigentlich nicht zutraue."

:-)))) Geilo!

Herzlich
Sebastian

Anonym hat gesagt…

Was hindert uns daran,ein mit entsprechenden Gefühlen durchwärmtes Denken zu praktizieren?
Ist es doch (nach meinem Verständnis) eine die Dinge fortführende Tätigkeit;
"eine inwendige Wandlung der erkannten Zeiterscheinung"
In meinem inneren Anschauen ist die Verehrung& Würdigung der Werke einzelner Persönlichkeiten (A.Steffen, I.Wegman, W. J. Stein usw) völlig gleichberechtigt und damit stoppe ich diese unseligen Stellungnahmen, wer nun an erster Stelle an der Seite des Meisters etwas verstanden hat oder nicht!
Laßt uns doch die aktive Neutralität endlich wirklich zum Himmel senden, damit helfen wir mit, die Dinge im Nachhinein zu verwandeln!
(Damit ist bitte nicht zu verwechseln eine politische Stellungnahmen an der richtigen Stelle mit Kühle ebenso einzunehmen!))
Wir sind verantwortlich für unsere eigene
seelische Qualitätssicherung.
sincerly Maribe

Jelle van der Meulen hat gesagt…

Liebe Maribe, gute Frage: was hindert uns daran, ein durchwärmtes Denken zu praktizieren? Wenn man richtig schaut: gar nichts. Schön gesagt: die eigene seelische Qualitätssicherung... So gibt man leeren Begriffe eine richtige Inhalt. Seelische Qualitätssicherung: an aspect of the care of the Self (Foucault). Herzlich, Jelle van der Meulen