06.08.2008

Was Samuel und Sammy einander heute sagen. Über Krankheit

Samuel: „Sammy, letzte Woche ist ein guter Bekannter von mir krank geworden. Er hat einen Schlaganfall im Gehirn bekommen. Er liegt nun in einem Bett in einem Krankenhaus und kann sich kaum mehr bewegen. Die Ärzte sagen, dass er nie mehr auf seinen Beinen stehen und gehen können wird.“

Sammy: „Ich merke an deiner Stimme, dass du ihn magst.“

Samuel: „Ja, sehr, sehr, obwohl wir noch nie richtig mit einander geredet haben. Er spricht nur Spanisch – und zwar sehr schnell & nuschelnd. Dazu kommt, dass er sich mit ganz anderen Sachen beschäftigt als ich. Er meint, glaube ich, dass die Welt ein Glückspiel ist. Entweder etwas klappt und dann hat man Glück – oder etwas klappt nicht und dann hat man Pech. Ich bewundere ihn sehr, weil er Mißgeschicke gut wegstecken kann.“

Sammy: „Er fängt immer wieder aufs Neue an?“

Samuel: „Seine Verwandten und Freunde – er selber redet nicht darüber – sagen immer wieder, dass er in seinem Leben mehr als vierzig Läden eröffnet hat. Und alle vierzig hat er wieder schließen müssen. Es gab immer irgendein Problem. Und stell Dir vor: kurz bevor er ins Krankenhaus kam, hat er seinen letzten Laden eröffnet.“

Sammy: „Ich glaube nicht, dass ich verstehe, was es heißt einen Laden zu eröffnen.“

Samuel: „Das kannst du nicht wissen, weil ich es auch nicht weiß. Ich habe wirklich keine Ahnung von solchen Sachen. Du kannst aber vielleicht verstehen, was es bedeutet, nicht mehr gehen zu können. Du bist ja damals im Wohnzimmer deiner Eltern einfach stehen geblieben. Du konntest Dich nicht mehr bewegen, weil du innerlich g elähmt warst.“

Sammy: „Stillstand gibt es nicht. Aber Stockungen schon.“

Samuel; „Wie meinst du das?“

Sammy: „Bei mir war es ein Schock. Ich war elf Jahre alt und stellte fest, dass meine Eltern mir nicht sagen oder mich nicht spüren lassen konnten, wer ich war. Erst dadurch, dass ich viel viel viel später merkte, dass ich mich nicht bewegen konnte, weil ich einen Schock hatte, habe ich ein bisschen verstanden, wer ich bin. Ich bin jemand, der lange im Schock gelebt hat. In der Zeit dieser Stockung ist aber unheimlich viel passiert. Ich habe viel nachgedacht. Und nachzudenken heißt in Bewegung zu sein.“

Samuel: „In innerer Bewegung?“

Sammy: „Bitte, frage nicht zuviel! Ich kenne den Unterschied zwischen Innerem und Äußerem nicht. Du scheinst in Bezug auf diesen Unterschied der bequeme Spezialist zu sein! Nein, solche Gedanken sind mir in der Zeit der Stockung nie gekommen. Ich meine nur, dass Nachdenken nichts anderes als in Bewegung sein ist. Ohne Gedanken bewegt sich gar nichts. So wie ich die Welt verstehe, heißt Gehen auch Denken.“

Samuel: „Gehen ist Denken?“

Sammy: „Klar! Wenn ich in einen Wald gehe, sehe ich die Bäume. Und was sind Bäume anderes, als für Augen sichtbar gewordene Gedanken?“

Samuel: „Kannst Du meinen kranken Bekannten sehen?“

Sammy: „Ich kann es versuchen. Ja, er liegt im Bett und bewegt sich kaum. Er hat einen Schock. Er kann nicht verstehen, dass sein Körper ihm nicht mehr zur Verfügung steht. Er erlebt in sich immer wieder und ganz selbstverständlich den spontanen Wunsch aufzustehen. Er möchte gerne einen Espresso trinken, oder einen Spaziergang machen, oder sehen, wie die Sachen in seinem Laden laufen. Dann merkt er aber, dass sein Wunsch sich nicht auf seinen Körper überträgt. Er merkt das immer wieder, immer wieder, immer wieder... Irgendwie & irgendwo gibt es immer wieder einen Kurzschluß. Und er denkt: das nennt man also einen Schlaganfall! Aber damit, dass dieses Wort in seinem Denken auftaucht, ist nicht viel getan. Er versteht es nicht. Er versteht es immer wieder nicht.“

Samuel: „Ich verstehe es auch nicht.“

Sammy: „Er versteht nicht, dass er einen Schock hat. Er versteht noch nicht, dass er auf seinen Schock schauen kann, so wie man im Wald auf einen Baum schaut. Ich weiß wirklich nicht, ob ihm das gelingen wird. Der Tod ist in sein Leben eingezogen, und das heißt, dass man auf eine andere Art und Weise auf sich selber schauen kann. Ich sage: kann, nicht muss oder soll. Nichts muss. Nichts soll. Sein Schock hat aber noch kein Gesicht. Dein Bekannter braucht Zeit. Es wird aber einmal anders sein, vielleicht schon bald, vielleicht erst dann, wenn er gestorben ist. Dann wird er sehen und verstehen. Weißt du, alles was mit Menschen geschieht, gehört zum Mensch-Sein. Auch die Sachen, die wir immer wieder nicht verstehen."


12 Kommentare:

Michael Eggert hat gesagt…

Lieber Jelle, das ist wirklich wunderbar, was Du hier gerade machst. Etwas - wie einen Schlaganfall- "von außen" - als Fakt- schildern und dann - auch als Fakt- von innen. Ich wünsche mir, dass Du das fortsetzen kannst. Der Wechsel der Perspektive ist sehr wertvoll für den Leser. Und es entwickelt sich eine Neuerfindung des Bloggens, nebenbei.
Herzlich
Michael

Anonym hat gesagt…

Ja, und oft bleiben dann auch noch die Gedanken hängen....
Aber es gibt noch eine wunderbare Bewegung, der die Seele folgen kann, ohne denken zu müssen: die Musik. Oft sind "große Orchester", einerlei in welchem Stil, dann zuviel, es bleiben aber die subtilen Töne eines oder weniger Instrumente. Was richtig ist, weiß der Kranke.

Jelle van der Meulen hat gesagt…

Lieber Michael, gerade die letzten Wochen habe ich mich Gedanken über Bloggen-als-Kunst gemacht. Es würde mich SEHR interessieren von Dir zu erfahren, was du meinst mit einer "Neuerfundung" des Bloggens. Ja, was ist Bloggen eigentlich? Herzlich, Jelle

Liebe Regina, ja, Musik, Musik, Musik - und was krank ist in uns, spürt was die richtige Töne sind. Ich meine, es ist nicht übertrieben: ohne Krankheiten gäbe es gar keine Musik. Herzlich, Jelle

Michael Eggert hat gesagt…

Lieber Jelle, ursprünglich ist Bloggen eine Möglichkeit, persönliche Ansichten an den üblichen medialen Erscheinungen vorbei (Print, TV..) mehr oder weniger unters Volk zu bringen. Es gibt eine Reihe von Überschneidungen zu journalistischen News, zu Bildreportagen, zu wissenschaftlichen Spezialthemen, zu Menschenrechtsfragen, etc. Was Du in Deinen äußerlich unscheinbaren Geschichten machst, ist, den nur-eigenen Standpunkt zu überwinden und von der Innenseite des Erlebens Anderer auszugehen. Das geht vom Persönlichen weg in das Andere hinein, ohne den persönlichen Duktus aufzugeben. "News von der Innenseite" gewissermaßen. Das ist in meinen Augen eine Neuerfindung, eine anthroposophische Umstülpung des Ursprungszwecks.
Herzlich
Michael

Jelle van der Meulen hat gesagt…

Lieber Michael, ich verstehe. Danke! Blogging heisst: sofort veröffentlichen. Und: sofort Reaktionen kriegen. (Bei mir meistens E-mails, relativ wenig öffentliche Kommentare. Warum?) Blogging heißt auch: seine eigene Baustelle in Deep Virtual Space Nine gestalten, ohne physische Koordinaten, ohne Grenzen. Man schwebt irgendwie überall & nirgends und über alles & nix. Und doch: hier & jetzt. Kann mit Blogging eine Vertiefung von Schnittstellen & Berührungspunkte („interfaces“ – wie die Amerikaner so schön sagen) einher gehen? Herzlich, Jelle van der Meulen

Michael Eggert hat gesagt…

Regelmäßig kommentieren wollen relativ wenige Besucher. Und wenn, dann eher zum neuesten Artikel. Und (bei mir jedenfalls) wesentlich mehr, seitdem es bei den Egoisten auch auf der Frontseite erscheint. Das gibt das Gefühl, nicht nur mit dem Verfasser zu korrespondieren, sondern mit der Öffentlichkeit aller Leser. Zudem kann man die Kommentare auch als Feed abonnieren. Und schließlich entwickelt sich erst mit der Zeit - nach erheblicher Zeit- eine kleine Webcommunity, die tatsächlich mindestens einmal täglich vorbei kommt. Man sieht in den Statistiken von Google, dass es etwa 30% sind, die einmal kommen (und nie wieder), aber eben auch 30% der Besucher, die über 30mal im Monat vorbei schauen (Schätzwerte, ich müsste die exakten Zahlen nachsehen). Ich denke schon, dass der Ausdruck "Community" dann treffend ist.
Es braucht also Inhalte, Technik und Zeit. Außerdem arbeiten ja einige davon bei mir auch aktiv mit und schreiben selbst Artikel. Insofern entwickelt sich auch in dieser Hinsicht "Community"- bei durchaus divergenten Standpunkten, übrigens, aber auch einer gewissen Haltung. Die zu beschreiben würde jetzt wohl etwas lang.
Herzlich
Michael

Michel Gastkemper hat gesagt…

Lieber Jelle,
Das ist eine schöne Bereicherung deines Blogs, dieses ersten Bild bei dir, ein Foto von dem Dom in Köln! Ich nehme an das es gemacht ist von wo du wohnst: deine Sicht auf den Dom, worüber du schon früher geschrieben hast?
Herzlich,
Michel Gastkemper

Michel Gastkemper hat gesagt…

Und jetzt ist es wieder weg. Bist du noch ans Experimentieren? (Ich kenne diese Blogger-Probleme auch gut.) Ich hoffe das das Foto wieder schnell zurückkomt!

Jelle van der Meulen hat gesagt…

Hallo Michel! So besser? Herzlich, Jelle

Michel Gastkemper hat gesagt…

Lieber Jelle,
Ja, das Foto finde ich viel besser als die.. ja, wie heisst das? Bei der Bibliothek hat man auch so etwas, beim Durchsuchen des Katalogs: die Wörter schweben und drehen in der Luft herum, wenn man auf das eine oder andere Wort klickt. Auch ein schönes Bild für deine Tätigkeit natürlich, aber dann muss es besonders gut ausgeführt sein, meiner Meinung nach, und das war nicht leicht, wie ich sah. Also ist dieses jetzt besser.

Anonym hat gesagt…

Mir geht der Schock des kleinen Sammy nach. Ich sehe ihn regelrecht im Wohnzimmer seiner Eltern stehen. Ist er da wieder ganz herausgekommen? Einen Schock wirklich zu überwinden braucht Zeit und Bewusstsein. Ich kenne einen Menschen, der seit Jahren in so einem Schock verhaftet ist.
Hilfreich finde ich die Darstellung von Kübler-Ross, die sich auf jede Art von Schock, Schreck, unangenehmer Überraschung etc. übertragen lässt und absolut alltagstauglich ist. Dabei ist nicht nur an "Lebenskatastrophen" zu denken, sondern auch an Alltagskommunikation, in der etwas Unerwartetes mitgeteilt wird.

Phase I: Schrecksituation - Gegenwart.
Es wurde z.B. etwas Unangenehmes oder Unerwartetes mitgeteilt.
Ein Schreck führt zu Denkblockaden, zu Verwirrung, zu Erstarrung.
Körperlich: Zurückweichen.

Phase II: Festhalten - Vergangenheit.
Der Betroffene versucht sich zu verteidigen, hält an Altem und scheinbar Bewährtem fest. Orientierung am Bestehenden.
Leugnen (als Selbstschutz), Aggression (Ziel Rückzug - Rücknahme des Anderen), Verhandeln (als Festhaltetechnik).
Körperlich: Vorbeugen.

Phase III: Loslassen - Zukunft.
Langsam wird der neuen Situation in die Augen geschaut.
Abschiednehmen, der Vergangenheit nachtrauern, passives Loslassen - Orientierung auf die Zukunft. Unsicherheit.
Körperlich: Schwanken.

Phase IV: Integration (Anpassung)-Gegenwart.
Die Veränderung wird echt angenommen. Nach dem Loslassen folgt der Neubeginn. Das Alte bleibt in der Vergangenheit, die Gegenwart wird neu arrangiert und das Neue eröffnet Zukunft.

Nachzulesen sind diese Phasen ausführlich bei Chr.-R. Weisbach: Professionelle Gesprächsführung: ein praxisnahes Lese- und Übungsbuch. 7., vollst. überarb. Aufl.. - München: Dt. Taschenbuch-Verl.; München: Beck, 2008.
Oder natürlich auch bei Kübler-Ross direkt.

Hat Sammy seinen Schock überwunden? Mich interessiert, wie er das gemacht hat oder wie das Leben es für ihn arrangiert hat.

Anonym hat gesagt…

Mir geht der Schock des kleinen Sammy nach. Ich sehe ihn regelrecht im Wohnzimmer seiner Eltern stehen. Ist er da wieder ganz herausgekommen? Einen Schock wirklich zu überwinden braucht Zeit und Bewusstsein. Ich kenne einen Menschen, der seit Jahren in so einem Schock verhaftet ist.
Hilfreich finde ich die Darstellung von Kübler-Ross, die sich auf jede Art von Schock, Schreck, unangenehmer Überraschung etc. übertragen lässt und absolut alltagstauglich ist. Dabei ist nicht nur an "Lebenskatastrophen" zu denken, sondern auch an Alltagskommunikation, in der etwas Unerwartetes mitgeteilt wird.

Phase I: Schrecksituation - Gegenwart.
Es wurde z.B. etwas Unangenehmes oder Unerwartetes mitgeteilt.
Ein Schreck führt zu Denkblockaden, zu Verwirrung, zu Erstarrung.
Körperlich: Zurückweichen.

Phase II: Festhalten - Vergangenheit.
Der Betroffene versucht sich zu verteidigen, hält an Altem und scheinbar Bewährtem fest. Orientierung am Bestehenden.
Leugnen (als Selbstschutz), Aggression (Ziel Rückzug - Rücknahme des Anderen), Verhandeln (als Festhaltetechnik).
Körperlich: Vorbeugen.

Phase III: Loslassen - Zukunft.
Langsam wird der neuen Situation in die Augen geschaut.
Abschiednehmen, der Vergangenheit nachtrauern, passives Loslassen - Orientierung auf die Zukunft. Unsicherheit.
Körperlich: Schwanken.

Phase IV: Integration (Anpassung)-Gegenwart.
Die Veränderung wird echt angenommen. Nach dem Loslassen folgt der Neubeginn. Das Alte bleibt in der Vergangenheit, die Gegenwart wird neu arrangiert und das Neue eröffnet Zukunft.

Nachzulesen sind diese Phasen ausführlich bei Chr.-R. Weisbach: Professionelle Gesprächsführung: ein praxisnahes Lese- und Übungsbuch. 7., vollst. überarb. Aufl.. - München: Dt. Taschenbuch-Verl.; München: Beck, 2008.
Oder natürlich auch bei Kübler-Ross direkt.

Hat Sammy seinen Schock überwunden? Mich interessiert, wie er das gemacht hat oder wie das Leben es für ihn arrangiert hat.